Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 296  März 2003

Geschichte wird gemacht"

Eine Ausstellung schaut zurück auf 40 Jahre Kampf gegen die Kahlschlagsanierung rund um das Kottbusser Tor

Christoph Villinger

"Hinter brennenden Barrikaden mit Steinen in den Händen, als HausbesetzerInnen, als Musiker mit Gitarre oder als "Betroffene" der staatlichen Kahlschlagsanierung – die Menschen rund um das Kottbusser Tor machten in den letzten 40 Jahren Berliner Stadtgeschichte. Doch jetzt finden sie ihre Pflastersteine und Lederjacken, ihre Plakate und Flugblätter zur Eröffnung eines Mieterladens auf einmal in einer Ausstellung hinter den Glasvitrinen des Kreuzberg-Museums wieder.

Die Räumlichkeiten des Museums in der Adalbertstraße sind überfüllt, als Anfang Februar die Ausstellung "Geschichte wird gemacht. Berlin am Kottbusser Tor" eröffnet wird. Da stehen sie nun, die alten Straßenkämpfer und HausbesetzerInnen, die Galionsfigur des Widerstands der "Betroffenen" gegen die Kahlschlagsanierung und späterer Baustadtrat von Kreuzberg, Werner Orlowsky, und Gert Möbius, Bruder von Rio Reiser, beieinander und schauen sich fragend an: Sind sie jetzt Besucher oder schon Teil der Ausstellung? Die Konflikte, als deren Träger sie bekannt wurden, haben heute keine Sprengkraft mehr. So singen die Frauen des autonomen Chors "Judiths Krise" im 1. Stock ihre radikalen Lieder und gleichzeitig wirft der ehemalige Bürgermeister von Kreuzberg und jetzige Senator für Stadtentwicklung Peter Strieder (SPD) im 3. Stock mit großen Zahlen um sich: 6000 Wohnungen abgerissen, 5000 Wohnungen saniert und ebenfalls 5000 Wohnungen neu gebaut. Insgesamt 3 Mrd. DM steckte der Staat in den letzten 40 Jahren in Europas größtes Sanierungsgebiet.

"Leben zwischen Protestbewegungen und Stadtsanierung"

Zur Entlassung des Gebiets aus der Stadtsanierung gab es vor zwei Jahren 1 Mio. DM für den Quartiersfond zur freien Verfügung. Die BewohnerInnen entschieden, einen Teil des Gelds in diese Ausstellung über ihre "Heimat" zu stecken. Besonders wichtig war dabei für Martin Düspohl, Leiter des Kreuzberg-Museums, dass "die Geschichte nicht aus der Perspektive von Ausstellungsmachern dargestellt wird, sondern die BewohnerInnen selbst über ihr Leben zwischen Protestbewegungen und Stadtsanierung erzählen". Gleichzeitig fragten auswärtige BesucherInnen die MitarbeiterInnen des Museums immer wieder nach den Menschen und Ereignissen, die im kollektiven Gedächtnis der Republik rumoren: "Wo wohnte Rio Reiser in Kreuzberg?" oder "Findet man bei euch auch etwas zum 1. Mai?" Deshalb veröffentlichte der "Verein zur Erforschung der Geschichte Kreuzbergs" im vergangenen Jahr einen Aufruf. "Über 60 junge und ältere Menschen, deutscher und nicht-deutscher Herkunft, meldeten sich", erzählt Düspohl, die dann ehrenamtlich zur Realisierung der Ausstellung beitrugen. Mehr als ein Jahr haben sie gesammelt und recherchiert, Interviews geführt, fotografiert und Plakate eingescannt. Herausgekommen ist eine spannende Ausstellung über zwei Etagen. Schwerpunkt bildet im ersten Stock die "offizielle" Geschichte des Stadtteils. Ein riesiges Architektur-Modell des Gebiets von 1981 füllt fast das ganze Stockwerk aus. Zu den Fotos der Fassaden von damals erzählen die BewohnerInnen der Häuser in Interviews von den Veränderungen. Ausführlich werden die verschiedenen Phasen der Kämpfe der BewohnerInnen gegen die staatliche Stadtsanierung beleuchtet. Vom Kampf gegen das Autobahnkreuz auf dem Oranienplatz bis hin zu den verschiedenen Fraktionen von HausbesetzerInnen 1981 ist die ganze Bandbreite der Positionen zu finden und sachlich ausgewogen dargestellt. Doch je näher man an heute kommt, desto flacher wird die Geschichtsschreibung. Wollte jemand in Kreuzberg ‚zurück in die Normalität’? Ist das Quartiersmanagement die Quintessenz all dieser Kämpfe? War da nicht etwas ganz anders gemeint? Im zweiten Stock steht die Entwicklung von Rio Reiser und seinen Brüdern im Zentrum des Raums. Wie sie 1968 in der Oranienstraße mit "Hoffmanns Comic Theater" begannen, später die Band "Ton Steine Scherben" gründeten und 1971 zur Besetzung des "Georg-von-Rauch-Hauses" am Mariannenplatz aufriefen. Mit "Agitprop" versuchten sie den Arbeiterjugendlichen aus dem Kiez revolutionäres Bewusstsein zu verleihen. In einem schwarzen Kubus kann man zu Dias von revolutionären Bewegungen aus aller Welt Musik der "Scherben" hören und von scheinbar besseren Zeiten träumen. Hinter einer Glasscheibe liegt die Totenmaske von Rio Reiser, der Kreuzberg 1975 genervt in Richtung Schleswig-Holstein verlies und dort 1996 starb.

Identitäten in der bunten Vielfalt des Quartiers

Das "Umbruch-Bildarchiv" zeigt Fotos und Plakate der wechselvollen Geschichte des 1. Mai im Stadtteil. Selbst für autonome Ohren völlig korrekt heißt es im Text zur Vitrine mit den Pflastersteinen: "An den Plünderungen 1987 beteiligen sich auch ,normale’ Kreuzberger von der Oma bis zum türkischen Familienvater. Rund um die brennenden Barrikaden tobt ein kollektives Volksfest." Doch wer versteht dies heute noch? Mühsam versucht eine Museumsführerin einer polnischen Abiturientenklasse den Kreuzberger 1. Mai zu erklären.

Andere Schwierigkeiten bereitete den Ausstellungsmachern die Einbeziehung der überwiegend arabischstämmigen Bevölkerung in den Hochhäusern südlich des Kottbusser Tors. Dies gelang nur ansatzweise, berichtet die Museumsmitarbeiterin Ulrike Treziak. "Sie erzählen ganz andere Dinge, als wir erwarten." Mit blumigen Worten beschreiben sie die Pflanzen auf ihren Balkonen, die Sanierungsgeschichte interessiert sie überhaupt nicht. "Ihre Geschichten sind Ornamente, weniger Abbildungen ihres Lebens wie bei den Deutschen", sagt Treziak. Doch schließlich hatte die Fotografin Isabella Scheel die richtige Idee. Sie bot an, sie in ihren Wohnzimmern zu fotografieren, und voller Stolz über das Erreichte präsentierten sie sich vor der Kamera.Überhaupt näherten sich viele der AusstellungsmacherInnen ihrem Wohngebiet mit dem Fotoapparat. Monatelang fotografierten Valerie Kroener und Lucas Nagel die Drogenszene am Kottbusser Tor. Andere fotografierten die Kneipen des Stadtteils, die Geschichte eines Selbsthilfehauses oder machten Panoramafotos. Wieder andere erzählen die Geschichte des Arbeitersportvereins "Lurich 02".So ist die Ausstellung voll mit den verschiedensten Annäherungen der BewohnerInnen an ihren Stadtteil. Die bunte Vielfalt des Quartiers steht scheinbar konfliktfrei nebeneinander. Durch das "Festhalten" seiner eigenen Geschichte vergewissert man sich seiner selbst und stellt sich doch gleichzeitig ins Indianermuseum. Da die Stadtsanierung als zentraler Konflikt vorbei ist, werden die einst als "Anti-Berliner" Bekämpften jetzt wieder eingemeindet. So betont Martin Düspohl, dass weder die Hausbesetzer noch der 1. Mai die bürgerliche Gesellschaft auf den Kopf stellen konnten. "Vielmehr", so Düspohl, "transportierten sie urbürgerliche Ideale wie Verantwortung fürs Gemeinwesen und die Idee der Selbstorganisation zur gemeinsamen Interessenvertretung." Deshalb überrascht es auch nicht, dass die Ausstellung von den heutigen Konflikten so gut wie nichts erzählt. Zum Beispiel dem Ausverkauf der Häuser aus städtischem Besitz an private Hausbesitzer. Aber bei einem Ausstellungsrundgang kann man auf einem Video die Kreuzberger Band "MDK" schon Anfang der 80er Jahre singen hören: "Was ist uns geblieben, außer zu kämpfen und zu lieben?"

Geöffnet ist die Ausstellung im Kreuzberg-Museum (Adalbertstraße 95a) mittwochs bis sonntags von 12 bis 18 Uhr.Weitere Informationen unter www.kreuzbergmuseum.de