Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 299   August 2003

"Eine clevere Alternative"

Ist Basisdemokratie in Wohnungsbaugenossenschaften heute noch möglich?

Jochen Liedtke

Am letzten Wochenende im Juni präsentierten 28 der rund 80 Berliner Wohnungsbaugenossenschaften auf dem dritten Berliner "Wohntag" ihr Angebot und ihre Leistungen. Im zunehmenden Konkurrenzdruck auf dem Berliner Wohnungsmarkt steht die Suche nach einem "eigenen Profil" im Vordergrund. Neben dem reinen Wohnungsangebot betonen Genossenschaften dabei gerne, dass die MieterInnen Miteigentümer "ihrer" Wohnungen seien und die Geschicke des Unternehmens, "ihrer" Genossenschaft, mitbestimmen können. Die Vorstände der Genossenschaften nennen das Leben in ihren Häusern eine "clevere Alternative zu Miete oder Eigentum". Doch wie sieht die Wirklichkeit aus?

Genossenschaften sind zwar nicht (mehr) gemeinnützig, jedoch besteht ihr Zweck darin, eine "gute, sichere und sozial verantwortbare Wohnungsversorgung zu angemessenen Preisen" anzubieten. Neben der Förderung ihrer Mitglieder - in Berlin sind es rund eine viertel Million Menschen - wirken sie über diesen Satzungszweck auf die Wohnungssituation in Berlin, also auf die Mietenstruktur. Damit ist ihre wichtige Rolle bei der Erstellung des Berliner Mietspiegels, jüngst in neuer Auflage erschienen, dokumentiert. Die schlechte Arbeitsmarktlage in Berlin mit Arbeitslosenquoten um 20% geht an den Genossenschaften ebenso wenig vorbei wie an anderen Wohnungsbaugesellschaften. Auch ein Wohnungsangebot, das teilweise nicht den Anforderungen des Markts entspricht, und/oder bereits seit langem bestehende Mietverträge mit sehr günstigen Mieten bereiten insbesondere Genossenschaften mit überwiegend altem Hausbestand Schwierigkeiten. Vor 70 oder 100 Jahren waren die Genossenschaften innovativ mit den Wohnungen für Arbeiterfamilien mit eigenen Toiletten, heute jedoch sind die Wohneinheiten meist zu klein und von der Ausstattung nicht mehr zeitgemäß. So versuchen Genossenschaften durch Modernisierung und Zusammenlegung ihr Terrain auf dem Wohnungsmarkt zu behaupten. Dabei geraten sie unter enormen Kostendruck. Leerstand sowohl bei Wohnungen wie Gewerberäumen sowie eine sich verändernde Mieterstruktur sind hinreichende Ursachen. Unternehmerisches Handeln will dabei sensibel gewählt sein. Die Satzung im Auge, gilt es die Genossenschaften zu erhalten. In einigen Unternehmen künden die Buschtrommeln längst von Umwandlung in eine andere Rechtsform. Hierzu wäre übrigens eine Mehrheit von drei Vierteln der Mitglieder oder aber - so durch die Satzung vorgeschrieben und vorhanden - ihrer gewählten Vertreter auf einer einberufenen Versammlung erforderlich, bei der mindestens 50% der Vertreter anwesend sein müssen. Wer sind diese Vertreter? Die Vertreterversammlung, alle vier bis fünf Jahre von den Mitgliedern einer Genossenschaft gewählt, ist das höchste Organ der Genossenschaft. Sie wählt die Mitglieder des Aufsichtsrats, der wiederum die Mitglieder des Vorstands beruft. Sie entlastet Vorstand und Aufsichtsrat nach Lagebericht, entscheidet über die Gewinnausschüttung und diskutiert die Berichte von Vorstand und Aufsichtsrat. Die Vertreter vermitteln zwischen Mitgliedern und Vorstand, bestimmen über Satzungsänderungen usw.

Gibt es also wirkliche Basisdemokratie? Besteht die Graswurzelidee auf Unternehmensebene? Mitnichten!

Die Macht der Vertreter

Zunächst ist zu hinterfragen, wodurch Vertreter zu Vertretern werden und wie Motivation und Kompetenz bei den Vertretern zu bewerten sind. Anders als in Aktiengesellschaften verdienen Vertreter kein Geld, es fehlt also die Triebfeder privater Gewinnmaximierung. Dies erscheint positiv, betrachtet man, was "Shareholder Value" in großen deutschen Traditionsunternehmen in den vergangenen Jahren angerichtet hat - dokumentiert u.a. durch wachsende Arbeitslosigkeit. Vertreter können gewählt werden, nachdem sie ihre Kandidatur erklärt haben. Sie erscheinen namentlich auf Listen, auf denen dann von den Mitgliedern Kreuzchen gemacht werden - oder auch nicht. Vielleicht kennt man sich persönlich, vielleicht findet man Namen, Alter, Beruf oder Adresse sympathisch. Bei Wahlbeteiligungen zwischen 15 und 30% reichen 20 (zwanzig!) Stimmen i.d.R. aus um in die Vertreterversammlung gewählt zu werden. Dann lernen sich die Vertreter in den wenigen Versammlungen kennen - oder auch nicht. Die meisten nehmen schweigend an den Versammlungen teil, wenige beteiligen sich mehr oder weniger kompetent und engagiert an Diskussionen, und am Ende geschieht in aller Regel, was Vorstand und Aufsichtsrat wünschen und meist professionell eingefädelt haben. Hierbei hat sich zwischen den Genossenschaften auf allen vier Ebenen - Vorstand, Aufsichtsrat, Vertreter, Mitarbeiter - ein reger Austausch ergeben, der sich u.a. bei den "Prüfungen" des Verbands zeigt. Man kennt sich, unterstützt sich gegenseitig (bei aller Konkurrenz) und schiebt sich Pöstchen zu. Natürlich zum Wohle des oder der jeweiligen Unternehmen. Vielleicht nicht zu Unrecht. Kann man einer inhomogenen, eher spontan zusammengekommenen, Vertreterversammlung die Geschicke eines millionenschweren Unternehmens, der eigenen Karriere, der Existenzsicherung der Beschäftigten und der hunderten oder tausenden dort Wohnenden überlassen? Wohl eher nicht, aber das Procedere erweckt den Anschein.

Wenige Vertreter (der Autor darf sich dazu zählen) haben während ihres ehrenamtlichen Engagements versucht, inhaltliche Anträge zu stellen, etwa im Baubereich. Quoren von 10% Prozent der Mitglieder oder eines Drittels der Vertreterschaft (die einen Antrag mitzeichnen müssen) sind aus rein praktischen Gründen mit ‚normalem’ Aufwand, also in der Freizeit, nicht zu erbringen. Zudem führt der Vorstand die Geschäfte "eigenverantwortlich", muss also Anträgen selbst bei Erfüllung aller Satzungsauflagen und Mehrheiten nicht Folge leisten. Wer hat schon einmal mit Erfolg probiert, einen ‚eigenen’, für andere ‚kritischen’, Kandidaten in den Aufsichtsrat zu bekommen? Sollte es doch einmal gelingen, gibt es Mobbing bis zur Gleichschaltung oder zum Rücktritt vom Amt. Vielleicht ist das alles nachvollziehbar, denn auch bei Genossenschaften geht es um richtig viel Geld. Wer kann mit ehrenamtlicher Arbeit professionell vorbereitete und unterstützte Jahresberichte und Diskussionen wirklich inhaltlich ins Wanken bringen und dabei Mehrheiten im Auditorium erzielen? Gibt es ein Erfolgsbeispiel mit echter unternehmerischer Relevanz, welches seinen Ursprung nicht im genossenschaftlichen Establishment genommen hat, sondern aus den Kreisen der Mitglieder kommt? Dem Autor ist kein einziges bekannt.

"Gerechtigkeit" als Werbegag

Die Lage auf dem Wohnungsmarkt und der hohe Kostendruck sowie sinkende öffentliche Zuwendungen erzwingen ein Umdenken in der Unternehmenspolitik auch bei Genossenschaften. Durch ein verändertes, im Rahmen der Möglichkeiten aufgefrischtes Wohnungsangebot - bei dem übrigens wie schon früher kinderreiche und einkommensschwache Familien auf der Strecke (oder besser auf der Straße) bleiben - versucht man marktfähig zu bleiben, ohne die für die Vorstandsarbeit angenehme (weil wenig behindernde) Rechtsform zu verändern. Durch die Einführung eigener Mietensysteme etwa, versucht man kostendeckende Nutzungsgebühren (die Genossenschaftsvorstände sprechen meist von "Mietern" und nicht von "nutzenden Mitgliedern") anzustreben bzw. zu erzielen.

Im Falle der "1892" (Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892 eG) oder der "Charlotte" (Charlottenburger Baugenossenschaft eG) etwa heißt dies: "WohnWertMiete". Bei der "Charlotte" hat man sich dazu vor einigen Jahren eine Mehrheit in der Vertreterversammlung beschafft um die ‚edle’ demokratische Legitimation zu dokumentieren, durchaus auch als Mittel der Anwerbung neuer Mieter und damit Mitglieder, denn vor der Unterzeichnung eines Mietvertrags in einer Genossenschaft steht der Erwerb (Kauf) von genossenschaftlichen Anteilen. Mit Schlagworten wie "Gerechtigkeit" und "Sicherheit" wird geworben, doch dahinter steht knallharte Kalkulation. Wie viel lässt sich aus den zahlenden WohnungsnutzerInnen herausquetschen? Eine aus ‚eigenen’ und ‚nahestehenden’ Personen gebildete Kommission hat festgelegt, was "Wohnwert" bedeutet und wie der Bestand einzustufen ist. Fünf - der Autor findet sie nicht nachvollziehbar und willkürlich - konstruierte Wohnwertstufen unterteilen den Bestand. Teils so grotesk, dass der unmittelbare Nachbar im Nebenaufgang, also ‚hinter der Wohnzimmerwand’, zwei Stufen günstiger davon kommt als man selbst, oder eben ungünstiger - je nach Perspektive. Das Attribut "gerecht" steht indes auf allen Plakaten, auf der Homepage und in den Jahresberichten. Die Überprüfung dieser Einteilung durch eine externe und unabhängige Bewertungsgruppe ist zwar versprochen, steht nach Jahren der Einführung des neuen Mietensystems jedoch immer noch aus. Alle Prozesse gegen Mitglieder, die wegen der Mieterhöhungen geklagt hatten, wurden bis auf einen Vergleich bislang gewonnen, wie der Vorstand stolz zu berichten weiß. Zudem beruft man sich auf das Mandat der Vertreterversammlung, die dem Ganzen den demokratischen Anstrich verleiht. Formal ist das zwar richtig, aber ist es wirklich demokratisch? Was ist beispielsweise mit den vielen alten Menschen, denen man zwar mit Sozialarbeitern, kleineren Umbauten und Betreuungskonzepten das selbstständige Wohnen in der eigenen Wohnung ermöglicht, die aber mit komplizierten Begründungen und formal anmutenden Mieterhöhungsschreiben überfordert sind, einfach nur Folge leisten und in Ruhe gelassen werden wollen? (Obwohl die Fürsorge für Senioren vorrangig der Leerstandsvermeidung dient, begrüße ich dies ausdrücklich, da es menschenwürdiger ist, alte Menschen in ihren Kiezen zu belassen als sie in Altenheime abzuschieben). Überhaupt wollen die meisten Bewohner von Genossenschaften in Ruhe gelassen werden, teils aus Unwissenheit, teils aus Desinteresse. Denn wirkliche Mitbestimmung in "ihrem" Unternehmen, "ihrer" Genossenschaft, ist praktisch unmöglich. Immerhin: Es gibt in Teilbereichen ein wenig mehr Transparenz, die Mieten sind bei einigen (nicht bei allen!) Genossenschaften immer noch günstiger als am Markt und der Service rund um das Wohnen ist meist besser als bei anderen Unternehmensformen. Aber: Die Mär von der Mitbestimmung im eigenen Unternehmen ist eine Legende. Die "clevere Alternative" zwischen Eigentum und Miete existiert nicht - zumindest nicht wegen der Einzigartigkeit der genossenschaftlichen Rechtsform. Das Verhältnis zwischen BewohnerIn und Unternehmen wird nicht primär bestimmt durch die genossenschaftliche Satzung, sondern durch Mietrecht und Mietvertrag. Wer dies erkennt, für den ist das Wohnen in einer Genossenschaft durchaus eine Alternative zu anderen Angeboten. Die Entscheidung sollte aber immer anhand der Kriterien für die konkreten Wohnbedürfnisse und auch einen genauen Blick auf das vermietende Unternehmen mit einschließen. Die Verklärung der Genossenschaften in der Gegenwart wegen ihrer wichtigen und richtigen Historie mutet anachronistisch an und ist nüchtern betrachtet nichts als ein Werbegag. Dies ist legitim und legal - nicht mehr und nicht weniger.

Der Autor ist seit drei Wahlperioden Mitglied der "Vertreterschaft" in der Charlottenburger Baugenossenschaft, wohnt dort gerne und fühlt sich durchaus wohl, aber betrachtet die Möglichkeiten der unternehmerischen Mitbestimmung in der Genossenschaft sehr "nüchtern".

Bei der "WohnWertMiete" wird die Miethöhe nach Qualitätskriterien festgesetzt. So sollen u.a. die durch unterschiedliche Förderungen entstandenen Spreizungen im Mietengefüge innerhalb der jeweiligen Genossenschaft neu geordnet werden. Für einige Wohnungen bedeutet das Mietsenkung, für andere Mieterhöhung, wobei diese durch den Mietspiegel begrenzt wird.

Charlottenburger Baugenossenschaft eG
Informationen im Internet unter:
www.charlotte-bau.de