Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 302   Januar 2004

Die Härten der Agenda 2010

Zwang zur Arbeit und von Fallmanagern zugewiesene Billigunterkünfte:

Hermann Werle

Zum neuen Jahr haben Bundestag und Bundesrat der großen Agenda neue Bausteine hinzugefügt. Mit neuen Gesetzen für den Arbeitsmarkt und weiteren Steuergeschenken für die oberen Zehntausend wird das Sozialsystem weiter sturmreif geschossen. Im Vermittlungsausschuss zu den Hartzgesetzen III und IV und der vorgezogenen Steuerreform haben die vermeintlichen Kontrahenten von Regierung und Opposition noch einige zusätzliche Neujahrsgeschenke für die Unternehmen verhandeln können. Dass das gesamte Gesetzespaket 100%ig zu Lasten der sozial Schwächsten gehen soll, darüber herrschte von Beginn an ein breiter Konsens von den Grünen bis zur CSU.

Die Abgaben großer Konzerne und der Superverdiener nähern sich (oder befinden sich bereits auf) der Höhe der Hundesteuer und die Löhne bewegen sich auf das Niveau der "Krabbenpuler in Marokko" zu, wie die bündnisgrüne Abgeordnete Krista Sager nach der Abstimmung im Bundestag am 19.12.2003 sarkastisch bemerkte. Dieses wolle sie zwar nicht, aber zur Ablehnung des Gesetzespakets konnte sie sich auch nicht durchringen. Bundestag und Bundesrat verabschiedeten am 19.12.2003 nach einem durch die Medien dramatisch dargestellten Verhandlungspoker ein Reformpaket, welches laut SPD-Fraktionschef Franz Müntefering "die Spur für die Erneuerung des Landes" gelegt hat.

Verhältnisse wie in den USA

Bei dieser "Erneuerung" handelt es sich um eine Zwischenetappe des sozialen Kahlschlags, was neben führenden Vertretern der Wirtschaft auch der FDP-Chef Guido Westerwelle bestätigte: "Das ist ein guter Anfang - mehr ist es jedoch nicht." Angestrebt werden Verhältnisse wie in den USA, wo soziale Sicherungssysteme auch mit der Lupe nicht zu finden sind und 20% der Beschäftigten mit ihrem Hauptjob "ein Einkommen unterhalb unseres Sozialhilfeniveaus" verdienen, wie Sachsens ehemaliger Ministerpräsident Kurt Biedenkopf in einem Spiegel-Interview bemerkte und hinzufügte, dass oftmals mehrere Arbeitsverhältnisse zur Existenzsicherung nötig wären oder die Leute von ihrem Familienverbund getragen werden müssten. Dies sei zukünftig auch in Deutschland Notwendigkeit.

Parlamentarisches Laientheater

Um sich diesen Standards zu nähern, wurden in den Verhandlungen des Vermittlungsausschusses von Bundesrat und Bundestag lediglich Detail- bzw. Finanzierungsfragen diskutiert. Für Steuersenkungen und weitere Flexibilisierung des Tarifsystems sprachen sich alle Fraktionen aus, ebenso wie für die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (ALG II), wie es das "Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" - Hartz IV - vorsieht. Zur Disposition stand lediglich die Art der Gegenfinanzierung der Steuergeschenke, die Zumutbarkeitsregelung für Erwerbslose und der Kündigungsschutz. Während bei der Steuerdebatte die Haushaltsstabilität den Vorrang erhielt und die Geschenke etwas kleiner ausgefallen sind, hat sich bezüglich des Kündigungsschutzes und der Zumutbarkeit von Arbeit der Unternehmerflügel der rot-grünen Fraktionen durchsetzen können - mit kräftiger Unterstützung von CDU/CSU und FDP. SPD und Grüne können nach der parlamentarischen Abstimmung sogar stolz darauf verweisen, dass sie mehr Stimmen - wenn auch nicht die absolute Mehrheit - zusammenkratzen konnten als die Opposition. Summa summarum 294 rot-grüne Stimmen dafür, dass Erwerbslose ab dem 01.01.2005 jegliche Arbeit zu Niedrigstlöhnen und auch unterhalb ortsüblicher Tarife sowie zu schlechtesten Konditionen anzunehmen haben und der Kündigungsschutz für Betriebe bis zu zehn Mitarbeiter/innen ab 2004 entfällt. Des Weiteren wird die Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld gekürzt und mit dem Arbeitslosengeld II die bisherige Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau und darunter gekürzt. Dies zusammen mit den Steuergeschenken für Konzerne und Reiche ist für Kanzler Schröder ein "Signal, dass Deutschland sich bewegt" - und er brauchte noch nicht einmal mit Rücktritt zu drohen.

Die Vielfalt der im Dezember verhandelten Themen hatte einen bedeutenden Vorzug gegenüber einer Debatte um einzelne "Reformen": "Denn", so der Verhandlungsführer Henning Scherf (SPD) im Vorfeld der entscheidenden Verhandlungsrunden, "je mehr verhandelt wird, desto leichter wird es jedem Verhandlungsführer fallen, einen Punkt als seinen Erfolg herauszugreifen. Den kann er dann der Öffentlichkeit und der eigenen Partei als Ergebnis des eigenen taktischen Geschicks anpreisen." Ein abgekartetes Spiel, so werden viele meinen. Und tatsächlich spricht alles dafür, dass die führenden "Volksvertreter" aller Fraktionen für die Öffentlichkeit ein großes Laientheater aufführen. In den Hauptrollen finden wir je nach Herkunft des Theaterprogramms Schröder, Merkel, Westerwelle oder Stoiber. Regisseure werden in der Regel nicht genannt. Vielmehr - um keine Namen interessierter Kreise aus der Wirtschaft zu nennen - wird auf die prosaische Regieassistenz verwiesen, die da heißt: Sachzwang, Standort oder Weltmarktkonkurrenz. Um zu unterstreichen, dass die deutsche Gesellschaft in diesen schweren Stunden zu Opfern bereit sein müsse und eine quasi natürliche Schicksalsgemeinschaft bilden würde, fordert Clement mehr Patriotismus und für die Union aus CDU/CSU heißt die Motivation laut Beschluss vom Mai 2003 einfach nur "Deutschland".

Nicht armutsfest

Es handelt sich beim Drehbuch zur Agenda 2010 nicht nur um ein schlechtes Stück, welches reale Interessenpolitik verschleiern soll, es handelt sich um den weitestgehenden Systemwechsel, den die Bundesrepublik je gesehen hat. Mit den so genannten Reformen des Gesundheits-, Renten- und Sozialleistungssystems entstehen für Lohnabhängige auf der einen Seite höhere Kosten (Eintrittsgeld beim Arzt, erhöhte Zuzahlung bei Arzneimitteln, Zahnersatz und Brillen etc.) bei gleichzeitig abgesenktem Rentenniveau und Arbeitslosengeld sowie ausgeweitetem Niedrigstlohnsektor. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass verschiedene, den regionalen "Sachzwängen" unterliegende Vergünstigungen, wie die bisher in Berlin verbilligten BVG-Monatskarten für Sozialhilfe- und ALG II-Bezieher/innen entfallen werden.

Allein durch die Einführung von Arbeitslosengeld II (ALG II) zum Januar kommenden Jahres wird das verfügbare Einkommen vieler Haushalte drastisch reduziert werden. Laut Wohlfahrtsverbänden wird das Einkommen von rund 1,7 Mio. Menschen in rund 900.000 Haushalten, die bisher Arbeitslosenhilfe beziehen, "schlagartig auf Sozialhilfeniveau gedrückt werden". Die Anzahl der Menschen, die mit Sozialhilfe bzw. ALG II - in Höhe von 315 Euro (Ost) und 345 Euro (West) - auskommen müssen, wird somit von 2,8 auf 4,5 Millionen ansteigen. Nach Professor Uwe Berlit, Richter am Bundesverwaltungsgericht wird das ALG II sogar noch unter das Sozialhilfeniveau sinken, da die erhöhten Aufwendungen für die Kosten der Arbeitssuche nicht in vollem Umfang berücksichtigt werden. Berlit kritisiert diese Vorhaben als nicht armutsfest und zudem gründlich am Ziel vorbeigehend: "Die Bekämpfung des Problems Massenarbeitslosigkeit wird verwechselt mit einer Bekämpfung der Arbeitslosen, das Kernproblem wird nicht angegangen, dass schlicht - und mit deutlichen regionalen Unterschieden - Arbeitsplätze fehlen, die unter zumutbaren Bedingungen die Existenzsicherung durch marktvermittelten Einsatz der eigenen Arbeitskraft ermöglichen."

Allmächtige Fallmanager

In einigen Arbeitsämtern, die demnächst Agenturen für Arbeit oder Jobcenter heißen werden, und in den für Jugendliche bis 24 Jahren geschaffenen Job-Activ-Centern sind sie schon anzutreffen: Zukünftig werden alle erwerbsfähigen Arbeitslosen von Fallmanagern und Managerinnen betreut. Die bisherigen Arbeitsvermittler haben jedoch nicht nur einen neuen Namen erhalten, sie sind vielmehr mit ganz neuen Machtbefugnissen gegenüber den Erwerbslosen ausgestattet. Diese ergeben sich aus der neuen Doktrin "Fordern und Fördern" der Bundesagentur für Arbeit. Dass als Erstes das "Fordern" genannt wird, ist kein Zufall. Unter der Androhung der Kürzung der Bezüge um 30% sind die "Kunden" der Jobcenter gezwungen, jede Arbeit und jedes "Unterstützungsangebot" anzunehmen. "Bei näherem Hinsehen", so Uwe Berlit, "geht es - bei aller Betonung der Integration in den sog. ersten Arbeitsmarkt - um Beschäftigung um (nahezu) jeden Preis." Dem Unterlaufen tariflicher Regelungen werden Tür und Tor geöffnet, z.B. durch gemeinnützige Arbeit bei den Kommunen. Die Beweislast der "Unzumutbarkeit" liegt ausschließlich bei den Hilfebedürftigen, so dass das Wohl und Wehe der ALG II-Bezieher/innen allein von den Entscheidungen der Fallmanager abhängt. Diesen obliegt es auch, bei weiteren Pflichtverletzungen weitere Kürzungen der Bezüge vorzunehmen und durch ergänzende Sachleistungen auszugleichen. Ausgenommen hiervon sind die Leistungen für die Unterkunft, die dann direkt an den Vermieter gezahlt werden.

Die Zukunft in der Billigunterkunft

Für ALG II-Bezieher/innen sollen die tatsächlichen Aufwendungen für Miete und Heizung übernommen werden - einzige Einschränkung, die Wohnung muss angemessen sein, was sich an den ortsüblichen Sozialhilferegelungen orientiert. Ist sie dies nicht, so werden die über der "Angemessenheit" liegenden Mehrkosten längstens für sechs Monate übernommen, aber nur, wenn es nicht möglich ist, eine billigere Wohnung zu finden oder durch Untervermietung die Kosten entsprechend zu senken. Anstehende Umzüge sind grundsätzlich den Fallmanagern zu melden und von diesen auch zu bewilligen. Erfahrungen mit derartigen Leistungen für Unterkunft und Heizung wurden u.a. in einem Kasseler Modellversuch gemacht. Die angemessene Miete wurde dort auf 237 Euro festgesetzt, was selbstredend nicht der oberen Grenze einer Mietspiegelkategorie entspricht. Die logischen Konsequenzen waren nach einem Bericht von Professor Rainer Roth Mietschulden und Hunderte von Räumungen. Zu den von dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch favorisierten Billigunterkünften ist es dann nur noch ein kleiner Sprung. Denn wen sollte es kümmern, wenn schwer vermittelbare Erwerbslose in Asylbewerberheimen untergebracht werden? Wenn die EU-Außengrenzen dicht sind und deutsche Patrioten die letzten Asylbewerber abgeschoben haben, bräuchten nicht einmal neue Baracken gebaut werden - tatsächlich ein Signal, dass Deutschland sich bewegt.