Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 297   Mai 2003

Bundesweite Lobby für Gemeinwesenarbeit gegründet

"Die politische Programmatik der Sozialen Stadt ist unser Kernbereich"

Interview mit Frederick Groeger, Stellvertretender Vorsitzender der "Bundesarbeitsgemeinschaft Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit"

ME: In Gelnhausen ist kürzlich die Bundesarbeitsgemeinschaft Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit (BAG) gegründet worden. Könnten Sie kurz skizzieren, was diese BAG darstellt und welche Ziele sie verfolgt?

FG: Die BAG ist ein bundesweites Netzwerk. Nach über zweijähriger Vorarbeit wurde die BAG als Verein im November 2002 gegründet. Sie knüpft an die vorhandenen regionalen, landes- und bundesweiten Strukturen im Bereich Soziale Brennpunkte, Gemeinwesenarbeit und Stadtteilarbeit an. Die BAG fördert dabei die Weiterentwicklung von regionalen Netzwerkstrukturen. Wir verstehen uns als fachpolitische Lobby für Gemeinwesenarbeit in einer sozialen Stadtentwicklung. Stadtteilinitiativen, sozialraumbezogene Netzwerke und Ansätze zur Bürgerbeteiligung und -aktivierung brauchen eine kompetente Vertretung auch auf Bundesebene.

ME: Wer arbeitet in der BAG? Es sieht ja so aus, als seien sowohl kleinere Träger ebenso engagiert wie die großen aus der Wohlfahrtsbranche z. B. die Caritas und die Diakonie. Das ist ja durchaus eine nicht unkomplizierte Mischung, insbesondere unter zunehmend konkurrenten Bedingungen. Welche Potenziale sehen Sie in so einem Zusammengehen?

FG: Der Aufbau von Kooperationsstrukturen geschieht vor dem Hintergrund bereits beste-hender Erfahrungen auf regionaler Ebene, wie auf der Landes- und Bundesebene. Nicht zuletzt die Arbeit am und im Programm Soziale Stadt hat gezeigt, wie wichtig es ist kontinuierlich den Dialog auch verschieden orientierter Gruppierungen zu suchen. Als Mitglieder hat die BAG vor allem Verbünde und Vernetzungen von vor Ort arbeitenden Projekten und Initiativen. Die Zusammenarbeit mit den großen Trägern der freien Wohlfahrtspflege suchen wir u.a. in unserem Beirat. Gerade um Konkurrenzen abzubauen und überflüssige Parallelstrukturen zu vermeiden ist ein intensiver Dialog um Aufgaben und Zielsetzungen nötig.

ME: Es heißt in einer Presserklärung, die Gründung sei "eine schlüssige Reaktion auf die aktuellen Entwicklungen zur Gestaltung der Sozialen Stadt". Damit beziehen Sie sich auf das Bund-Länder-Programm Soziale Stadt, das auch im MieterEcho schon häufiger Gegenstand der Diskussion gewesen ist. Was meinen Sie mit "schlüssige Reaktion"?

FG: Sowohl die Gemeinschaftsinitiative Soziale Stadt, als auch der Stadtumbau in Ost und West und die Prozesse der Lokalen Agenda 21 stellen die kommunalpolitisch Verantwortlichen und die Akteure der sozialen Arbeit in von Ausgrenzung bedrohten Stadtteilen vor neue Aufgaben. Wer die sozialraumorientierte Vernetzung der Akteure fordert oder die Beteiligung der Betroffenen gewährleisten will, spricht damit Grundprinzipien der Gemeinwesenarbeit an. Wir halten eine Profilierung der vorhandenen und bewährten Ansätze von Gemeinwesenarbeit, Nachbarschaftsentwicklung, stadtteilorientierter sozialer Arbeit, lokaler Partnerschaften und lokaler Beschäftigungsförderung zur Weiterentwicklung des Quartiers- und Stadtteilmanagements für unerlässlich.

ME: Ihr Vorstandskollege Hartmut Fritz spricht davon, die Kommunen müssten "das Prinzip Gemeinwesenarbeit zur Basis des gemeinsamen Handelns machen". Ist denn aber nicht die Soziale Stadt gerade deshalb entstanden, weil offensichtlich die Gemeinwesenarbeit gescheitert ist oder sie gemessen an den, z.T. eigenen, Ansprüchen nicht den notwendigen Ertrag gebracht hat?

FG: Das sehe ich nicht so. Das Programm Soziale Stadt ist meines Erachtens entstanden, weil die vorhandenen und etablierten politischen Instrumente der Kommunen und des Staats offensichtlich zur Bewältigung der Probleme in benachteiligten Stadtteilen nicht mehr ausgereicht haben. Mit der Förderung nachbarschaftlicher Strukturen, der Vernetzung der lokalen Akteure und der Forderung nach Beteiligung der Stadtteilbewohner sind unter dem Label Quartiersmanagement (QM) viele Kernbereiche der Gemeinwesenarbeit wieder auf die politische Agenda gekommen, ohne dass dies im Einzelnen so genannt wurde.
Deshalb bringt uns auch der Streit um Etiketten und Urheberrechte nicht weiter. Die spezifische Kompetenz der Gemeinwesenarbeit ist weiterhin gefragt und deswegen ist eine Schärfung ihres Profils nötig, welches sicher in der Vergangenheit zu gering ausgeprägt war.

ME: Würden Sie also sagen, dass wir von einer Entwicklung – in Berlin etwa – von der Gemeinwesenarbeit über das Programm Behutsame Stadterneuerung zum QM sprechen sollten?

FG: So linear würde ich das nicht sehen wollen. In das QM gehen zwar auch die Erfahrungen der Behutsamen Stadterneuerung ein, aber da gibt es auch eine Menge Brüche. Die Problemlagen in den Stadtteilen haben sich verändert, z.T. haben sie sich erheblich verschärft und neue Ausgrenzungs- und Konfliktlinien haben sich gebildet. Wie eben angedeutet, wird manchmal vor lauter Neuem auch die bisherige Entwicklung vergessen und das Rad zum zweiten Mal erfunden.

ME: Wie würden Sie das in Hinblick auf die Frage, ob das QM Kind, Konkurrent oder Kopie der Behutsamen Stadterneuerung unter, sagen wir, neoliberal ausgerichteten Bedingungen ist, bewerten?

FG: Mir fällt es schwer dabei alles über einen Kamm zu scheren. Bundesweit zeigt sich, dass die konkrete Ausgestaltung, Arbeitsweise und Aufgabenstellung des QM doch sehr unterschiedlich ist. Die einzelnen Länder machen verschiedene Vorgaben und auch die kommunalen Spielräume sind sehr groß. Natürlich besteht in der derzeitigen Situation immer die Gefahr, dass durch Mitnahmeeffekte und Kürzungen in der sozialen Infrastruktur der Stadtteile unter dem Deckmantel des QM Alibistrukturen eingerichtet werden. Insgesamt ist aber der Aufbau von QM als Chance zu sehen, um lokale Kooperations- und Beteiligungsstrukturen aufzubauen, die den neoliberalen Bedingungen etwas entgegensetzen können.

ME: Die BAG macht sich zur Prämisse, dass "Entscheidungen über die Stadtteile in den Stadtteilen getroffen werden" müssen. Das hört sich gut an, aber Stadtteile, möglicherweise gerade die so genannten "benachteiligten Stadtquartiere" sind doch sehr heterogen zusammengesetzt. Wie gehen Sie mit der Gefahr um, dass es zu neuen Ausgrenzungsprozessen kommen kann, dass sich z.B. die Interessen von neu hinzuziehenden Mittelschichtsmietern und Eigentümern durchsetzen?

FG: Diese Gefahr besteht tatsächlich. Allerdings ist davon auszugehen, dass unter Bedingungen, bei denen nicht ‚moderiert’ und interveniert wird, die sozialen Prozesse im Selbstlauf die meiste Ausgrenzung produzieren werden. Gerade in Projekten der Gemeinwesenarbeit wurden langjährige Erfahrungen zur Beteiligung und Aktivierung ausgegrenzter Bevölkerungsteile gemacht und gesammelt. In der Stärkung der Gemeinwesenarbeit liegt die Chance begründet, neuen Ausgrenzungsprozessen im Zuge der möglichen Aufwertung von benachteiligten Stadtquartieren zu begegnen. Voraussetzung dafür ist allerdings ein Ernstnehmen jeglicher Artikulation von Interessen von Stadtteilbewohnern. Unter nicht transparenten Bedingungen setzt sich der/die Stärkere am einfachsten durch. Grundsätzlich besteht natürlich immer die Gefahr einer innerstädtischen Problemverschiebung, wenn in einzelne Stadtquartiere isoliert interveniert wird. Konzepte zur sozialen Wohnraumversorgung sind auf gesamtstädtischer Ebene anzusiedeln. Hier fehlen in vielen Kommunen die entsprechenden Ansätze.

ME: Wird man also von der BAG auch kritische politische Stellungnahmen zum Bund-Länder-Programm erwarten können, etwa wenn es um die Ausgrenzung von Randgruppen geht?

FG: Einfluss auf die Entwicklung der politischen Programmatik der Sozialen Stadt zu nehmen ist ein Kernbereich der Tätigkeit der BAG. Als neuer umfassender Politikansatz für integrierte Handlungskonzepte ist die Soziale Stadt ein wichtiges Feld, um die soziale Dimension der Stadtteilentwicklung voranzubringen. Die sich hier bietenden Möglichkeiten sollte man nicht unterschätzen. Für das Gelingen dieses Ansatzes ist es von elementarer Bedeutung, dass die angestrebten Aufwertungsentwicklungen nicht an den Interessen von armen und ausgegrenzten Bevölkerungsteilen vorbeigehen. Aktivierung ist keine Einbahnstraße: ohne sichtbare Verbesserung der Lebensbedingungen von Armen und von Ausgrenzung bedrohten oder betroffenen Bewohnern kann man von diesen auch kein Engagement erwarten.

ME: Herr Groeger, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führte Volker Eick