Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 299   August 2003

Wenn der autonome Opa erzählt

Ein schönes Bilderbuch über die ersten 23 Jahre der Autonomen

Christoph Villinger

"Beim ersten Molli ist es wie mit dem ersten Kuss: Sinn und Unsinn sind tausendmal hin- und herüberlegt, Anlässe gibt es genug, Gefahren werden bedacht, Gelegenheiten werden versäumt - irgendwann ist es überfällig." Über zwanzig Jahre später und wenn alles juristisch verjährt ist, können die "wahren Geschichten" erzählt werden. Mit Erinnerungen wie dieser aus der Hochphase des Westberliner Häuserkampfs im Frühjahr 1981 ist das jetzt erschienene Buch "Autonome in Bewegung - aus den ersten 23 Jahren" gespickt.

Auf über 400 Seiten erzählen fünf männliche Autoren in dem hervorragend layouteten und mit vielen Fotos aus bewegten Zeiten geschmückten Band aus ihrem Leben. Den Schwerpunkt bilden die Ereignisse rund um den Westberliner Häuserkampf zu Beginn der 1980er Jahre und die Hausbesetzungen in Ostberlin im Jahr 1990. Nur Namen nennen die fünf männlichen Autoren nicht. Sie selbst benutzen das Pseudonym "A.G. Grauwacke". Wer jetzt befürchtet, das Buch wäre nur eine Anekdotensammlung aus den verschiedenen Phasen der autonomen Bewegung, wird positiv überrascht. Mit ihrer Mischung aus einem eher sachlich gehaltenen Hintergrundtext, vielen Bildern und Dokumenten sowie den zahlreichen subjektiven Beschreibungen erreichen sie einen verblüffenden Tiefgang. Zwar bleiben sie in der typisch autonomen Weltsicht gefangen, die ein imaginäres "wir" dem feindlichen "Staat" gegenübersetzt. Mit diesem "wir" sind die Autoren bei fast allen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten 23 Jahre präsent, denn dieses "wir" konstituiert sich nur im Konflikt. Doch es wäre vermessen, dies den Autoren und ihrem Buch vorzuwerfen. Es ist eben ein authentisches Dokument.

Sie berichten vom Entstehen der ersten Kollektivbetriebe, von den alltäglichen Beziehungen in den besetzten Häusern sowie von nächtlichen militanten Aktionen. Auch die antifaschistischen und antirassistischen Bewegungen der 1990er Jahre lassen sie Revue passieren.

Getreu dem Motto "Mach' es wie die Sonnenuhr, zähl' die heiteren Stunden nur", feiern sie den größten messbaren Erfolg der Berliner Autonomen, die Kampagne gegen die Olympiabewerbung der Stadt 1993, noch einmal ausgiebig ab. Scheinbar summa summarum eine einzige Erfolgsgeschichte. Man fragt sich nur, warum es dann mit der Revolution noch nicht geklappt hat? Entsprechend wenig wird auch gefragt, warum so viele BewegungsaktivistInnen im Alltag scheitern? Warum sind die Autonomen oft nur ein Durchlauferhitzer für junge Erwachsene und warum haben so wenige die innere Kraft, "bis ins hohe Alter von 90 zu revoltieren"? Die inhaltliche Auseinandersetzung mit den "Autonomen" überlassen die Autoren anderen Büchern wie "Feuer und Flamme" von Geronimo. Trotzdem versucht sich die A.G. Grauwacke in einer weltpolitischen Einordnung der Autonomen. Auf jeder Seite führt eine Zeitleiste die parallel stattfindenden "Weltnachrichten" auf. Eine Demonstration jagt die nächste, nur unterbrochen von hier und da einem Attentat oder einem Guerillaangriff in einem Land der Dritten Welt. Sogar in die Insider-Sprache der Autonomen führen die Autoren die LeserInnen in einem ausführlichen Glossar ein. "Abfackeln" bedeute "liebevoll für in Brand setzen".

Am Ende des Buchs hoffen die Autoren, dass "das Buch - trotz seiner Lücken - einen Eindruck vermittelt, was autonome Politik in den letzten 23 Jahren war, und was nicht". In der Tat ist ihnen dies gelungen. Schlüssige Antworten "wie es die nächsten 23 Jahre weitergeht" können und wollen sie nicht liefern. Aber sie haben einer kollektiven Geschichtsarbeit auf die Sprünge geholfen, die auf der extra eingerichteten, moderierten Internetseite weitergeht. In Erwartung ihrer Diskussionsbeiträge und Ergänzungen fordern sie die LeserInnen auf: "Schreibt, Freunde und Freundinnen!"

Grauwacke: Meist dunkelgrau bis braungrau gefärbter Sandstein, aus Quarz, Feldspat und unaufgearbeiteten Gesteinsbruchstücken (mind. 50%) wie z.B. Lydit und Quarzit zusammengesetzt. Kann auch Glimmer, Chlorit und Tonmineralien enthalten. Gebräuchliches Material für Pflastersteine.
Aus: Autonome in Bewegung

A.G. Grauwacke:
Autonome in Bewegung
Assoziation A, Berlin 2003
408 Seiten, 20 Euro
Disskussionsseite zum Buch im Internet:
http://autox.nadir.org