Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 296   März 2003

"Wir können auch anders ..."

Der Kampf um bezahlbaren Wohnraum in Kanada (Teil 1)

Volker Eick

Dass die Versorgung mit Wohnraum, insbesondere mit sozialem Wohnraum, nicht dem Markt überlassen werden kann, zeigt sich deutlich durch die Betrachtung der Wohnsituationen in anderen Ländern bzw. Großstädten. Nachdem bereits im letzten MieterEcho die Missstände des Wohnungmarkts in Dublin geschildert wurden, geht der Blick nun über den Atlantik nach Kanada.

In dem sehenswerten Dokumentarfilm "Bowling for Columbine" geht dessen Autor, Michael Moore, der Frage nach, warum sich signifikant mehr US-Amerikaner gegenseitig mit Schusswaffen umbringen, als dies andere Zeitgenossen in anderen Ländern tun, die etwa vergleichbare Waffengesetze und eine vergleichbare Zahl von Waffen in Privathaushalten haben. Lassen wir einmal beiseite, dass der Film – und das ist ihm in der Tat verschiedentlich angetragen, wenn nicht gar vorgeworfen worden – vorhandenen Anti-Amerikanismus unbedarfter europäischer Kinobesucher aufs Trefflichste bedient. Doch in dem Bemühen, aus vergleichender Perspektive das Massenmorden zu erklären – zwischen 10.000 und 19.000 Menschen jährlich haben sich in den vergangenen zehn Jahren gegenseitig in den USA erschossen –, wird aus dem nördlichen Nachbarstaat Kanada ein Paradies.

Ob er denn nicht wenigstens einmal einen Slum zu sehen bekommen könne, fragt Michael Moore in der Stadt Toronto sein Gegenüber aus der Stadtverwaltung und zeigt sodann Bilder einer backsteingebauten Sozialwohnungsbausiedlung mit großem Innenhof, Spielplatz und Spielgeräten, die im Vergleich zu Neukölln als luxuriöse Ausstattung gelten dürfen. Aber, ist das die soziale Wirklichkeit der Wohnungsversorgung in Kanada?

Aufstieg und Niedergang des sozialen Wohnungsbaus

Das Jahr 1964 wird allgemein als das entscheidende Jahr für den Aufstieg des sozialen Wohnungsbaus in Kanada angesehen, denn die damals verabschiedeten National Housing Act Amendments gelten "als der Wendepunkt der kanadischen Wohnungsbaugeschichte", wie dies Albert Rose, einer der renommiertesten Kenner des kanadischen Wohnungsmarkts und Professor an der University of Toronto, formulierte, weil sie "faktisch die meisten sozialen Leistungen des bis dahin geltenden Nationalen Wohnungsbaugesetzes neu schrieben" und mit einem Bauboom verbunden waren. Entsprechend stieg die Zahl von Sozialwohnungen von 12.000 Einheiten im Jahr 1964 auf über 600.000 im Jahr 1993, was dem Bau von jährlich etwa 20.000 Wohneinheiten entsprach. Angesichts von Bevölkerungswachstum und zunehmender Migration in einer prosperierenden Nationalökonomie – bei gleichzeitig steigender Einkommensungleichheit auf dem Arbeitsmarkt aber – war selbst das offensichtlich kein hinreichendes Wachstum in diesem Wohnungsmarktsegment, das wie kein anderes gerade einkommensärmeren Bevölkerungsschichten Unterkunft verschaffen sollte. Daher blieb die Frage der Wohnraumversorgung virulent und war über die Jahre stetiges Thema der Auseinandersetzung; nicht zuletzt in Hinblick auf die Frage, wer für die Kosten des sozialen Wohnungsbaus aufkommen sollte.

Noch 1973 wurde unter dem damaligen Premierminister, Pierre Trudeau, Wohnen als "soziales Recht" betrachtet: "Jeden Bürger unseres Landes in jedem Landesteil mit gutem Wohnraum zu vernünftigen Kosten" zu versorgen, "muss unsere Aufgabe, unsere Verpflichtung und unser Ziel sein", hieß es damals. Und selbst 1985 war noch davon die Rede, dass die Prinzipien der nationalen Wohnraumversorgung darauf gründeten, "landesweit allen Kanadiern angemessene Unterkunft zu bezahlbaren Preisen" zu ermöglichen. Hintergrund für diese Verlautbarungen und Beschwörungsformeln war die Tatsache, dass insbesondere bezahlbarer Wohnraum Mangelware blieb.

Rückzug des Nationalstaats

Paul Martin, damals noch konservativer Oppositionsführer, sprach entsprechend von einer "wachsenden Wohnungsversorgungskrise", die durch den Mangel an bezahlbarem Wohnraum den "Kreislauf der Armut" noch verstärkt würde, während die – 1990 noch sozialdemokratische – Regierung "dasitzt und nichts tut".

Im Jahr 1991 ging dann unter Finanzminister Paul Martin die konservative Regierung aus den Nationalwahlen siegreich hervor und trat u.a. mit dem Versprechen an, die Wohnungskrise zu beseitigen. Und tatsächlich handelte sie, indem sie eine Verfassungsänderung vorbereitete: "Die Nationalregierung Kanadas akzeptiert das Interesse der Provinzregierungen an juristischer Eigenständigkeit" und sei daher bereit, sich aus den Bereichen "Wohnraumversorgung, Kommunal- und Stadtpolitik, Tourismus, Naherholung, Forstwirtschaft und Bergbau" zurückzuziehen. Mit diesem Schachzug, den kanadischen Provinzen mehr Rechte einzuräumen, löste die Nationalregierung zwar nicht die Wohnungsfrage, schuf jedoch die Voraussetzungen dafür, dass sich der Nationalstaat aus dem sozialen Wohnungsbau zurückziehen konnte.

Der 1993 verabschiedete Bundeshaushalt schuf entsprechende Tatsachen: Beginnend mit dem darauf folgenden Jahr wurde der Bau sämtlicher Sozialwohnungen eingestellt und die Herauslösung von 175.000 Einheiten aus dem Bestand von etwa 600.000 Einheiten vorbereitet. Parallel wurde der Sozial- und Wohnungshaushalt weiter gekürzt, 1996 etwa wurde das Sparziel auf 7,4 Mrd. kanadische Dollar (4,5 Mrd. Euro) bis zum Jahre 2001 festgelegt, den Provinzen wurden nur noch so genannte Block Grants zugestanden, ein fixiertes Budget, aus dem sie alle sozialen Leistungen zu finanzieren hatten. Auch die Verantwortung für Sozialwohnungen wurde an sie übertragen, während parallel die Nationalregierung begann, sämtliche Subventionen für den Wohnungsbau auslaufen zu lassen.

Der aktuelle kanadische Wohnungsmarkt

Wie strukturiert sich der kanadische Wohnungsmarkt heute? Um sich ein aktuelles Bild zu machen, ist ein Blick in andere Länder – Michael Moore hat das in seinem Film sehr schön gezeigt – instruktiv: Kanada befindet sich Anfang des 21. Jahrhunderts unter den Ländern, die den sozialen Wohnungsbau und -bestand nahezu vollständig abgeschafft haben.

Während etwa in der Bundesrepublik der Eigentumsanteil am Wohnungsmarkt 41 % beträgt, sind es in Kanada 94 %. Der Mietwohnanteil liegt dort bei 5 %, in Deutschland bei 59 %, von denen derzeit noch 15 % zum sozialen Wohnungsbau gehören. Anders in Kanada, wo Sozialwohnungen das Gros eben jener 5 % Mietwohnungen ausmacht; 1 % des Wohnungsmarkts werden durch Kooperativen und Genossenschaften abgedeckt.

Dieser Trend hat im Ergebnis zu einer extremen Polarisierung auf dem Wohnungsmarkt geführt, den der an der University of Toronto lehrende David Hulchanski als "Dualismus der Diskriminierung" bezeichnet. Etwa 80 % des gesamten Wohnungsmarkts entfielen demnach auf Eigentümer, Mieter in den hochpreisigen Segmenten des Mietwohnungsmarkts und einige BewohnerInnen von Sozialwohnungen, die von Kooperativen betrieben werden.

Auf nationalstaatlicher Ebene wird hier der Wohnungsbau mit Steuervergünstigungen und Subventionen in Höhe von 5 % der Baukosten sowie niedrigen Versicherungsquoten vorangetrieben. In der Provinz Ontario erhalten beispielsweise die Käufer von Baugrund eine Steuervergünstigung und für Hausbesitzer wurde die zu entrichtende Eigentumssteuer um ein Drittel gekürzt.

Der zweite Teil des Wohnungsmarkts, die verbleibenden 20 %, besteht aus MieterInnen von Wohnungen des unteren Preissegments im privaten Wohnungsmarkt, wenigen Niedrigverdienern mit Eigentum, die vor allem in den ländlichen Regionen Kanadas wohnen, und den verbliebenen Sozialwohnungsnutzern.

Während die National- wie die Provinzregierung im ersten Teilsegment weiterhin eine Rolle spielen und auch aus Sicht der Bauindustrie dieser Wohnungsmarkt funktioniert, spielen im zweiten Bereich nicht mehr Subventionen und Anreize eine Rolle, sondern das, was Hulchanski "Stereotypen über die Armen" nennt: In dem Maße wie die Armen für ihre Lage selbst verantwortlich gemacht werden, in dem Maße wird sich auch der Druck auf sie verschärfen. Seit 1993 hat sich der Nationalstaat dieser Verantwortung vollständig entledigt, die Provinz Ontario beispielsweise folgte 1995. Seit 1996 muss vom Ende des sozialen Wohnungsbaus gesprochen werden.

Proteste und offensive Kampagnen

Diese Veränderungen sind jedoch nicht ohne Protest und Widerstand geblieben. Sie gehen dabei nicht unwesentlich auf eine starke Bewegung von Wohnungskooperativen zurück, die in Kanada seit Ende der 1960er Jahre existieren und eine starke Lobbystruktur haben aufbauen können. Ihnen gelang es zwischen 1968 und 2000, etwa 90.000 Wohneinheiten und damit 1 % des gesamten Wohnungsbestands zu errichten und auch selbst zu verwalten. Ihnen wird zugeschrieben, soziale Wohnraumversorgung ohne abwertende Stigmata der armen Bevölkerung gegenüber und vor allem bezahlbar zu ermöglichen. Sie gelten zudem als Beweis dafür, dass, wie es Hulchanski formuliert, "auch der durchschnittliche Kanadier seine Wohnungsangelegenheiten demokratisch und ohne Bevormundung regeln kann." Nicht zuletzt stellen die Kooperativen auch eine effektive Lobbyorganisation für diejenigen dar, die sich lediglich auf den benachteiligten und benachteiligenden Teil des Wohnungsmarkts beziehen können, und sie sind zudem eine entscheidende Unterstützung für die Wohnungslosen.

Mit dem Rückzug der Nationalregierung aus der Verantwortung für den Wohnungsbau, gerieten sie jedoch unter Druck, denn ihr wohnungspolitischer Erfolg ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass sie bisher von der Nationalregierung finanziell wie rechtlich gefördert wurden. Damit ist auch belegt, dass selbst eine starke Organisation im Bereich Wohnraumversorgung, zumindest in kapitalistischen Wohnungsmärkten, auf staatliche Unterstützung angewiesen bleibt.

Die Co-operative Housing Federation of Canada (CHF), sie vertritt auf Bundesebene die Interessen der Kooperativen, begann 1996, also als die Bundesregierung ankündigte sich vollständig aus dem sozialen Wohnungsbau zurückziehen zu wollen, ihren Protest zu organisieren. Die Mitglieder fürchteten um ihren Einfluss bei allen Wohnungsfragen, die sie bisher weitgehend selbstbestimmt treffen konnten und erste Vereinbarungen zwischen einigen Provinzen und den Bundesbehörden 1997 bestätigten sie in ihren Befürchtungen, denn von nun an bestimmten die Provinzen sowohl über die Kooperativen- und andere Non-profit Housing-Programme. Statt die Verantwortung für Wohnungsfragen an die Provinzen und Territories zu übergeben, bestand die CHF auf der Verantwortung des Nationalstaats. Die CHF forderte zu diesem Zweck die Bildung einer unabhängigen Agentur. Diese sollte als nicht-staatliches Gremium nicht nur weiterhin alle Angelegenheiten des nationalen Kooperativen-Wohnungsbauprogramms auf Bundesebene verwalten, sondern die CHF auch an diesem Gremium beteiligen.

Erste Erfolge

Eine breit angelegte Kampagne in den Provinzen British Columbia, Alberta, Manitoba, Ontario und auf den Prince Edward Islands (PEI) brachte 1998 dann den ersten Durchbruch: British Columbia legte sich in den Verhandlungen mit der Zentralregierung darauf fest, das die Kooperativen betreffende Wohnungsbauprogramm nicht zum Gegenstand von Verhandlungen zu machen. Noch im selben Jahr folgte Ontario und 1999 setzte sich die Kampagne auch in Alberta, British Columbia und den PEI durch. Die Bundesregierung musste so auch in diesen Provinzen auf eine Durchsetzung ihres Devolution Program, also auf die Übertragung aller Verantwortung an die unteren staatlichen Ebenen, verzichten – jedenfalls soweit es sich um die wohnungspolitischen Programme für Kooperativen handelte. Im Namen von Premierminister Jean Cretien war der zuständige Minister, David Collenette, zudem gezwungen, allen Provinzen und Territories, die eine entsprechende Vereinbarung mit der Zentralregierung schon geschlossen hatten, das Angebot zu machen, dass die Vereinbarungen annulliert werden könnten.

Parallel hatte die CHF weiter an der Entwicklung einer Agentur gearbeitet und Ende 2000 willigte die Regierung ein, Verhandlungen über eine solche Agentur aufzunehmen, wenn sich an diesen Verhandlungen auch die Provinzen beteiligen würden, die bereits Vereinbarungen mit der Zentralregierung unterzeichnet hätten. Diese willigten ein, so dass am 5.12.2000 die erste Runde der so genannten Bundes-Provinz-Kooperativen-Arbeitsgruppe zusammenkam, die seitdem in regelmäßigen Abständen tagt. Tatsächlich stellte sich in den Verhandlungen heraus, dass der Vorschlag der Kooperativen-Vertreter zur Grundlage für die Gespräche gemacht werden konnte, während gleichzeitig die Bundesregierung ein Gutachten zur Implementierung einer solchen Agentur in Auftrag gab. Beide Papiere wurden seitdem intensiv diskutiert, und am 17.12.2002 stimmte der zuständige Minister, David Collenette, der Einrichtung einer solchen Agentur grundsätzlich zu: Noch im Jahr 2003 soll sie ihre Arbeit aufnehmen.

In einer der nächsten Ausgaben des MieterEchos wird über die aktuellen Entwicklungen in Kanada berichtet werden, die Red.