! Berliner MieterGemeinschaft - MieterEcho 297/ Mai 2003 - Im Schatten des Kriegs

Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 297   Mai 2003

Im Schatten des Kriegs

Das soziale Sicherungssystem steht unter Beschuss

Hermann Werle

Während auf internationalem Parkett Völker- und Menschenrecht mit Füßen getreten wird, forciert sich in Deutschland der Angriff auf den Sozialstaat. Unternehmerverbände und die rot-grüne Regierung blasen in das gleiche Horn: Das soziale Sicherungssystem der Bundesrepublik blockiere die wirtschaftliche Dynamik und müsse folglich abgebaut werden.

Beherrschende Themen in den Medien sind der Krieg gegen den Irak mit seinen humanitären und ökologischen Folgen und die weltweiten Demonstrationen gegen diese Barbarei. Mitten in die Reihen der Friedensbewegung in Deutschland hat sich die rot-grüne Führungsriege platziert, die – fast ist es schon vergessen – gegen Jugoslawien und Afghanistan weniger Skrupel hatte, ihre und die Interessen der westlichen Verbündeten mit Waffengewalt durchzusetzen. Das halbherzige "Nein" der Bundesregierung ist nicht einer neuartigen Humanität deutscher Außenpolitik geschuldet, sondern signalisiert lediglich die verschärften Widersprüche gegenüber dem Weltführungsanspruch der US-amerikanischen Eliten. Doch die Widersprüche verschärfen sich nicht nur im internationalen Bezugsrahmen. Durch das Kriegsgeschehen völlig in den Hintergrund gerutscht sind die massiven Angriffe auf das soziale Sicherungssystem in diesem Lande.

Sparen bei den Armen

Es war noch keine Zeit die unappetitlichen Hartz-Pläne zu verdauen, da wirft die rot-grüne Koalition mit der Zustimmung von CDU und FDP den lohnabhängigen Menschen bereits die nächsten Kröten in den Hals. "Mut zur Veränderung" bezeichnet Kanzler Schröder den Sozialabbau in seiner am 14.03.2003 gehaltenen Regierungserklärung, wobei "Alle Kräfte der Gesellschaft" ihren Beitrag für die Ankurbelung der Wirtschaft zu leisten hätten. "Alle Kräfte" sind nach Schröder Arbeitslose, Kranke und Rentner sowie die Beschäftigten aber keinesfalls die Unternehmen. Beifall erhielt der "Genosse der Bosse" dementsprechend von den Unternehmerverbänden, die Schröder politischen Mut attestierten, da mit Gegnern innerhalb der eigenen Fraktion zu rechnen sei. Davon ist bislang nichts zu spüren – Widerworte scheinen innerhalb der Regierungsparteien hart sanktioniert zu werden. Stärker sanktioniert soll auch das Heer der Arbeitslosen werden. Unabhängig von der Qualifizierung werden Arbeitslose zukünftig jede Arbeit an jedem Ort in der Bundesrepublik anzunehmen haben. Die Ablehnung einer Arbeit führt zu Sperrzeiten und Leistungskürzungen. Im Rahmen der Hartzschen Umstrukturierung der Arbeitsämter sind die Folgen und der eigentliche Sinn der Zwangsinstrumentarien bereits sichtbar geworden. Durch das Hartz-Konzept entstehen keine neuen Arbeitsplätze und somit sind der Vermittlung in den Arbeitsmarkt die gleichen engen Grenzen wie zuvor gesetzt. Clement, Gerster und Konsorten sind sich dessen wohl bewusst. Sie verfolgen in erster Linie auch nicht das Ziel der Senkung der Arbeitslosenzahlen, sondern wollen durch den massiven Druck auf die Arbeitslosen Kosten einsparen und Lohnkürzungen durchsetzen. "Das Einsparzauberwort heißt Sperrzeit", fassen Angestellte der Bundesanstalt für Arbeit ihre Erfahrungen zusammen. "Konkret bedeutet das, jede mögliche und unmögliche Gelegenheit zur Verhängung einer Sperrzeit wird genutzt. Es werden Hitlisten eingerichtet, mit dem Ziel zu schauen, wer in welcher Zeit wie viele Sperrzeiten verhängt. In der Arbeitsvermittlung verschärft sich der Umgangston mit den Arbeitslosen, in der Leistungsabteilung brechen die Kolleginnen und Kollegen unter der Flut von Leistungseinstellungen und Sperrzeitbescheiden zusammen."

Reaktionärer Systemwechsel

Schröders Regierungserklärung enthielt noch weitere soziale Grausamkeiten. So soll der Kündigungsschutz gelockert, die Leistungen der Krankenkassen beschränkt, das Rentenniveau gesenkt und die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt werden "und zwar einheitlich auf einer Höhe - auch das gilt es auszusprechen -, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird", so der Kanzler. Selbst konservative Wirtschaftsexperten begreifen Schröders Kurs als härteren Eingriff in das Sozialsystem als all seiner Vorgänger. Als einen reaktionären Systemwechsel charakterisiert die ver.di-Bezirksleitung in Herne die eingeleiteten Reformen: "Das seit Monaten anhaltende, propagandistische Sperrfeuer der Unternehmerverbände und führender Vertreter aus CDU/ CSU, FDP, aber auch aus Teilen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen markiert, unterstützt von einflussreichen Medienkonzernen, einen Strategiewechsel herrschender Eliten gegenüber den Gewerkschaften. Unsere Gegner wollen die Defensivposition der Gewerkschaften nutzen, um sie nachhaltig so in ihrer Durchsetzungsfähigkeit zu schwächen, dass ohne ernstzunehmenden Widerstand ein reaktionärer Systemwechsel gegen die abhängig Beschäftigten und die Erwerbslosen vollzogen werden kann. Es handelt sich historisch um den Versuch einer zweiten Restauration nach 1945. Das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes ist erheblich bedroht".

Innenpolitische Themen haben schon im Vorfeld des Kriegs in der Öffentlichkeit an Bedeutung verloren und laut Umfragen hat der Konfrontationskurs zur USA der rot-grünen Regierung Stimmenzuwächse beschert. Den Schatten des Kriegs und die Empörung darüber wissen die SPD-Strategen vortrefflich für ihren Frontalangriff auf den Sozialstaat zu nutzen.