Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 297   Mai 2003

"My Home is my Castle"

Britische Armutsprogramme verfehlen ihr Ziel: Wesentliche Bevölkerungsteile bleiben unberücksichtigt

Elvira Vernes

In Westeuropa haben sich in der Stadtpolitik in den vergangenen Jahren bzw. Jahrzehnten sozialräumlich orientierte Ansätze durchgesetzt, die häufig unter der Überschrift Armutsbekämpfung daherkommen. Ob in Frankreich (Contrat de Ville, Grand Projet Urbain) oder im Großbritannien des New Deal unter Premierminister Tony Blair (Neighbourhood Regeneration Programmes), überall sind Programme aufgelegt worden, die sich auf die Quartiere konzentrieren, in denen nach Datenlage verhältnismäßig viele Arme, Arbeitslose, SozialhilfeempfängerInnen oder MigrantInnen konzentriert sind und/oder die eine schlechte Bausubstanz aufweisen. Vergleichsweise spät gibt es solche Projekte auch in der Bundesrepublik (Quartiersmanagement, Bund-Länder-Programm "Soziale Stadt"). Als besonders innovativ gilt es in diesen Projekten, dass sie städtebauliche Regeneration mit sozialen, ökonomischen, sicherheitspolitischen und kulturellen Fragestellungen und – neuerdings – mit Arbeitsverpflichtungen (Workfare) verknüpfen, um Ausgrenzungsprozesse (Exclusion) zu bekämpfen. Insbesondere in Großbritannien sind diese Programme in sehr ausdifferenzierter Weise entwickelt worden, wenngleich ihre Grundannahmen und Wirkungen durchaus kritisch reflektiert und Fragen danach gestellt werden, ob Armut oder die Armen bekämpft werden sollen. Im Kern geht es dabei immer um arme Mieter.

Vor wenigen Wochen hat nun der an der York University lehrende Roger Burrows im Auftrag der britischen "Joseph Rowntree Stiftung" eine umfassende Studie vorgelegt, die sich aus der Perspektive von (armen) Hausbesitzern kritisch mit diesen Programmen auseinandersetzt. Ausgangspunkt der Studie ist die Beobachtung, dass in den aktuellen Projekten und Programmen keine Verbindung zwischen Armut und Hausbesitz gesehen wird. Offenbar, weil angenommen wird, dass Hausbesitz geradezu naturwüchsig vor Armut schützt und entsprechend Eigentum als Wunderwaffe ideologisiert worden ist. So lag 1945 die Eigentumsquote noch bei 40%, stieg 1981 auf 56% an und erreichte 2002 eine Quote von 68% aller Haushalte in Großbritannien. Dass aber, so die Studie, Eigentum keineswegs vor Armut schützt, haben ihre Untersuchungen herausgefunden, die seit zwanzig Jahren durchgeführt werden: 50% aller Armen in Großbritannien sind Hausbesitzer.

Auf Grundlage des Poverty and Social Exclusion Survey (PSE) kommt die Studie zu beeindruckenden Ergebnissen. Der PSE bemisst seit 1983 Armut nach verschiedenen Kriterien: So wird Ausgrenzung (Exclusion) unter den Aspekten Verarmung, fehlende adäquate Einkommensressourcen, Arbeitsmarktbeteiligung, fehlendem Zugang zu (sozialen) Dienstleistungsangeboten und sozialer Isolation betrachtet. So sind in Hinblick auf Dienstleistungen etwa 5% aller Haushalte von Wasserversorgung, Gas und Elektrizität abgeschnitten und haben keinen Telefonanschluss.

Gleichzeitig ist in regelmäßigen Befragungen ein Index erstellt worden, der die zur Bewältigung des Alltags von den Befragten als notwendig erachteten Zugangsmöglichkeiten und Gegenstände auflistet. Insgesamt umfasst die Liste 54 Gegenstände und Aktivitäten. Dazu gehören "ein Bett für jeden", "Heizung", "zwei Essen am Tag", "Möglichkeiten zum Schulbesuch", aber auch "ein Urlaub im Jahr, der nicht zu Hause verbracht wird", die Möglichkeit, "defektes Mobiliar ersetzen" zu können, "CD-Spieler" oder "Videorecorder". Aus diesen Nennungen wurden dann die 35 ausgewählt, die von mehr als 50% der Befragten als unbedingt notwendig erachtet wurden. In einem zweiten Schritt wurde dann danach gefragt, ob diese notwendigen Dinge gewünscht bzw. nicht erreichbar bzw. bezahlbar waren. Deutlich wird insbesondere, dass auch soziale Gewohnheiten, Verpflichtungen und Interessen eine Rolle für die Befragten spielen.

(Die zum Beitrag hinzugehörende Tabelle wird in der Internetausgabe nicht abgebildet, die Red.)

Auf Grundlage dieser Daten ergibt sich zusammen mit der Einkommenssituation, wenn eine Person zwei dieser Dinge nicht zur Verfügung hat, der von der Stiftung entwickelte Armutsbegriff. Danach leben 25% der erwachsenen Bevölkerung in Armut, bewegen sich 2% in Armutsbereichen, sind 12% prinzipiell durch Armut gefährdet, während 61% (bisher) nicht von Armut betroffen sind.

Eigentum schützt nicht vor Armut

Betrachtet man die Armutsraten in Hinblick auf Wohneigentum, dann sind zwar lediglich 15% der Hausbesitzer arm, allerdings sind zusätzlich 17% derjenigen als arm zu betrachten, die noch ihre Raten für Eigentum abzahlen müssen. Im privaten Mietwohnungsmarkt liegen die Daten entsprechend bei über einem Drittel. Und im sozialen Wohnungsbau, der anders als in der Bundesrepublik lediglich an der Versorgung spezieller Zielgruppen orientiert ist, gelten mehr als 60% der Bevölkerung nach New Deal und "Drittem Weg" der britischen Sozialdemokratie als arm.

In absoluten Zahlen betrachtet die Studie knapp 9,5 Mio. britische Bürger als arm, weil sie sich keine adäquaten Wohnbedingungen leisten können. Nahezu 8 Mio. Menschen können sich eine oder mehrere der in der Tabelle angegebenen Notwendigkeiten nicht leisten, die von mehr als 50% der Bevölkerung als notwendig betrachtet werden. Fast 7,5 Mio. Menschen müssen auf regelmäßige soziale Kontakte verzichten, die von der Mehrheit der Bevölkerung als notwendig erachtet werden, weil sie dafür keine finanziellen Mittel zur Verfügung haben. Besonders betroffen sind davon Kinder, denn 2 Mio. haben keinen Zugang zu als notwendig erachteten Lebensbedingungen. Noch Besorgnis erregender ist darüber hinaus, dass es für mehr als 4 Mio. Briten an angemessener täglicher Ernährung fehlt.

Etwa 17% der Haushalte leben in Wohnungen, die nicht angemessenen beheizbar, frei von Feuchtigkeit oder in einem annehmbaren Zustand sind. 13% der Haushalte fehlen Güter wie Kühlschränke, Telefone oder Kleiderschränke, können defekte Elektrogeräte nicht reparieren lassen und fast 14% sind nicht in der Lage, Freunde zu besuchen oder an Festlichkeiten wie Hochzeiten teilzunehmen. Über ein Viertel (28 %) der Haushalte leben nach eigener Wahrnehmung in finanzieller Unsicherheit, weil sie weder Geld sparen, noch Versicherungen abschließen können.

Dabei hat sich die soziale Lage der Bevölkerung über die vergangenen 20 Jahre deutlich verschlechtert: Fehlten 1983 noch 14% aller Haushalte drei oder mehr der als notwendig erachteten Güter und Möglichkeiten, waren es 1990 bereits 21% und im Jahre 1999 über 24%.

Insbesondere zeigen die Daten, dass Wohnungen und Häuser von Eigentümern nicht in spezifischen Gebieten konzentriert sind, so dass diese Haushalte in den entsprechenden Statistiken auch nicht als arme Quartiere auftauchen können, denen ansonsten in den vergangenen Jahren so viel Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Daraus ergeben sich spezifische regionale Differenzen, die von der Studie besonders herausgestellt werden: Während im Norden und Süden Englands, im Großraum London und in Schottland das Verhältnis von armen Haushalten, die in Eigentum und in Mietwohnungen leben eher ausgeglichen bzw. der Anteil der armen Mieter höher ist, sind in den Midlands und in Wales, und dort vor allem in den eher ländlichen Regionen, die Verhältnisse umgekehrt.

Erstaunlich ist, dass mehr Familien mit Eigentum in Armut leben als Mieter, denn die Daten sprechen davon, dass 48% der armen Hausbesitzer Paare mit Kindern sind, während unter den armen Mietern der Anteil nur 26% beträgt. Alleinerziehende wohnen zu 25% zur Miete und zu 11% in Eigentum. Kinderlose Paare wohnen zu 19% zur Miete und zu 23% in Eigentum. 30% der armen Mieter leben allein, während dies im Eigentum nur 18% sind.1 Ebenso erstaunlich auch, dass etwa 14% der armen Hauseigentümer Angehörige der Black Community oder anderer ethnischer Minderheiten sind, während unter den Mietern nur 8% ethnischen Minderheiten angehören. Zwar sind Hauseigentümer weniger von Arbeitslosigkeit betroffen, aber immerhin 32% der Hauseigentümer sind arbeitslos, während es in Mietwohnungen 68% sind. Dabei sind die Hauseigentümer im Durchschnitt älter als die Mieter.

Wenig überraschend schließt die Studie aus diesen Ergebnissen, dass es dringend notwendig ist, sich von dem Automatismus zu trennen, Wohneigentum sei zwangsläufig mit dem Fehlen von Armut verbunden und bedürfe daher keiner weiteren Beachtung. Mehr noch, viel stärker müsse in Forschung und Politik das Verhältnis von Wohneigentum und Armutsrisiken in den Blick genommen werden. Insbesondere müsse sich die Politik fragen lassen, ob eine Förderpolitik angemessen ist, die lediglich 8% aller Wohnfördermittel für arme Eigentümer zur Verfügung stellt, die aber mittlerweile über 50% aller Armen stellen. Insbesondere müsse auch die sozialräumliche Förderlogik überprüft werden, denn sie verfehle systematisch die armen Hauseigentümer. Noch grundsätzlicher betont die Studie abschließend, dass eine veränderte Förderpolitik und selbst die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit keinen Beitrag zur Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung leisten könne, wenn nicht auch angemessene und für ein selbständiges Leben notwendige Löhne gezahlt werden.

1 Die zwei verglichenen Gruppen, arme Hausbesitzer und arme Mieter, bilden jeweils 100%.

Literatur:
- Burrows, Roger 2003: Poverty and Homeownership in Contemporary Britain. London: The Policy Press
- Walther, Uwe-Jens (Hrsg.) 2002: Soziale Stadt- Zwischenbilanzen. Opladen: Leske + Budrich