Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 300   Oktober 2003

Die unkontrollierte Macht

Die Verbände der Industrie und Arbeitgeber bestimmen die deutsche und europäische Politik

Hermann Werle

Beinahe täglich werden sie in den Medien zitiert und dennoch ist das Wissen um die Organisationen, deren Chefs Dieter Hundt und Michael Rogowski sind, sehr begrenzt. Die Präsidenten und die ranghohen Mitglieder der bedeutendsten Verbände der deutschen Industrie und Arbeitgeber BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) und BDA (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände) gehören zu den einflussreichsten Leuten der Bundesrepublik Deutschland. Das Gewicht der Verbändemacht liegt schwer in der politischen Waagschale Berlins. Mit der "Initiative für eine Neue Soziale Marktwirtschaft" ist es einer Koalition aus Politik und Wirtschaft gelungen, eine aggressive Kampagne gegen die Lohnabhängigen zu starten.

Ob Standortdebatte oder Green Card, ob Ökosteuer, EU-Erweiterung oder Privatisierung, keines der Themen und keine der richtungsweisenden politischen Entscheidungen der letzten Jahre ist ohne maßgebliche Einflussnahme der Spitzenverbände debattiert und schließlich im Sinne der Unternehmen entschieden worden. Als Ausgangspunkt der aktuellen innerdeutschen Debatten um Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ist die maßgeblich vom BDI und seinem 'Think Tank', dem Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), initiierte Diskussion um den "Standort Bundesrepublik" anzusehen. Seit 1986 wird jeder Eingriff in das soziale Sicherungssystem, jeder Angriff auf die Löhne und jede Steuererleichterung für Unternehmen mit der angeblichen Standortschwäche der Bundesrepublik legitimiert. Nicht die Bedürfnisse der lohnabhängigen Bevölkerung sollen Maßstab sozialer Sicherung sein, sondern allein das, was die Wirtschaft bereit ist zu zahlen. Man könnte einwenden: So ist das doch schon immer gewesen! Die anstehenden 'Reformen' der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zeigen allerdings, dass sich ein durch die Arbeitgeber- und Unternehmensverbände angetriebener Strukturwandel vollzieht, der viele soziale - bisher als selbstverständlich geltende - Standards für die Bundesrepublik grundsätzlich in Frage stellt. Ein Zwang zur Arbeit unter schlechtesten Bedingungen bei gleichzeitig wachsender Armut breiter Bevölkerungsschichten werden sich mit der Umsetzung der geplanten Entwürfe manifestieren, wie die massiv eingeschränkte Funktion der Gewerkschaften. Der kürzlich gescheiterte Streik der IG Metall wird von BDA-Präsident Dieter Hundt medienwirksam genutzt, um das Recht auf Streik grundsätzlich in Frage zu stellen. Damit sollen die Gewerkschaften, ihres wirkungsvollsten Kampfmittels beraubt, dauerhaft an die kurze Leine genommen werden und zu Bettelvereinen verkommen.

Sozialdarwinistische Reformbewegung

Der aktuelle Angriff auf die Gewerkschaften und Lohnabhängigen fügt sich in einen massiven Propagandafeldzug der Industrielobby ein. Dafür wurde vor drei Jahren eigens die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (INSM) ins Leben gerufen. Finanziert wird die Initiative von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie, die bis Ende 2004 rund 50 Mio. Euro in das Projekt investieren wollen. Die Koordination liegt bei der Berolino PR-Gesellschaft, die dem Institut der Deutschen Wirtschaft angegliedert ist und vom früheren BDI-Pressesprecher Dieter Rath geleitet wird. Berolino und diverse PR-Agenturen verbreiten ihre Botschaften auf Plakatwänden und ganzseitigen Anzeigen: "So viel Sozialstaat ist unsozial", meint Altbundespräsident Roman Herzog; Lothar Späth legt noch einen drauf und fordert in einer weiteren Anzeige: "Mehr Mut zur Ungleichheit!". Wo immer es geht, werden von Wissenschaftlern, Politikern und Managern mit Hilfe zahlreicher Medien derlei Statements in die Öffentlichkeit kolportiert. Für n-tv, N24, aber auch den Hessischen Rundfunk und die ARD scheint es eine Selbstverständlichkeit zu sein, den von den Verbänden propagierten Sozialdarwinismus bundesweit auszustrahlen. Einen Dreiteiler über die "Märchen der Sozialpolitik" und den Reformstau in Deutschland strahlten die öffentlich-rechtlichen Anstalten schon mehrmals in diesem Jahr aus. Die Videorechte der Sendungen liegen bei der Berolino, die die Produktion erst ermöglichte. Der Produzent Günter Ederer ist "der Mann, der uns aus dem Herzen spricht", bemerkte Dieter Rath laut Evangelischem Pressedienst (epd). Über die Fernsehbildschirme der Nation lief dementsprechend die pure Verbandspropaganda inklusive E-Mail-Hinweis auf die Kampagne im Abspann. Der epd, der die Hintergründe dieser unseligen Verquickung öffentlich machte, resümiert: "Man sieht: Der Medienverbund der Arbeitgeberverbände funktioniert bestens. Nur die öffentlich-rechtliche Programmautonomie kommt dabei unter die Räder. Wo sind sie noch, die viel beschworenen qualitativen Unterschiede zum werbefinanzierten Fernsehen?" Angesichts der ökonomischen und sozialen Missstände, die diese Reformbewegung mitverursacht und gleichzeitig vertuschen will, biegen sich in vielerlei Hinsicht die Balken. Der Sozialabbau schreitet voran, während von neuen Arbeitsplätzen weit und breit keine Spur in Sicht ist. Zwei Stellenvermittlungen in Berlin (bundesweit 117) sind die Erfolgsstory der Personal-Service-Agenturen, dem Herzstück der Hartz-Reformen. Folgen wir Dagmar Schipanski, Bildungsministerin in Thüringen und engagierte Botschafterin der INSM, für die sozial ist, "was Arbeitsplätze schafft", so ist wohl der Umkehrschluss gestattet, dass besonders asozial die Konzerne sind, die in dieser schwierigen Situation trotz Niedriglohn und flexibler Arbeitszeiten nur an Profite und Aktienindex denken und weiterhin in großem Umfang Stellenabbau betreiben.

Einsichten dieser Art sind nicht sonderlich verbreitet - schon gar nicht mehr bei den Sozialdemokraten. Neben BDI, BDA, Leuten aus CDU/CSU/FDP/Grüne und dem Rechtsaußen Arnulf Baring - der noch kürzlich in der FAZ gegen den gewerkschaftlichen Einfluss im Parlament gewettert und mit "Bürger, auf die Barrikaden!" einen Aufstand von rechts gefordert hatte - betätigen sich auch Sozialdemokraten in der INSM. 'Superminister' Clement war bis vor kurzem ebenso für die Initiative aktiv wie heute noch Florian Gerster, der Chef der Bundesanstalt für Arbeit. Dieser brachte die Substanz der propagierten "Neuen Sozialen Marktwirtschaft" im Gespräch mit der Berliner Zeitung auf den Punkt: "Der Sozialpolitiker fragt, was braucht der in Not geratene Mensch? Dann definiert er Standards, die finanziert werden müssen. In einem hoch entwickelten Sozialstaat mit gravierenden Strukturproblemen wie dem unsrigen muss die Frage umgedreht werden: Wie viel Sozialstaat kann sich die Gesellschaft leisten?" (Berliner Zeitung, 8./9. März 2003).

Alles schon gehabt

Mit ihrer Propagandaoffensive sind Gerster sowie seine neoliberalen Gesinnungskameraden und Kameradinnen der INSM nicht sonderlich originell, übernehmen sie doch im Kern die gleichen Positionen, die die Industrieverbände schon vor 80 Jahren formulierten: "Wie jede Politik ist auch die Sozialpolitik nur eine Politik des Möglichen, des Durchführbaren, des Tragbaren. Nicht allein der Gedanke, dass etwas 'gut' oder 'wünschenswert' ist, kann die Sozialpolitik bestimmen, sondern dazu muss die Gewissheit kommen, dass die zu treffende Maßnahme mit den vorhandenen Mitteln durchführbar ist und dass sie nicht andere, ebenso wichtige Volksglieder zum Schaden des Ganzen ungebührlich benachteiligt." Diese Worte des Konzernbarons Borsig, der seinerzeit Vorsitzender der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände war, wurden 1924 in der Schriftenreihe des Reichsverband der Deutschen Industrie publiziert. Aus dem gleichen Haus, im Dezember 1929 vor dem Hintergrund der Krisenerscheinungen der kapitalistischen Welt, wurden die Forderungen der Industrie schon wesentlich forscher formuliert: "Die Sozialversicherung soll die wirklich Schutzbedürftigen und Notleidenden betreuen, eine unberechtigte, die Volksmoral schädigende Ausnutzung ihrer Einrichtungen aber verhindern." Zur Steuerpolitik heißt es: "Der Umbau der Finanzwirtschaft hat nach zwei Gesichtspunkten zu erfolgen: a) wesentliche Senkung der öffentlichen Ausgaben und Steuern, b) Beschaffung der Mittel, stärker als bisher, durch indirekte Besteuerung." Wer dächte da nicht an die rot-grüne Steuerpolitik oder die von Kanzler Schröder platzierte Faulenzerdebatte und den Worten seiner Agenda 2010-Rede vom 14.03.2003: "Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt - wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern -, der wird mit Sanktionen rechnen müssen."

Ein historischer Vergleich hinkt zweifelsohne an vielen Stellen, deutlich ist jedoch, dass sich an den grundsätzlichen Tendenzen der Auseinandersetzung nicht viel ändert. Ähnlich wie heute konnten die Verbände als stärkste Interessenvertretungen der großen Konzerne Mitte der 1920er Jahre angesichts kapitalistischer Krisenerscheinungen und steigender Arbeitslosenzahlen eine scharfe Offensive gegen die Interessen der Lohnabhängigen entfachen. Damals vor dem Hintergrund einer Phase, in der die Arbeiterklasse durch harte Kämpfe und hohen Blutzoll bedeutende Fortschritte erzielt hatte. Fortschritte, die ihre Wirkung bis in den derzeit zum Abschuss freigegebenen Sozialstaat entfalten konnten. Ein weiterer Unterschied ist freilich, dass die Sozialdemokratie nicht schon immer die Argumente der Unternehmerverbände übernommen hat. Schließlich dienten sowohl das Bismarcksche Sozialistengesetz von 1878 wie auch die wenige Jahre später erlassenen Gesetze zu den Sozialversicherungen nach dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche einst der Bekämpfung der Sozialdemokratie. Lang, lang ist’s her - für die Sozialversicherungen lohnt es sich aber auch heute noch zu kämpfen, und ein Gesetz, welches "gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" vorgeht, wünscht man sich wohl bald wieder.

Arbeitsteilung

Um die engen Bande zwischen wirtschaftlichen und politischen Lenkern der Bundesrepublik besser zu verstehen, lohnt es, die Arbeitsteilung der Verbände und die personellen Verbindungen zu untersuchen. Die Verbandspolitik der Unternehmen entwickelte sich historisch an spezifischen Interessen. Eine größere Anzahl von Unternehmensverbänden entstand seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts. Sie waren überwiegend lokale Zusammenschlüsse, die sich mit Fragen des Verkehrs und der Tarife für Eisenbahnen und Schiffe beschäftigten. Mit der Gründung des deutschen Reichs vervielfachte sich die Anzahl der Verbände - Hauptgründungszweck war in dieser Zeit die Forderung nach Schutzzöllen, die anstelle von Freihandel Importzölle zum Schutz der einheimischen Wirtschaft erheben. Neben Vereinen wie dem der Süddeutschen Baumwollindustriellen oder der Deutschen Eisen- und Stahlindustriellen entstand mit dem Centralverband Deutscher Industrieller 1876 die einflussreichste Interessenvertretung der Industrie. Der Ruf nach wirksamer staatlicher Schutzzollpolitik wurde sowohl vom Centralverband als auch der Landwirtschaft gefordert und führte zur wirtschaftspolitischen Wende, der Bismarckschen Schutzzollpolitik. Mit Zuspitzung der sozialen Kämpfe und dem zeitgleichen "Sozialistengesetz" entstanden zwischen 1880 und 1889 25 Arbeitgeberverbände als Kampforganisationen der Unternehmer gegen die Gewerkschaften. 1913 fusionierten diese Verbände zur Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (VDA), der Vorläuferorganisation der heutigen BDA. An der Aufgabenteilung hat sich bis heute nicht viel geändert. Während der BDI als Wirtschaftsverband in erster Linie als Lobby der Industrie auf die Politik und Öffentlichkeit einwirkt, sind die Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften und die gegenseitige finanzielle Unterstützung bei Streiks sowie Koordinierung von Aussperrungen die Haupttätigkeiten der BDA.

Diese grundsätzliche Aufgabenverteilung der Spitzenverbände darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Grundsatzfragen eine enge Abstimmung und Zusammenarbeit gibt, die sich nicht zuletzt in dem gemeinsam bezogenen "Haus der Wirtschaft" widerspiegelt. In der Breiten Straße 21-29 in Berlin-Mitte haben BDI, BDA und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag eine gemeinsame Adresse, von der aus "ein neues Kapitel der Interessenvertretung für die deutsche Wirtschaft" geschrieben werden soll, "deren Gemeinschaft nun auch unter einem gemeinsamen Dach seinen Ausdruck findet", wie BDA-Chef Dieter Hundt zur Einweihung des Gebäudes am 12.11.1999 vermerkte.

Lobby der Großkonzerne

Rund 75% der deutschen Unternehmen sind über ihre jeweiligen Branchen- oder Fachverbände im BDI und BDA organisiert. Beide Spitzenverbände verfügen des Weiteren über Vertretungen in 15 Bundesländern sowie diverse Fachbereiche und Ausschüsse. Dadurch entsteht ein enges Geflecht von Einflusssphären auf der Ebene der Kommunen und Länder aber auch der Außenpolitik. Wenngleich die Mehrzahl der organisierten Unternehmen kleine und mittelständische Betriebe sind, dominieren die transnationalen Konzerne die Verbändepolitik. Präsidium und Vorstand des BDI gleichen einem who is who der deutschen Konzernfürsten: Neben dem Präsidenten Michael Rogowski finden sich dort unter anderem Ekkehard Schulz (Thyssen Krupp AG), Burckhard Bergmann (E.on/Ruhrgas), Ulrich Hartmann (E.on AG), Harry Roels (RWE AG), Jürgen Schrempp (Daimler Chrysler), Heinrich v. Pierer (Siemens AG), Ludolf v. Wartenberg (Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie und ehemaliger Staatssekretär) sowie der frühere Wirtschaftsminister Werner Müller (RAG Aktiengesellschaft). Auffallend ist neben der Konzerndominanz die personelle Verflechtung in die politische Sphäre, die mit dem Begriff der Deutschland AG umschrieben wird und als deren "Vorstandsvorsitzender" sich Gerhard Schröder titulierte. Gemeinsam mit Minister Clement berief er im Juli drei Wirtschaftsführer der Deutschland AG in seinen engen Beraterstab: Klaus Mangold (Daimler Chrysler und Chef des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft im BDI), Heinrich v. Pierer und Jürgen Weber (Lufthansa AG) bekleiden seither das Amt des Beauftragten für Auslandsinvestitionen in Deutschland.

Über weitere Verflechtungen der Deutschland AG, den BDI als "zweites Außenministerium" und die Industrielobby in der Europäischen Union wird im MieterEcho Nr. 301 zu lesen sein.

Sozialistengesetz:
Am 21.10.1878 setzte Reichskanzler Otto von Bismarck im Reichstag das "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" (Sozialistengesetz) durch. Das zunächst auf zweieinhalb Jahre befristete Ausnahmegesetz wurde bis 1890 mehrmals verlängert.
Das Gesetz enthielt das Verbot sozialdemokratischer, sozialistischer und kommunistischer Zusammenschlüsse (Vereine und Gewerkschaften). Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion blieb jedoch bestehen.