Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 302   Januar 2004

Die EU startet durch

Auf dem Weg zur Weltmacht ist 2004 ein wichtiges Jahr

Hermann Werle

Eigentlich standen drei bedeutsame Ereignisse auf der diesjährigen Tagesordnung der Europäischen Union: Die EU-Erweiterung um zehn Staaten am 01.05.2004, die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni und schließlich sollte für den weltweit größten geschlossenen Wirtschaftsraum eine gemeinsame Verfassung verabschiedet werden. Die Befürchtung der polnischen Regierung, dass mit dieser Verfassung eine deutsch-französische Hegemonie zementiert werde, ließ das Vorhaben im Dezember zunächst scheitern. Doch auch ohne Verfassung formiert sich die EU zu einer "Weltmacht im Werden". Ob diese für die zukünftig rund 450 Mio. EU-Bürger auch demokratischer wird, darf bezweifelt werden.

Vom Makrokosmos bis in den lokalen Mikrokosmos wird der Alltag und die Umwelt der Menschen in Europa zunehmend durch Entscheidungen auf EU-Ebene gestaltet. Europäische Institutionen entscheiden über satellitengestützte Fernaufklärungssysteme für die europäische Sicherheitsarchitektur genauso wie über die Finanzierung der sozialen Umfeldaufklärung der Quartiersmanagements in den "sozialen Brennpunkten" Berlins. Letztere müssen durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) gefördert werden, da die Berliner Politik aus Sorge um die eigenen Pfründe und die ihrer Freunde aus der Wirtschaft, die Versorgung der Bevölkerung spürbar vernachlässigen musste. Dass weder Quartiersmanager/innen noch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Sozialhilfeempfänger/innen - wie sie durch den Europäischen Sozialfonds (ESF) finanziert werden - an den strukturellen Schieflagen in dieser Stadt etwas ändern werden, hat sich in Brüssel noch nicht herumgesprochen. Bis 2006 werden rund 1,2 Mrd. Euro EU-Fördermittel im märkischen Sand Berlins versickert sein.

Diese Summe entspricht in etwa dem Finanzvolumen, welches die EU und die Europäische Weltraumorganisation (ESA) für die 30 Satelliten des "Galileo"-Navigationssystems bislang bewilligt haben. Bei diesem Vorhaben geht es indes um eine globale Dimension. Nämlich dem US-Amerikanischen GPS-Navigationssystem ökonomisch das Wasser abzugraben und Fernlenkwaffen noch genauer ins Ziel zu bringen.

Die Achillesferse Europas

Neben den ähnlich hohen Kosten haben "Galileo" und Quartiersmanagement außerdem gemein, dass sie Bestandteile einer europäischen Gesamtstrategie darstellen, die ganz unverhohlen Großmachtbestrebungen zum Ausdruck bringt:

"Die Union hat sich heute ein neues strategisches Ziel für das kommende Jahrzehnt gesetzt: das Ziel, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen."

Wie weit diese vom Europäischen Rat 2000 in Lissabon beschlossene strategische Zielsetzung zu interpretieren ist, zeigen die Überlegungen Professor Werner Weidenfelds von der Bertelsmann Stiftung. Als Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung (CAP) und führendes Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) gilt Weidenfeld als einer der einflussreichsten Politikberater Deutschlands. So beurteilt er die Zukunft der EU: "Die Bevölkerung der EU wird von heute 371 Mio. auf 539 Mio. anwachsen; etwa doppelt so viel wie die der USA. Ihre Fläche beträgt 5.097.000 Quadratkilometer, etwas mehr als die Hälfte der USA. Das Bruttosozialprodukt liegt um rund 15% höher als das der USA. Dieses Potenzial könnte also den Status einer Weltmacht definieren." China, Russland und Indien verfügten zwar ebenfalls über große Potenziale, wären aber mit gravierende Schwächen konfrontiert. "Im Vergleich zu diesen Akteuren kommt das Potenzial der Europäischen Union dem der Weltmacht USA am nächsten - ja es ist ihm in weiten Teilen sogar überlegen. Nicht erst seit 1989 ist das integrierte Europa eine Weltmacht im Werden. (...) Sie ist Magnet und treibende Kraft in der weltpolitisch bedeutsamen Neuordnung der sowjetischen Hinterlassenschaft; die Agenda der Nachbarschaftspolitik der EU umfasst Herausforderungen und Akteure von weltpolitischer Brisanz."

Was nach Meinung des Strategen noch fehle, sei ein "operatives Zentrum" und "vor allem ein strategisches Denken". "Das Defizit an strategischem Denken erweist sich so als eigentliche Achillesferse Europas" (alle Zitate aus: Die Welt vom 08.03.2003).

Aus der geopolitischen Mottenkiste

Ein operatives Zentrum in Form eines europäischen Außenministeriums hätte mit der europäischen Verfassung entstehen sollen - und Joschka Fischer wäre gern der erste Unionsaußenminister geworden. Diese Pläne sind vorerst vom Tisch, keineswegs allerdings die strategischen Planungen, wie sie von Weidenfeld eingefordert werden. Längst hat die durch den Nationalsozialismus lange Zeit diskreditierte Geopolitik wieder Einzug im Auswärtigen Amt gehalten. Der Griff in die Mottenkiste deutscher Geostrategen scheint geradezu populär, so ähnlich sind die heutigen Konzeptionen. Detaillierte Pläne für einen Großraum, der frei von Zollbarrieren und mit gemeinsamer Währung die Weltmärkte beherrschen sollte, wurden seit den 1910er Jahren intensiv diskutiert. Als einer der mächtigsten Wirtschaftsführer hielt der Aufsichtsratsvorsitzende der IG Farben und Vorsitzende des Reichsverbands der Deutschen Industrie Carl Duisberg 1931 eine Rede vor dem Bayerischen Industriellen-Verband, in der es u.a. hieß: "Begonnen wurde diese Tendenz (nach größeren übernationalen Wirtschaftsräumen) äußerst zielbewusst in den Vereinigten Staaten, die mit Dollar und Gewehr nach Norden und insbesondere nach Mittel- und Südamerika ihre Einflusssphäre ausbreiten. (...) Erst ein geschlossener Wirtschaftsblock von Bordeaux bis Sofia wird Europa das wirtschaftliche Rückgrat geben, dessen es zur Behauptung seiner Bedeutung in der Welt bedarf. Denn während überall in der Welt neue Wirtschaftsräume zur Aktivierung schreiten, während sich ein panamerikanischer, ein indischer, ein chinesischer Wirtschaftsraum vorbereitet, droht Europa durch seinen inneren Zwist immer mehr an Bedeutung zu verlieren, zumal Russland als mächtiger Wirtschaftsraum aus dem europäischen Gefüge ausgebrochen ist und England seine Interessen in seinem überseeischen Imperium gebunden sieht." Nur ein geeintes Europa sei also in der Lage, weltpolitisch Bedeutung zu erlangen. Deutschland käme die Führungsrolle zu, die die europäischen Nachbarn zu akzeptieren hätten. Zwar basierten diese Pläne nicht zwangsläufig auf Eroberungsfeldzügen, sie widersprachen den militärischen Expansionsbestrebungen der Nationalsozialisten aber auch nicht.

Fischers Avantgarde

In ihrem 1994 verfassten CDU-Strategiepapier "Überlegungen zur europäischen Politik" ziehen Karl Lamers und Wolfgang Schäuble ihre Lehren aus dem verlorenen Krieg: "Die militärische, politische und moralische Katastrophe 1945 als Folge des letzten dieser Versuche (deutscher Hegemonieerrichtung) ließ Deutschland nicht nur erkennen, dass seine Kräfte hierzu nicht ausreichen, sie führte vor allem zu der Überzeugung, dass Sicherheit nur durch eine grundlegende Änderung des europäischen Staatensystems gewonnen werden kann, in dem Hegemonie weder möglich noch erstrebenswert erscheint."

Dass Deutschland auch heute noch eine führende Rolle zu spielen habe, daran lassen die CDU-Strategen an anderer Stelle dennoch keinen Zweifel: "Der feste Kern hat die Aufgabe, den zentrifugalen Kräften in der immer größer werdenden Union ein starkes Zentrum entgegenzustellen und damit die Auseinanderentwicklung zwischen einer eher protektionismus-anfälligen Süd-West-Gruppe unter einer gewissen Anführung durch Frankreich und einer stärker dem freien Welthandel verpflichteten Nord-Ost-Gruppe unter einer gewissen Anführung durch Deutschland zu verhindern." Die rot-grüne Regierung hat das CDU-Papier zum europapolitischen Regierungsprogramm gemacht. Die von Schäuble und Lamers eingeforderte Achse Paris-Berlin verfestigte sich durch die geschlossene Position zum Irak-Krieg und auch ein Kerneuropa ist für Schröder und Fischer eine denkbare Option. Eine Etappe auf dem Weg zur Vollendung der politischen Union könnte nach Fischers Vorstellungen, die er im Mai 2000 der Öffentlichkeit vorstellte "die Bildung eines Gravitationszentrums" sein, welches "die Avantgarde, die Lokomotive für die Vollendung der politischen Integration sein" solle. In der gleichen Rede hob Fischer die überragende Bedeutung der Osterweiterung hervor: "Gerade die deutsche Wirtschaft wird von der Erweiterung einen hohen Gewinn für Unternehmen und Beschäftigung davontragen. Deutschland muss daher weiter Anwalt einer zügigen Osterweiterung bleiben."

Osteuropa im Visier

Schäuble war voll des Lobes für diese Rede Fischers und auch in den Vorstandsetagen deutscher Konzerne werden Fischers Worte mit Wohlwollen aufgenommen worden sein. Der Osten sei als "Aktionsraum für die deutsche Außenpolitik zurückgekehrt", hatten Schäuble und Lamers in ihrem Papier geschrieben und bereits zwei Jahre zuvor - 1992 - hatte der Siemens-Vorstand seine strategischen Ostpläne formuliert: "Mit den Kooperationen in Osteuropa verfolgen wir vor allem zwei strategische Ziele. Erstens sollen sie den Zugriff auf neue Märkte, insbesondere in Osteuropa verschaffen. Zweitens brauchen wir Niedriglohnstandorte, in denen wir so kostengünstig produzieren können, dass sich die Produkte auf den kaufkraftschwachen Ostmärkten absetzen lassen." Der heute noch amtierende Siemens-Chef Heinrich von Pierer wurde 1995 noch deutlicher: "Die Personalkosten liegen in der CSFR1 gerade bei 5 bis 10% von denen in Deutschland. Die Leute sind gut ausgebildet, und es gibt dort eine gewachsene Industriekultur. Wenn wir jetzt noch die Produktivität steigern und die Qualität auf unser Niveau erhöhen, dann haben wir dort eine fast unangreifbare Wettbewerbsposition - und zwar für den Weltmarkt" (zitiert nach isw report Nr. 23). Dass diese Rechnung offensichtlich aufgeht, zeigen die Erfolgsbilanzen des Konzerns, der bereits angekündigt hat, im Zuge der Osterweiterung weitere Teile seiner Software-Entwicklung und Fertigung dorthin verlagern zu wollen.

Sterben für Brüssel

International agierende Konzerne sind die uneingeschränkten Profiteure dieser Europäischen Union. Zu den Verlierern gehören die 4000 Menschen, die nach Angaben von Flüchtlingsorganisationen in den letzten zehn Jahren an den Grenzen zur EU gestorben sind. "Ertrunken im Meer oder in der Oder zwischen Deutschland und Polen, erstickt in Containern, erschossen von Grenzschützern oder getötet in den Minenfeldern an der türkisch-griechischen Grenze" (isw-report Nr. 56). Aber auch die Lohnabhängigen - ob in Polen, Deutschland oder Portugal - haben ihren Tribut für die "Weltmacht im Werden" zu leisten. Europaweite Niedriglöhne, sinkende Ausgaben in allen sozialen Bereichen, "aktives Altern", wie im EU-Jargon die Hochsetzung des Rentenalters beschrieben wird und die Privatisierung aller Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge sind die erklärten Ziele der europäischen Agenda 2010. Und zukünftig dürfen Soldaten auch noch für Brüssel sterben. Denn die militärische Flankierung des Weltmachtstrebens darf nicht fehlen. In der geplanten europäischen Verfassung soll die Verbesserung der militärischen Fähigkeiten für alle Mitgliedsstaaten verpflichtend festgeschrieben werden, also Verfassungsrang erhalten (Artikel 40, Absatz 3) - doch wer weiß schon davon?

"Zwei Drittel für EU-Verfassung", titelten die EU-Nachrichten, das Nachrichtenbulletin der Europäischen Kommission, im November. Das klingt nach großer Zustimmung innerhalb der Bevölkerung. In Deutschland befürworteten nach der gleichen Umfrage sogar 69% eine EU-Verfassung. Etwas weiter unten erfährt der Leser und die Leserin dann ein anderes Bild: lediglich 35% der Deutschen seien mit der Arbeit des EU-Konvents zufrieden. Und schließlich im letzten Satz: "Nur 39% der Deutschen haben vom Konvent überhaupt gehört." Dass sich das deutsche Parlament nahezu geschlossen gegen einen Volksentscheid zur EU-Verfassung ausgesprochen hat, kann vor diesem Hintergrund nicht verwundern - es könnte das falsche Ergebnis herauskommen.