Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 302   Januar 2004

Mit Hartz in die Obdachlosigkeit

Neue Voraussetzungen für Mietschuldenübernahme

Christian Linde

Laut dem im Dezember verabschiedeten Gesetzespaket zur Sozialhilfe- und Arbeitsmarktreform (Hartz IV) werden Mietschuldenübernahmen für Arbeitslosengeld-II-Empfänger/innen zukünftig nur noch auf Darlehensbasis und an die "konkrete Aussicht auf eine Beschäftigung" gewährt werden.

Ein Recht auf Wohnraum existiert in Deutschland nicht. Mit den "Hartz-Gesetzen" zur Sozialhilfe- und Arbeitsmarktreform wurde nun auch noch der Abbau sozialpolitischer Instrumente, die überschuldeten Mieter/innen bisher das eigene Dach über den Kopf sichern sollten, beschlossen. Nach dem vom Bundestag und Bundesrat abgesegneten Gesetzentwurf, soll der Erhalt von Wohnraum und die Vermeidung von Wohnungsverlust zukünftig keine vorrangige Aufgabe des Staats mehr sein. Jedenfalls nicht für die Empfänger/innen von Arbeitslosengeld II (ALG II). Die bislang im § 15a des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) vorgesehenen präventiven Maßnahmen werden im Rahmen des ALG II erheblich eingeschränkt. So soll die Übernahme von Mietschulden dann von den neu eingerichteten "Agenturen für Arbeit" übernommen werden können. Für diese soll die Mietschuldenübernahmenorm gelten, die zukünftig im Sozialgesetzbuch XII wesentlich enger gefasst sein wird als im bisherigen BSHG. Danach können laut § 20 Mietschulden ausschließlich als Darlehen und auch nur dann übernommen werden, wenn der drohende Verlust der Wohnung die Aufnahme "einer konkret in Aussicht stehenden Beschäftigung" verhindern würde.

Übernahme einer Mietschuld nur bei konkreter Aussicht auf Arbeitsverhältnis

Zwar stehen die Leistungen zur "Hilfe zum Lebensunterhalt in Sonderfällen" (zukünftig § 35 Sozialgesetzbuch III) prinzipiell auch den Bezieher/innen des ALG II zu. Nach Einschätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) allerdings nur auf dem Papier. "Die auf Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Agenturen für Arbeit werden auf die geschaffene Öffnungsklausel im ALG II zurückgreifen. Dies wird für die Betroffenen zu erheblicher Rechtsunsicherheit führen. Durch die langen Antragswege und Interventionszeiten werden anhängige Räumungen bereits vollzogen sein, ehe das notwendige Verwaltungsverfahren für eine Mietschuldenübernahme durchlaufen ist", prognostiziert Thomas Specht-Kittler, Geschäftsführer der BAG W. Die Organisation fordert deshalb die Streichung der restriktiven Regelung und die Möglichkeit, dass allen Bezieher/innen von ALG II die Leistungen nach § 35 SGB XII offen stehen. Danach sollen Mietschulden dann übernommen werden, "wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht."

Kerstin Bauer (PDS), Sozialstadträtin von Friedrichshain-Kreuzberg, teilt die Einschätzung der BAG W. "Die Regelungen aus dem Sozialhilferecht und dem Bundessozialhilfegesetz bilden sich in dem Gesetz "für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt", die dort wieder Einklang finden müssten, aus meiner Sicht nicht ab. Der Schwerpunkt liegt in dem gesamten Gesetz tatsächlich auf arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen", kritisiert Bauer. "Der Gesetzentwurf knüpft bei der Übernahme einer Mietschuld an die konkrete Aussicht auf einen Job an. Sollten die Pläne in der jetzigen Form umgesetzt werden, droht eine massive Zunahme von Obdachlosigkeit. Die Übernahme von Mietschulden wird nur noch bei einem Bruchteil unserer Klienten überhaupt in Betracht kommen. Folgerichtig wird der Wohnungsverlust drohen”, befürchtet Bauer. Nach den neuen Gesetzen sei lediglich denkbar, dass der Sozialhilfeträger die Kosten für ein Notquartier übernimmt. Den Betroffenen bleibt dann nämlich nur noch eine ordnungsrechtliche Unterbringung in einer Pension. Denn selbst die bisher im Bundessozialhilfegesetz vorgesehene Unterbringung in qualifizierten Betreuungseinrichtungen ist nach Einschätzung von Bauer ausgeschlossen.

Die Stadträtin hat das Horrorszenario, das dann auf die Kommunen zukommen würde, im Rahmen einer parlamentarischen Anfrage exemplarisch für Friedrichshain-Kreuzberg durchgerechnet. So existieren im Bezirk 29 gewerbliche Pensionen mit 800 Plätzen, von denen rund 211 für Familien geeignet seien. Für Ein-Personen-Haushalte stünden in der Regel lediglich Quartiere in Mehrbettzimmern zur Verfügung. Nach Angaben der Sozialen Wohnhilfe sind derzeit im Bezirk 546 Personen (Stand: II. Quartal 2003) ordnungsrechtlich untergebracht.

Zum gleichen Zeitpunkt lagen 277 gerichtliche Mitteilungen über Räumungsklagen (sowie 110 Mitteilungen in anderen Fällen von drohendem Wohnungsverlust) vor, von denen 99 vollstreckt wurden. Berlinweit waren es nach Angaben der Senatssozialverwaltung 3091, die in 1449 Fällen vollzogen worden sind. Ursache hierfür ist bereits jetzt die restriktive Praxis der Sozialämter, Mietschuldenübernahmen immer häufiger zu verweigern. Bei einer Umsetzung der Hartz-Pläne rechnet Sozialstadträtin Bauer für Friedrichshain-Kreuzberg mit einem weiteren spürbaren Anstieg. Laut einer Anfang November vom Institut für Angewandte Demographie (IFAD) vorgelegten Studie beziehen in Friedrichshain-Kreuzberg 13,5% der Bewohner/innen Sozialhilfe und sind somit die zukünftigen Klient/innen der Agenturen für Arbeit.

"Mietschulden steigen rasant"

Auch die Wohnungswirtschaft schlägt Alarm. Nach Auskunft des Verbands der Berlin-Brandenburgischen Wohnungsunternehmen (BBU) stiegen die angefallenen Mietschulden allein bei dessen 148 Mitgliedsunternehmen in der Hauptstadt von 69 Mio. Euro im Jahre 1994 auf nunmehr rund 180 Mio. Euro. "Die Mietschulden steigen rasant an. Weil die Tendenz weiter nach oben zeigt, haben einzelne Unternehmen inzwischen Sozialdienste eingerichtet, um Räumungen bereits im Vorfeld zu verhindern", so BBU-Vorstandsmitglied Wolfgang Bohleber. Der BBU verwaltet rund die Hälfte der in Berlin vermieteten Wohnungen. Im Auftrag des Senats wurde nun eine Beratergruppe, die im Rahmen der Fortschreibung der "Leitlinien zum Obdachlosenrahmenplan und Wohnungslosenpolitik" Empfehlungen für den Ausbau präventiver Maßnahmen erarbeiten soll, eingerichtet.