Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 302   Januar 2004

Zwischen Mittelalter und dem IWF

Obdachlosigkeit in Kanada bleibt zentrales Problem

Volker Eick

"Wohnraumversorgung ist Gesundheitsfürsorge", so Cathy Crow und Kathy Hardhill, die im Stadtzentrum von Toronto seit 15 Jahren als Nonnen in der Obdachlosenarbeit tätig sind. "Wer zu ebener Erde in einem Obdachlosenheim ohne Fenster lebt, hat dort keine Luftzirkulation. Dicht an dicht schlafen die Leute nebeneinander, zwischen 20 und 100 Personen in einem Raum. Nahezu jeder hat eine Erkältung, bei etwa 40% müssen wir Tuberkulose diagnostizieren. Mediziner, unsere Kolleg/innen und auch wir selbst haben seit 1994 darauf hingewiesen, dass Tuberkulose zu einem Massenphänomen werden wird, und seit 2001 breitet sie sich entsprechend aus, ohne dass sich die Stadtregierung darauf vorbereitet hätte. Im Gegenteil, genauso wie die Mittel für den sozialen Wohnungsbau zurückgefahren wurden, sind auch die Gelder für die gesundheitliche Vorsorge und Versorgung gekürzt worden."

Mit solchen und einer Vielzahl weiterer Maßnahmen hat die kanadische Regierung, angefangen mit dem damaligen Finanzminister Paul Martin, damit begonnen, exakt die Vorgaben umzusetzen, die der Internationale Währungsfonds (IWF) Kanada im Dezember 1994 ins Stammbuch schrieb. "Nahezu alle drastischen Maßnahmen, die im vergangenen Jahrzehnt zur Verletzung des Rechts auf angemessenen Wohnraum in Kanada geführt haben", so der Jurist Bruce Porter, "sind vom IWF vorgeschlagen, unterstützt und empfohlen worden, egal, ob es sich um die Beseitigung des Sozialen Wohnungsbaus, die Reduzierung öffentlicher Sozialprogramme insgesamt oder um Kürzungen beim Arbeitslosengeld handelt."

Mit all diesen Maßnahmen, so Porter weiter, steht zugleich die weitgehende Rechtlosigkeit kanadischer Mieter/innen wieder auf der Tagesordnung, die in den 1970er Jahren zumindest zum Teil überwunden werden konnte. Noch bis in die Mitte der 1960er Jahre hinein regierten Hausbesitzer in Ontario "über ihre Mieter wie im Mittelalter Barone", so der von 1987 bis 2002 als Leiter des Centre for Equality Rights in Accommodation (CERA) und heute als Direktor des Social Rights Advocacy Centre tätige Porter. Obwohl sich die Situation durch die Kämpfe der Mieter/innen seit den 1970er Jahren deutlich verbessert hat, gibt es weiterhin und wieder zunehmend rechtlose Mieter/innen.

So wohnen mehr und mehr arme Haushalte in Wohnungen, wo sie sich mit Hausbesitzern Badezimmer oder Küche teilen und in der Regel sowohl auf die Rechte von Mieter/innen oder Hausbesitzern wie auch auf grundlegende Menschenrechte verzichten müssen. "Was wir immer mehr beobachten", so Bruce Porter, "sind arme Familien mit Kindern, die auf Wochenbasis in kleinen Hoteleinheiten ohne rechtlichen Schutz wohnen. In Ontario kommt hinzu, dass Vermieter berechtigt sind, Mieter/innen aus ihren Wohnungen zu werfen, wenn diese nicht innerhalb von fünf Tagen Widerspruch gegen die Beendigung des Mietverhältnisses einlegen." Hauptgrund für den Rauswurf aus der Wohnung sind Mietrückstände, die auf Grund von Arbeitslosigkeit entstehen.

Mieter/innen nach Wahl

Noch bis 1993, nach mehreren spektakulären Gerichtsverfahren in den Provinzen Ontario und Quebec, die sich auf die Einhaltung der Menschenrechte in den Provinzen bezogen, war es Vermietern erlaubt, alle Wohnungssuchenden als Mieter/innen abzulehnen, deren Einkommensverhältnisse so prekär waren, dass sie mehr als 30% ihres Einkommens für die Miete aufbringen mussten (das so genannte Minimum Income Criteria). Dass diese Praxis so umfassend durch Hausbesitzer angewandt werden konnte, ist auf den engen Wohnungsmarkt zu dieser Zeit zurückzuführen. Sowohl allein erziehende Mütter, junge Familien, junge Menschen als auch Immigrant/innen und Sozialhilfeempfänger/innen müssen wegen ihrer niedrigen Einkommen regelmäßig deutlich mehr Geld als 30 % für die Miete aufbringen und enden so direkt in den Notunterkünften oder der Wohnungslosigkeit.

Während die Hausbesitzer argumentieren, diese Regelung brauchten sie zu ihrem Schutz, und sie sei das einzige adäquate Mittel, dem Risiko entgegenzuwirken, dass Mieter/innen ihren Mietzins nicht entrichten, konnten Niedrigverdiener/innen vor Gericht durchsetzen, dass es sich bei dieser Praxis im Gegenteil um Diskriminierung handelt. Die von verschiedenen kanadischen Gerichten gefällten Entscheidungen haben so dazu geführt, dass erstmals - in Kanada und international - juristisch anerkannt ist, dass Diskriminierung wegen Armut ebenso gegen die Menschenrechte verstößt, wie Diskriminierung auf Grund von Geschlecht, Rasse oder Staatsbürgerschaft.

Die Lage auf dem Wohnungsmarkt verschärfte sich für die armen Bevölkerungsteile in der Provinz Ontario zusätzlich dadurch, dass im Oktober 1995 die Sozialhilfe um 22% gekürzt wurde. Hilfsorganisationen und Wissenschaftler schätzen, dass allein durch diese Entscheidung mindestens 120.000 Haushalte ihre Wohnungen verloren haben. Doch nicht nur Sozialhilfeempfänger/innen, auch die Arbeitslosen Kanadas waren durch eine weitere Gesetzesänderung - diesmal die Kürzung des Arbeitslosengelds im Jahre 1997 - wegen der horrenden Mieten zusätzlich von Obdachlosigkeit bedroht. Insbesondere Teilzeitarbeiter/innen, 80% von ihnen Frauen, sind von dieser Gesetzesänderung betroffen.

In Toronto, wo Wohnungslosigkeit ein weit verbreitetes Problem darstellt, sind in über 80% der Fälle Mietschulden von unter einer Monatsmiete der Grund für die Kündigung. Die jährlich etwa 60.000 Räumungen aus Wohnungen allein in der Provinz Ontario führen regelmäßig zu Obdachlosigkeit und wären, "wenn sie nicht auf einzelne verstreute Haushalte verteilt, sondern auf einmal und an einem einzigen Ort mit Bulldozern stattfinden würden, längst Gegenstand internationaler Aufmerksamkeit", so der seit 20 Jahren international für soziale und ökonomische Rechte engagierte Jurist Bruce Porter. "Dabei ist niemand - weder das die Entscheidung treffende Gericht, noch der die Räumung durchführende Sheriff - verpflichtet, zu prüfen, ob etwa eine von Räumung betroffene Mutter mit Kind eine Bleibe finden wird."

Das Sterben geht weiter

Nicht zuletzt deshalb, aber auch wegen zahlreicher Todesfälle von Obdachlosen, wurde in Kanada die Lage der Menschenrechte durch das Human Rights Committee (HRC) der United Nation (UN), also das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen, Gegenstand von Untersuchungen und Berichten. Ebenso schaltet sich das UN Committee on Economic, Social and Cultural Rights (CESCR), also derjenigen UN-Organisation, die sich um die ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte der jeweiligen Bevölkerungen kümmert, ein. Wenige Tage bevor die kanadische Regierung in New York vor dem HCR zur Lage der Menschenrechte in ihrem Land Stellung nehmen sollte, im April 1999, ernannte der damalige Premierminister einen seiner Ministerkollegen zum Chef des neu gegründeten National Secretariat on Homelessness. Und obwohl dieses Nationale Sekretariat gegen Obdachlosigkeit genauso wie einige Provinzregierungen wegen des internationalen Drucks immerhin begonnen haben, einige Initiativen im Kampf gegen Obdachlosigkeit zu ergreifen, habe sich, so Bruce Porter, wenig geändert: "Trotz verschiedener Anstrengungen, die Überlebenschancen von Obdachlosen in den harten kanadischen Wintern zu erhöhen, ist es der Regierung nicht gelungen, die Zahl der Toten auf den Straßen kanadischer Städte relevant zu reduzieren. Gleichwohl sind die Stellungnahmen und Anforderungen dieser beiden internationalen Komitees nicht ohne Einfluss auf die Regierung und damit auf unsere Arbeit vor Ort geblieben. Und wir werden unsere Arbeit für angemessenen Wohnraum für alle Kanadier/innen fortsetzen."

Nachlese:
Leckie, Scott (Hrsg.): National Perspectives on Housing Rights. Martinus Nijhoff Publishers, Toronto 2003