MieterEcho

MieterEcho 305/August 2004

 Sozialpolitik

Sozial geteilte Stadt

Die Schere zwischen armen und reichen Bezirken geht immer weiter auseinander

Christian Linde

Wenn es um sichtbare Maßnahmen gegen die Armutsentwicklung in der Hauptstadt geht, produziert der Berliner Senat vor allem Papier. Nach dem Bericht "Armut und soziale Ungleichheit in Berlin" vor zwei Jahren hat die SPD/PDS-Koalition binnen kurzer Zeit erneut ein umfangreiches Zahlenwerk vorgelegt. Den "Sozialstrukturatlas Berlin 2003". Er ist der dritte seiner Art. Die Studie beschreibt über Indizes die Sozialstruktur der Stadt von den Bezirken bis in die kleinsten Stadtteile. Als Schlüsselindikatoren hat die Senatsverwaltung für Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz, unter deren Federführung die Untersuchung erstellt worden ist, Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug, Lebenserwartung, vorzeitige Sterblichkeit, Bildungs- und Ausbildungsstruktur sowie Einkommenslage und demographische Merkmale zu Grunde gelegt.

Wenn es um sichtbare Maßnahmen gegen die Armutsentwicklung in der Hauptstadt geht, produziert der Berliner Senat vor allem Papier. Nach dem Bericht "Armut und soziale Ungleichheit in Berlin" vor zwei Jahren hat die SPD/PDS-Koalition binnen kurzer Zeit erneut ein umfangreiches Zahlenwerk vorgelegt. Den "Sozialstrukturatlas Berlin 2003". Er ist der dritte seiner Art. Die Studie beschreibt über Indizes die Sozialstruktur der Stadt von den Bezirken bis in die kleinsten Stadtteile. Als Schlüsselindikatoren hat die Senatsverwaltung für Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz, unter deren Federführung die Untersuchung erstellt worden ist, Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug, Lebenserwartung, vorzeitige Sterblichkeit, Bildungs- und Ausbildungsstruktur sowie Einkommenslage und demographische Merkmale zu Grunde gelegt.

Unter Berücksichtigung der Schlüsselindikatoren ist Berlin eine sozial geteilte Stadt. Neben den seit langem benachteiligten Gebieten reihen sich in die Liste der Armutsquartiere zunehmend Kieze aus dem Ostteil der Stadt ein. Zu den Absteigern gehört vor allem Hellersdorf-Marzahn. Bei der letzten Untersuchung im Jahr 1999 noch in der Spitzengruppe, findet sich der Plattenbaubezirk nur noch auf einem Platz im Mittelfeld wieder. Insbesondere die überproportionale Abwanderung von Erwerbstätigen hat zu der Verschlechterung geführt.

Die ungünstigste Sozialstruktur haben laut Erhebung die (Alt-)Bezirke Kreuzberg, Wedding und Tiergarten, gefolgt von Neukölln, Friedrichshain und Prenzlauer Berg. Während in Kreuzberg (29,2%), Wedding (25,7%) und Neukölln (22,9%) die höchste Arbeitslosenquote gemessen wurde, liegen Zehlendorf (10,5%) und Steglitz (12,7%) weit günstiger.

Über eine halbe Million Menschen in Armut

Ebenso weit klaffen die Zahlen bei Sozialhilfeempfänger/innen auseinander. Die geringsten Anteile weisen Zehlendorf (2,1%) und Köpenick (3,7%) auf. In Kreuzberg (17,3%) und Wedding (16,9%) lebt dagegen nahezu jede/r sechste Einwohner/in von Sozialhilfe, davon ist ein Drittel unter 18 Jahren. Insgesamt müssen in der Hauptstadt derzeit 533.000 Menschen (15,6% der Bevölkerung) unterhalb der Armutsgrenze leben. Dass heißt, diese Privathaushalte verfügen höchstens über 50% des Äquivalenzeinkommens von derzeit 1212 Euro. Demnach hat jede/r sechste Einwohner/in weniger als 606 Euro im Monat. In Zehlendorf sind mit 4% die wenigsten Personen von Einkommensarmut betroffen, während in Kreuzberg 28,1%, im Wedding 27% und in Neukölln 23,7% in Armut leben. Gleichzeitig ist die Zahl derer, die über mehr als 2426 Euro im Monat verfügen, seit 1996 von 4,8 auf 5,1% angestiegen.

Verstetigung der Armutsverhältnisse

Ein zeitlicher Vergleich der sozialstrukturellen Verhältnisse von 1995 und 2002 ergibt nicht nur eine Verschlechterung für Berlin insgesamt - um rund 4% - sondern auch die Schere zwischen den Bezirken ging in diesem Zeitraum weiter auf. So verzeichnet Wedding eine Verschlechterung seiner Sozialindizes um 8% gegenüber Zehlendorf mit einer Verschlechterung um nur 1%.

Die Aussichten für die Menschen in den sozial prekären Gebieten, ihr Leben in absehbarer Zeit unabhängig von Transferleistungen bestreiten zu können, stehen nicht nur auf Grund des ausbleibenden Wirtschaftswachstums und der Beschäftigungskrise schlecht. Denn in Kreuzberg (36,6%), Wedding (35,1%) und Neukölln (30%) verfügt jede/r Dritte über keine abgeschlossene Berufsausbildung.

Armutsverhältnisse haben auch eine nachhaltige Wirkung auf die gesundheitliche Situation. So weisen Bezirke mit der niedrigsten Lebenserwartung - Kreuzberg, Tiergarten und Wedding - gleichzeitig hohe soziale Belastungen auf. Umgekehrt gilt dies für Treptow, Wilmersdorf und Köpenick - Stadtgebiete mit der höchsten Lebenserwartung und entsprechend günstiger Sozialstruktur. "Die psychischen und gesundheitlichen Folgen für Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, wirken sich ungleich höher aus als in Stadtteilen mit besserer Sozialstruktur", sagt Gerhard Meinlschmidt, Mitarbeiter der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und einer der Autoren der Studie. Auch fehlende gesundheitliche Vorsorge und Suchtmittelabhängigkeit führen in den belasteten Gebieten zunehmend zu vorzeitigen Sterbefällen. Zwischen der höchsten und der geringsten Lebenserwartung (Treptow 79,2 Jahre) und Kreuzberg (74,7 Jahre) liegt eine Differenz von immerhin 4,5 Jahren.

Selektive Wanderung innerhalb der Stadt

Zwar zeichnet sich Berlin durch eine hohe Mobilität aus. So wechselten in den vergangenen vier Jahren jede/r Berliner/in im Durchschnitt 1,2-mal den Wohnsitz (Deutsche 1,0-mal, Nicht-Deutsche 2,2-mal). Von den rund 43.600 Personen deutscher Herkunftssprache, die im Jahr 2002 aus einem der drei (Neu-)Bezirke Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte und Neukölln fortgezogen sind, ließen sich 24% jedoch wieder in einem dieser sozial belasteten Bezirke nieder. Von den rund 15.200 Menschen nichtdeutscher Herkunftssprache waren es sogar 39%. Auf Grund dieser selektiven Wanderungsbewegungen haben sich die Armutsverhältnisse in den entsprechenden Wohngebieten weiter verfestigt, so der Bericht.

Dagegen gewinnen Bezirke mit günstigeren Bedingungen Einwohner hinzu. In Reinickendorf hat das Bezirksamt zusammen mit überregionalen Immobilienmaklern eine Imagekampagne initiiert, wodurch sich im Erhebungszeitraum vor allem einkommensstarke Zuzügler/innen aus dem gesamten Bundesgebiet und aus dem Ausland in dem Stadtteil niedergelassen haben.

"Wertausgleich" für belastete Bezirke

Nach Einschätzung der Senatssozialverwaltung liefert der Bericht wichtige Entscheidungshilfen. "Wir wollen mit dieser neuen Sozialraumanalyse eine Diskussion anstoßen, wie die hier gewonnen Erkenntnisse stärker als bisher in gemeinsames und ressortübergreifendes politisches Handeln umgesetzt werden können. Daher wird bei den Reformprojekten, die der Senat auf seiner Agenda hat, die sozialräumliche Betrachtung künftig ein wichtiges Kriterium sein", kündigte Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (PDS) an. So sollen Steuerungsmaßnahmen entwickelt werden, die sowohl auf die Probleme der einzelnen Gebiete zugeschnitten sein sollen und gleichzeitig in spezifische kommunale Beschäftigungsmaßnahmen, den Aufbau spezieller Angebote für Kinderbetreuung und eine Weiterentwicklung des Quartiersmanagements münden sollen. Durch einen sozialräumlichen Ansatz verspricht sich die PDS-Politikerin in erster Linie im Gesundheits- und Sozialbereich einen gezielteren Einsatz von Mitteln und Ressourcen. Für dieses Ziel will die Senatorin auch gegenüber der Liga der Wohlfahrtsverbände umsteuern und hat eine grundsätzliche Überprüfung der Angebotsstruktur bei den sozialen Einrichtungen angekündigt. Die Absicht, zukünftig einen "Wertausgleich" zwischen den Bezirken entsprechend ihrer Belastung nach dem Vorbild des Länderfinanzausgleichs zu verabreden, ist in Anbetracht der Haushaltssituation des Landes zwar ein innovativer Ansatz, im Rat der Bürgermeister/innen ist der Vorschlag in den vergangenen Jahren allerdings regelmäßig auf Ablehnung gestoßen. Schließlich sind die Bezirke auf jeden Cent angewiesen und stehen auf Grund der Haushaltskürzungen durch den Senat kurz vor der Handlungsunfähigkeit.

Dass ein effizienterer Einsatz der Haushaltsmittel durch das Land etwa im Sozialbereich möglich wäre, darauf deutet zumindest die Kritik des Landesrechnungshofs in seinem letzten Jahresbericht hin. So wurden allein die Abrechnungen der Freien Träger für etwa 1100 Kindertageseinrichtungen in den Jahren 1999 bis 2001 so gut wie gar nicht von Seiten der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung überprüft. "Stichprobenweise Kontrollen zeigten, dass sich Rückforderungsbeträge in Millionenhöhe ergeben", so der Rechnungshof.

Höheres Armutsrisiko durch Hartz IV

Zu der von der Sozialsenatorin geforderten gesamtstädtischen Strategie zur Bekämpfung des sozialen Gefälles innerhalb der Stadt gehört vor allem die ressortübergreifende Zusammenarbeit zwischen den Senatsverwaltungen. Noch immer laufen zahlreiche Programme unkoordiniert nebeneinander her, ob im Rahmen des Gesunde-Städte-Netzwerks, der bezirklichen Beschäftigungsbündnisse, des Quartiersmanagements, der Umsetzung der Leitlinien für eine kinder- und jugendfreundliche Stadt oder der Weiterentwicklung des Konzepts der Stadtteilzentren. "Statt Steuerungsrunden und Arbeitskreisen brauchte es eine klare Bündelung dieser Programme und Gelder", fordert Ramona Pop, jugendpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus. Angesichts der Folgen, die sich mit dem In-Kraft-Treten der Regelung zum Arbeitslosengeld II im Rahmen der Hartz-Gesetze ab dem 01.01.2005 einstellen, dürften die Erkenntnisse des Sozialstrukturatlas allerdings bereits wieder überholt sein. Denn mit der Absenkung der Transferleistungen für Langzeitarbeitslose wird sich die Situation in den belasteten Bezirken weiter verschärfen. Die Zahl der von Einkommensarmut Betroffenen wird sich dann schlagartig um mindestens ein Drittel erhöhen. Ein weiteres Abrutschen der belasteten Quartiere ist damit vorprogrammiert.

Sozialstrukturatlas

Der Sozialstrukturatlas Berlin wird von der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz herausgegeben. Er kann bei der Senatsverwaltung bestellt werden, entweder telefonisch unter 90 28 28 48 (15 Euro zuzügl. Porto) oder als PDF per E-Mail unter www.berlin.de/sengessozv/statistik/index.html (Website nicht mehr online - aktuelles unter Monitoring Soziale Stadtentwicklung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung)

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