Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 302   Januar 2004

Himmelsstürmerischer Konservatismus

Ein Blick auf die Fortschritte der kritischen Rekonstruktion

Johannes Touché

Die Mitte Berlins ist seit Jahren Schauplatz heftiger symbolpolitischer Auseinandersetzungen. Doch jetzt soll Schluss sein mit dem Heißreden der Köpfe: Der Palast der Republik kommt weg und danach wird das Grundstück begrünt. Manfred Stolpe schätzt allein die Abrisskosten auf "20 bis 40 plus X" Mio. Euro. Obwohl wahrlich nicht als Anti-Preuße bekannt, hat der Bundesbauminister deutlich gemacht, dass es bei der geplanten Begrünung für kaum mehr als Rasen und allenfalls junge Bäume reichen dürfte. Der Nachfolgebau - mit Museen, Bibliothek oder Kongresszentrum darin und einer kopierten Schlossfassade davor - wird noch viele Jahre auf sich warten lassen. Das stärkste Symbol der kritischen Rekonstruktion, die seit den frühen 1990ern den Berliner Städtebau dominiert, bleibt vorerst ein Fantasieprodukt.

Die Leere, die auf dem Schlossplatz entsteht, ist das glatte Gegenteil von dem, was sich die kritischen Rekonstrukteure auf die Fahnen geschrieben hatten. Alle Planungen zielten daraufhin, die Innenstadt dichter, enger und "urbaner" zu machen. In den Räumen der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zeigen wandgroße Schwarzpläne, wie leer das Berliner Zentrum im Vergleich zum Vorkriegszustand ist. Die Pläne, die nur zwischen unbebaut und bebaut unterscheiden, treffen eine klare Aussage: Das war damals noch eine 'richtige' Stadt! Der "historische Stadtgrundriss" und die "dichte Stadttextur" der Vorkriegszeit sind die Leitbilder der Planer. Überall im Zentrum Berlins will man simulieren, was in der Spandauer Vorstadt so hervorragend funktioniert hat: der Aufstieg eines halbverlassenen Slums zu einem lauten und lustigen, gleichwohl idyllischen Viertel mit einer gutbürgerlichen, steuerzahlenden Bevölkerung.

In der Spandauer Vorstadt selbst scheint es mit dem Aufsteigen nicht mehr so recht voranzugehen. Die unter Qualen durchgesetzten Pläne der Fundus-Gruppe, mit ihrem "Johannisviertel" am Tacheles ein Altstadt-Surrogat mit Tiefgarage aus Beton zu gießen, stehen still. Niemand braucht dort einen zweiten Hackeschen Markt. Aber vielleicht an anderer Stelle? Überall im Zentrum Ostberlins kann man derzeit beobachten, wie aus (Schwarz-) Plänen Gebäude entstehen. Bald werden sich echte Menschen durch den historisierten Stadtgrundriss bewegen und die Stadttextur bewohnen, deren kritische Rekonstruktion sich Senatsbaudirektor Hans Stimmann auf die Fahnen geschrieben hat. Sein "Planwerk Innenstadt", nach dessen Maßgabe sich die Innenstadt Berlins dem Vorkriegszustand annähern soll, wird zur realen Stadt. Ein prüfender Blick lohnt sich, z.B. auf den Bereich zwischen Alexanderplatz und Leipziger Straße. Die Gegend hat Potenzial: Sie gilt als gut erschlossen, nicht sonderlich dicht bebaut und für Investoren interessant; außerdem war sie - für kritische Rekonstrukteure das beste Argument - vor den 1970er Jahren ein quirliges, zentrales Geschäftsviertel und noch dazu dicht bewohnt.

Die Projekte in diesem Bereich sind höchst unterschiedlich. Am Alexanderplatz selbst soll die derzeitige Bebauung mit DDR-Moderne fast vollständig neungeschossigen Blöcken sowie - wenig historisch, aber irgendwie 'metropolitan' - einem Rudel Bürotürme geopfert werden. Aber aus Mangel an Bedarf geschieht hier erst einmal nichts. Für den südlich angrenzenden Bereich hingegen, die so genannte "Banane", hat der Senat tatsächlich Investoren gefunden: Hier errichtet die städtische Wohnungsbaugesellschaft Degewo und der weltweit agierende portugiesische Konzern Sonae Immobiliária einen gigantischen Gewerbekomplex mit Büroturm, Shopping-Mall und Freizeitcenter. Die Fertigstellung des insgesamt 160.000 qm Bruttogeschossfläche umfassenden Projekts ist zur Fußballweltmeisterschaft 2006 geplant. Dass 36.000 qm für Einzelhandel vorgesehen sind, wird als Todesstoß für den umliegenden Einzelhandel betrachtet und ist nur einer der Streitpunkte. Das zwangsläufig folgende enorme Verkehrsaufkommen ist ein weiterer.

Derartige Großprojekte haben natürlich weder mit historischen Vorbildern noch mit echter Zentrumsbildung viel zu tun. Es entsteht eine Art Gewerbepark; höher und teurer als seine vorstädtischen Verwandten an den Autobahnen des Speckgürtels, aber kaum lebendiger und allenfalls architektonisch interessanter. Das liegt in der Natur der Sache: Wer auf einen Schlag ein ganzes Innenstadtviertel aus dem Boden gestampft bekommen möchte, ist auf Großinvestoren angewiesen. Und die können eine gewachsene Stadt nur simulieren. Wie so etwas aussieht, zeigt der Potsdamer Platz - und da hat man noch Glück gehabt.

Vielleicht hat das viel beschworene "städtische Leben" etwas weiter westlich eine Chance? Am Molkenmarkt hinter dem Roten Rathaus ist ein ganzes Viertel in Planung, mit gemischter Nutzung, kleinteiliger Bebauung und wohlproportionierten Plätzen. Hier will man längst verschwundene, vormoderne und sogar mittelalterliche Ensembles wie Franziskanerkloster oder Jüdenhof nachbauen. Auf der Bürgerversammlung präsentiert die Senatsverwaltung neben den unvermeidlichen Schwarzplänen alte Fotografien mit lauschigen Gassen. Das gebaute Ergebnis wird wohl dem Nikolaiviertel ähneln, der allzeit als "DDR-Disneyland" verspotteten Altstadt-Kopie auf der anderen Seite der Grunerstraße.

Keine Wende in der Verkehrspolitik

Die architekturhistorischen Einwände einmal beiseite - wenn die kritische Rekonstruktion des Vorkriegszustands irgendwo Sinn macht, dann an Stellen wie diesen. Die Gegend ist praktisch unbesiedelt und nur schwach genutzt. Mittendurch führt, wie eine Autobahn, die achtspurige Grunerstraße. Die Idee ist, die Grunerstraße mit neuen Baublöcken zu verengen und den Verkehr mittels einer neu zu schaffenden Kreuzung verlangsamen.

Um 20%, verlautbart die Senatsverwaltung, soll der innerstädtische Autoverkehr abnehmen. Das wäre unbestritten genau das Richtige für eine dichte und lebendige Stadt, die keinen ärgeren Feind kennt als das platzraubende, laute, gefährliche und luftverschmutzende Auto. Allerdings stehen die Zeichen nicht gerade für eine Wende in der Verkehrspolitik. Trotz aller Beteuerungen nimmt der Autoverkehr wie eh und je zu. Und solange Bund, Senat und BVG zum öffentlichen Nahverkehr außer Preiserhöhungen, Prestigeprojekten und Personalabbau nichts einfällt, besteht kaum Hoffnung auf Besserung. Im Kampf gegen die Verkehrsplaner mussten die kritischen Rekonstrukteure denn auch ihre erste Niederlage einstecken: Der östlich anschließende Grunerstraßentunnel, der ursprünglich zugeschüttet werden sollte, wird zur Zeit saniert und kann so künftig wieder zigtausend Autos in die umgebenden Stadtteile spucken. Und direkt gegenüber der Klosterruine geht ein massives Parkhaus seiner Vollendung entgegen, wodurch die dahinter liegenden Rathauspassagen und Grünflächen für Autofahrer attraktiver werden, sie aber für die künftigen Anwohner des Klosterviertels nur unter Umwegen erreichbar macht. Sieht so die fußgängerfreundliche Stadt aus, die der Senat seit Jahren propagiert?

Der Straßentunnel mag noch als taktisches Zugeständnis an die mächtige Autofahrer-Lobby durchgehen; das Parkhaus hingegen ist schlichtweg ein Planungsfehler, für den sich Senat und Bezirk gegenseitig die Verantwortung zuschieben. Und auch beim Rückbau der Grunerstraße selbst ist Skepsis angebracht. Im bisherigen Planungsstand ist die künftige Zahl der Fahrspuren zwar nicht dargestellt, doch mindestens sechs werden es auf jeden Fall sein. Das bedeutet, dass die Straße vor allem auf Kosten der Fuß- und Fahrradwege, des Straßengrüns und der geplanten Tram enger wird. Letztere muss sich wohl, wenn sie denn je gebaut wird, den Platz mit den sich stauenden Autos teilen. Der gleiche Verkehr auf weniger Raum - kein Wunder, dass entlang der neuen Grunerstraße vor allem massive Bürogebäude vorgesehen sind, da gewerbliche Nutzung erfahrungsgemäß mehr Lärm verträgt als Wohnnutzung. Eine quirlige Einkaufsstraße wird sie jedenfalls nicht, und schon gar kein Standort für behagliches Wohnen.

Wenigstens im Inneren des Klosterviertels könnte es ganz gemütlich werden und einige der wohlhabenden Neuberliner, die sich die Senatsverwaltung in das Zentrum wünscht, könnten sich hierher locken lassen. Etwas weiter die Grunerstraße hinunter, in der Gegend um den Spittelmarkt, ist nicht einmal das zu erwarten. Auch hier folgt man dem Planwerk Innenstadt: es wird verdichtet, verengt und verlangsamt. Um die Leipziger Straße zu verschwenken und so den Verkehr zu "zivilisieren", soll sogar eine ganze Brücke abgerissen und ein paar Dutzend Meter weiter wiederaufgebaut (und historisch verkleidet) werden. Und auch hier werden Büroblöcke der Straße auf den Pelz rücken, allerdings höchst umstrittene: Man stellt sie den Bewohner/innen der dahinter liegenden Plattenbauten, die bislang einen weiten Ausblick genießen können, direkt vor die Nase. Eine Bürgerinitiative protestiert, die PDS gab einen Gegenentwurf in Auftrag, doch für wesentliche Änderungen dürfte es zu spät sein. Die ersten Grundstücke sind bereits verkauft.

"Gewinn durch Umbau"

Was treibt die Planer zu diesen Projekten, wenn doch der Bedarf nach Büroflächen stagniert und neue Einzelhandelsflächen - sofern sie überhaupt genutzt werden - nur an anderen Stellen für Ladenleerstand sorgen? Wenn die wenigen Berliner Gutbetuchten bereits jede Menge luxuriösen Wohnraum in optimaler Lage zur Verfügung haben? Wenn der übermäßige Autoverkehr als das wesentliche städtebauliche Problem der Innenstadt gar nicht eingedämmt, sondern lediglich durch engere Straßen gepresst wird?

Immerhin ein ernsthaftes Argument ist das Geld. Die 58. Berliner Architekturgespräche, bei denen Stadtentwicklungssenator Peter Strieder die Planungen am Spittelmarkt erläuterte, hießen nicht umsonst "Gewinn durch Umbau". Das Planwerk Innenstadt ist eines der wenigen Projekte, mit denen das Land noch etwas verdienen kann. Denn das öffentliche Straßenland, das hier zu Bauland umdefiniert wird, kann gewinnbringend verkauft werden. Rund 50 Mio. Euro hofft der Senat allein am Spittelmarkt zu erlösen; eine neue Brücke sei, hieß es bei den Architekturgesprächen, schon für zwei Millionen zu haben.

Was aber geschieht, wenn ein Investor wieder abspringt (und das soll ja manchmal vorkommen), weiß niemand so genau. Das Geld für die Planung und die Verlegung der Straßen muss das Land vorschießen; hinterher kann es aber niemanden zwingen, die freigewordenen Flächen auch zu bebauen. Und das dauert erfahrungsgemäß desto länger, je größer das Projekt ist. Die hoch subventionierten städtischen Entwicklungsgebiete an der Peripherie, eine Unzahl von privaten Großprojekten und selbst zentrale Prestigeprojekte wie der Alexanderplatz oder das Büroviertel am Lehrter Bahnhof stehen so gut wie still. Vergeblich wartet man auf wirklich baubereite Großinvestoren und die warten wiederum auf potenzielle Großmieter. Zu den wenigen größeren 'Investoren', die in den letzten Jahren noch Platz brauchten, gehören die Bundesregierung und die Universal Entertainment GmbH. Die eine baute sich gleich ihre eigene Stadt, und die andere richtete sich an der Oberbaumbrücke in einem alten Speicher ein, der - wenn schon, denn schon - tatsächlich ein echtes und kein rekonstruiertes Stück Geschichte ist.

Das ist der Schlossplatz-Effekt: Zu große Pläne, orientiert nicht an den Bedürfnissen der Stadt, sondern an den Sehnsüchten ihrer Planer. Sie haben sich in einen Schwarzplan verliebt und in die verschwommenen, bräunlich-sentimentalen Fotografien, die über ihren Schreib- und Kneipentischen hängen. Mit der Realität der Stadt hat dieser himmelsstürmerische Konservatismus immer weniger zu tun, je mehr ihre Bewohner/innen verarmen und je langsamer sie wächst. Berlin wird nicht - es ist.