Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 298   Juli 2003

Das Dogma der Privatisierung

Die Kommunale Daseinsvorsorge als Spielball transnationaler Unternehmen

Hermann Werle

Im ursprünglichen Sinn ist das Dogma ein kirchlicher Glaubenssatz mit dem Anspruch unbedingter Gültigkeit. Das Dogma der Privatisierung beschreibt einen Glaubenssatz der allgegegenwärtigen neoliberalen Denkschule: Mit missionarischem Eifer versuchen Wirtschaftsexperten jeglicher Couleur die Wohltaten der Privatwirtschaft zu preisen und die öffentliche Daseinsvorsorge als "überwunden geglaubte staatswirtschaftliche Struktur" (Bundesverband der deutschen Industrie) zu diffamieren. Die Argumente der neoliberalen Glaubensgemeinschaft entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als Mythen zur Verschleierung des realen Kapitalismus.

Seit einigen Jahren ist die Privatisierung der Berliner Wohnungsbaugesellschaften und die negativen Effekte, die diese Politik für die Mieter und Mieterinnen sowie Angestellte der Gesellschaften mit sich bringt, ein immer wiederkehrendes Thema im MieterEcho.

Bei den Wohnungsgesellschaften endet der Verkauf öffentlichen Eigentums jedoch bei weitem nicht. Auch die Wasser- und Energieversorgung, Messehallen, der öffentliche Nahverkehr sowie Krankenhäuser und Sozialversicherungen werden an private in- und ausländische Unternehmungen verkauft. Ein flüchtiger Blick über die Landesgrenzen genügt, um zu erkennen, dass der Verkauf von kommunalen- und Staatsbetrieben einer Logik folgt, die wenig mit verschuldeten Haushalten, sondern viel mehr mit den Expansionsbestrebungen und der Notwendigkeit zur Größe der transnationalen Konzerne zu tun hat.

Gefüllte Kriegskassen

Zu einer "großen Privatisierungsanstrengung" ruft Lothar Späth im Handelsblatt vom 7. Mai auf. Den neoliberalen Glaubensgrundsätzen folgend, sollten nach Meinung Späths "viele öffentliche Dienstleistungen, vor allem im Energie-, Wasserversorgungs- und Abwasserbereich, im Verkehrssektor sowie bei der Abfallbeseitigung" privatwirtschaftlich kontrolliert werden. "Unseren Partnern in der Europäischen Union" könnten wir somit außerdem zeigen, "dass wir durch die Mobilisierung unserer letzten Reserven bereit sind, mit gewaltigen Anstrengungen die Voraussetzungen für erfolgreiche Sozialreformen zu schaffen." Mit Sozialreformen sind "Hartz", "Rürup" und die Agenda 2010 gemeint. Wachstumsstimulierend soll der Sozialabbau wirken, denn nach Späth werden "die privaten Investoren in Deutschland nichts unternehmen, solange die politischen Ziele in Berlin nicht klar formuliert und die Rahmenbedingungen verbessert sind." Weit gefehlt Herr Späth, der Sozialabbau ist im vollen Gange und ganz nach dem Geschmack der Privatwirtschaft, investiert wurde aber auch schon zuvor, was das Zeug hält:

"Ausländische Direktinvestitionen in die Industrieländer stiegen im Jahr 2000 um 21% auf über eine Billion Dollar", stellte die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) in ihrem "Weltinvestitionsbericht 2001" fest. Den größten Anteil an Investitionen nahmen grenzüberschreitende Fusionen und Unternehmensaufkäufe ein - sie verdreifachten sich zwischen 1990 und 2000, wobei sich das Finanzvolumen der Transaktionen sogar verzwölffachte. Die Unternehmen investieren jedoch nicht auf der "grünen Wiese", sprich in neue Produktionsstätten, die auch neue Arbeitsplätze schaffen würden, sondern in die Bereiche der neu geöffneten Märkte. Laut UNCTAD ist Deutschland im Jahr 2000 mit 176 Mrd. Dollar zum ersten Mal der größte Empfänger ausländischer Direktinvestitionen in Europa geworden und belegte weltweit den zweiten Platz hinter den USA. Auf der anderen Seite verfügen auch die deutschen Unternehmen über genügend gefüllte Kriegskassen, um ausländische Unternehmen zu schlucken und die Konkurrenz in Schach zu halten. Gegenüber den ersten fünf Jahren verdreifachten sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre die Direktinvestitionen deutscher Unternehmen im Ausland auf durchschnittlich 68 Mrd. Dollar. Der Standort Deutschland ist offensichtlich besser als sein Ruf und deutsche Unternehmen spielen ihrerseits in der ersten Liga der globalen Unternehmensgiganten wie auch der UNCTAD betont: "Der Auslandsumsatz insgesamt nahm um 3% auf 2,1 Billionen Dollar zu, wobei sich unter den Top 100 der Transnationalen Unternehmen der Anteil der US-Firmen verringerte und jener der EU-Firmen erhöhte, letzteres vor allem auf Grund der Aktivitäten von deutschen Firmen."

"Wachsen um zu überleben"

Die Weltinvestitionsberichte der letzten Jahre machen sehr deutlich, in welchen Bereichen und Regionen die neu geöffneten und heiß umkämpften Märkte zu finden sind: Als 1996 die Investitionen in die Länder Mittel- und Osteuropas zurückgegangen waren, führte der Bericht dies "unter anderem auf die verlangsamte Privatisierung in einigen Ländern zurück." Bei wachsender Investitionstätigkeit hieß es im Jahr 1998, dass "Fortschritte in der Liberalisierung von Handel und Investitionen sowie die Privatisierung treibende Kräfte waren." Und auch der Bericht von 2001 bemerkte, dass "ausländische Direktinvestitionen von Privatisierungen dominiert" wurden. Die Dynamik der Direktinvestitionen ist eine der entscheidenden Schubkräfte der globalen Wirtschaftsverflechtungen. "Die weltweiten Umsätze von transnationalen Unternehmen entsprechen mittlerweile dem Doppelten der Weltexporte", resümiert der Weltinvestitionsbericht. Direktinvestitionen sind somit zur wirksamsten Methode der Eroberung ausländischer Märkte geworden. Beschränkt ist diese Entwicklung allerdings auf Nordamerika, Europa und einige asiatische Staaten, also jene Regionen, welche die weltweiten ökonomischen Schwergewichte darstellen und somit hohe Renditen versprechen. Aus der Perspektive der Unternehmen hat ein Rennen um die neuen Märkte eingesetzt - "Wachsen, um zu überleben", wie es ein Gesellschafter der A. T. Kearney Unternehmensberatung umschrieb. Kleine Fische werden von den großen gefressen oder unterliegen dem Druck der übermächtigen Konkurrenz. Konzerne wie Siemens führen Geschäftsfelder nur noch, wenn darin Platz eins oder zwei zu behaupten ist. "Grundsätzlich schrumpft die Zahl der ‚Global Players‘", so der Siemens Vorstand von Pierer, denn in der Regel vertrage ein Arbeitsfeld langfristig nur fünf bis sechs Wettbewerber. In einigen Bereichen ist diese Marke schon annähernd erreicht. In den Industriezweigen Flugzeuge, Stahl, Öl, Computer, Chemie, Autos und Elektronik beherrschen die fünf Branchenführer zwischen 30% und 60% des Weltumsatzes - ein Konzentrationsprozess, der sich auch in politischer Macht ausdrückt.

Mit Vater Staat und Mutter EU im Rücken

Wenngleich die großen Kapitalgesellschaften global agieren, ist in Zeiten der zugespitzten Konkurrenz die Besinnung auf die nationalstaatliche Herkunft umso bedeutsamer. Die Lobbyorganisationen der deutschen Industrie, an der Spitze der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI), sind federführend an den arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitischen Regelungen der deutschen Politik beteiligt. Verschiedene Steuerreformen haben dazu geführt, dass große Kapitalgesellschaften seit Jahren nur noch minimale oder gar keine Steuern zu zahlen brauchen. Im Jahr 2001 zahlten alle großen Firmen per saldo keinen einzigen Cent Körperschaftssteuer, erhielten im Gegenteil 426 Mio. Euro zurückerstattet. Gleichzeitig bedient der deutsche Staat die Interessen der Industrie mit Hilfe diverser Institutionen wie der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) oder der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) sowie mit beträchtlichen Fördermitteln. "Die Programme mit Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa reichen von Absicherungsgeschäften über die Vergabe zinsverbilligter Kredite bis hin zu Investitionszuschüssen", schreibt die Zeitschrift Wirtschaft im Wandel und bemerkt zudem: "Das Instrumentarium zur Förderung von Direktinvestitionen in Mittel- und Osteuropa zeichnet sich durch eine große Intransparenz aus."

Ebenso undurchsichtig funktioniert die Industrieförderung auf europäischer Ebene. Hier besitzt die europäische Industrie mit dem European Roundtable of Industrialists (ERT) eine machtvolle Lobby bei den Entscheidungsträgern der EU-Politik. Nahezu unbekannt, ist der 1983 gegründete ERT die wohl einflussreichste Interessengruppe in Europa: 45 Vorstandsvorsitzende europäischer Großkonzerne gehören dieser exklusiven Runde an. Wie der ERT, so steht auch das 1999 gegründete European Services Forum ESF, das die Interessen der mächtigsten Dienstleistungskonzerne vertritt, im direkten Austausch mit den Politikern der Europäischen Kommission. Weitere Marktöffnungen wie die der Wasserwirtschaft stehen ganz oben auf der Wunschliste von ERT und ESF und so verwundert es nicht, dass die Europäische Union einer der Hauptinteressierten an den im September in Mexiko stattfindenden GATS-Verhandlungen ist (GATS = General Agreement on Trade in Services). Der Einfluss speziell der europäischen Wasserkonzerne auf die EU-Handelspolitik ist eindeutig dokumentiert. Eine kanadische Organisation kommt zu dem Schluss: "Die Europäische Kommission hat eine aggressivere Position in der Frage der Liberalisierung von Wasserdienstleistungen übernommen als irgendein anderes Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO)." Die EU-Kommission fordert von 72 Ländern die Liberalisierung im Trinkwasserbereich, hält jedoch gleichzeitig ihre eigenen Wasserversorgungssysteme bisher aus den GATS-Verhandlungen heraus. Die sollen anscheinend unter den europäischen Konzernen aufgeteilt werden, so wie Lothar Späth sich das bei seiner "großen Privatisierungsanstrengung" vorstellt oder wie es auch Annette Fugmann-Heesing (SPD) für Berlin vorschlägt. Der Glaube Späths und Fugmann-Heesings reicht wie bei allen Mitgliedern der neoliberalen Glaubensgemeinschaft nicht über den schnöden Mammon hinaus und der lässt sich am bequemsten auf der Seite der Konzerne verdienen.

"Statistiken über Direktinvestitionen (DI) informieren über einen der wichtigsten Aspekte der Globalisierung. Direktinvestitionen sind eine Ergänzung oder Alternative zum grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsverkehr. (...)

2000 stammten 87% der DI-Zuflüsse in die Beitrittsländer aus den EU-Mitgliedstaaten. (...)

Unternehmen aus Deutschland, den Niederlanden und Frankreich haben in dem betrachteten Zeitraum am meisten DI-Kapital in den Beitrittsländern investiert. Die nachstehenden beiden Abbildungen geben Aufschluss über den Anteil, den die einzelnen EU-Länder im ersten und im letzten Jahr dieses Zeitraums an den DI-Zuflüssen in die Beitrittsländer hatten. (...)

Als Beitrittsländer werden die 13 Länder bezeichnet, die in den Prozess der EU-Erweiterung einbezogen sind: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, die Slowakische Republik, Slowenien, die Tschechische Republik, die Türkei, Ungarn und Zypern."

aus: Statistik kurz gefasst, Thema 2 - 24/2002; eurostat 2002; www.europa.eu.int

"Unter einer "ausländischen Direktinvestition" (ADI) versteht man eine grenzüberschreitende Investition, die von einer Unternehmung mit dem Ziel getätigt wird, Einfluss auf das Management einer Unternehmung in einem anderen Land zu gewinnen. ADI beinhalten im Allgemeinen eine langfristige Beziehung, die ein nachhaltiges Interesse des Investors an einem ausländischen Unternehmen widerspiegelt."
aus: Pressemitteilungen UNIC BONN, UNIC/385 2001