Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 296  März 2003

"Prenzlauer Bronx" de Luxe

Wohin steuert der Helmholtzplatz?

Michael Heimer

Michael Heimer wurde 1972 in Hamburg geboren und lebt seit 1992 in Berlin. Er ist Diplom-Sozialwissenschaftler (Themenschwerpunkte: Stadtsoziologie und Innenpolitik) und war viele Jahre in verschiedenen Stadtteilinitiativen in Prenzlauer Berg aktiv.

Der Helmholtzplatz "im" Prenzlauer Berg ist ein "hipper" Ort. Ein Ort im Wandel. Lifestyle-Magazine küren ihn zum Highlight und unbedingtem "Muss" einer Kneipentour im Nordosten der Stadt: Coole Bars, aufgeregt-sympathische Menschen, urbaner Erlebnisraum für Macher von heute und Pioniere der Entwicklung von morgen.

Das freilich war nicht immer so: Bis vor wenigen Jahren diagnostizierten Experten hier Verfallserscheinungen und Abwertungstendenzen. Der Helmholtzplatz konterkarierte das Marketing-Bild vom Stadtbezirk Prenzlauer Berg als der Verkörperung des "Neuen Berlins", jedenfalls was die Gründerzeitviertel anbelangt. Der Helmholtzplatz trotzte der Entwicklung des Nachbarkiezes Kollwitzplatz, wo Aufwertungs- und Gentrifizierungsprozesse bereits früh in den 90er Jahren ihre grellen Blüten trieben. So hielt sich jenseits der "Demarkationslinie" Danziger (damals noch: Dimitroff-) Straße ein Refugium für all diejenigen, die der rasanten ökonomischen und städtebaulichen Entwicklung nicht folgen konnten oder wollten.

Diese Konzentration von "Armen", "Alten" und "Andersdenkenden" wurzelte noch in der früheren DDR und einer quasi ostspezifischen Form von sozialer Segregation in innerstädtischen Altbauquartieren. Angesichts vergleichsweise erschwinglicher Mieten und der Vergabe bzw. "Inbesitznahme" (plus späteren Legalisierung) leerstehender Wohnungen und Gewerberäume setzte sich dieser Trend über die Wende hinaus fort. Ergebnis waren eine veritable Kneipen- und Kulturszene mit zumindest einem Hauch von Dissidenz und (neben sich stetig vermehrenden Studenten) einem alles in allem in seiner Erscheinung und in seinem Verhalten eher "rustikalen" Bewohnertyp.

Verdacht der Verslumung ...

Schon machte der Ausdruck von der "Prenzlauer Bronx" die Runde, so etwa im Lokalteil einer auflagenstarken Berliner Tageszeitung. Sinnbildliches Beispiel: die Trinkerszene auf dem liebevoll "Helmi" genannten Helmholtzplatz. Entgegen der Kritik von Experten vor Ort wollten Politiker, Sachverständige und Medienbeobachter auch in den späten 90er Jahren am Helmholtzplatz nur Abwertungs- und Verslumungstendenzen erkennen. Zu erwähnen ist hier insbesondere das Gutachten zur "Sozialorientierten Stadtentwicklung" (sog. "Häußermann-Gutachten") vom April 1998, das maßgeblich für die Implementierung des Berliner Quartiersmanagements war. Dabei ist offenkundig, dass bereits zu diesem Zeitpunkt angesichts der umfangreichen Erneuerung der Bausubstanz, des Bevölkerungswandels und einer Veränderung der Gewerbestruktur zumindest von einem dualen Prozess der Auf- und Abwertung die Rede hätte sein und bei den Maßnahmen zur Quartiersentwicklung berücksichtigt werden müssen.

Bezirk und Multifunktionsträger S.T.E.R.N. GmbH - seit dem Frühjahr 1999 Sanierungsbeauftragter und Quartiersmanager für das Gebiet Helmholtzplatz zugleich – verfolgten indes eine andere Politik. Ihr Fokus lag und liegt auf Maßnahmen zur Gewerbeentwicklung, Wohnumfeldverbesserung und Gebietsattraktivierung. Davon zeugen medienwirksame Aktionen gegen Hundekot ("Die Schliemannstraße ist Berlins Hundeklo", sagte Heidrun Hiller vom Quartiersmanagement. "Vor allem Restaurantbesitzer und Geschäftsleute leiden darunter. So ein Haufen vor der Tür ist wenig geschäftsfördernd." – Berliner Zeitung vom 9.8.2002) oder beispielsweise die millionenschwere Sanierung und Parzellierung des Helmholtzplatzes mit der anschließenden Kampagne zur Ausgrenzung und Vertreibung der Trinker, Punks und Obdachlosen, die so gar nicht mehr zur vorbestimmten Nutzung des "neuen Helmis" passen wollten (vgl. hierzu auch MieterEcho Nr. 286 und Nr. 288).

... in exklusiver Wohnlage?

Mit derlei einseitigen Maßnahmen zur Gebietsstabilisierung ist ein Schutz des - v.a. ökonomisch - ressourcenschwächsten Bewohnerklientels nicht nur nicht vorgesehen, sondern mit der Fokussierung auf vermeintlich abwertungspräventive Maßnahmen wird eine weitere Aufwertung des Gebiets unmittelbar stimuliert. "Die Yuppies kommen", titelt man in der Hauptstadtpresse (vgl. etwa Der Tagesspiegel vom 04.6.2002). Dabei war die Stadterneuerung unter dem Druck von Bewohnerinitiativen und Kommunalparlament (BVV) bereits dahin getrieben worden, wenigstens ansatzweise Verdrängungstendenzen entgegenzuwirken und mit Genehmigungsgeboten eine bauliche bzw. soziale Aufwertung zumindest im Luxusbereich einzudämmen. Doch am Helmholtzplatz finden sich heute Luxus-Lofts (z.B. 100 qm für 1279 Euro); auch ist es seit Jahren ein offenes Geheimnis, dass bei Neuvermietungen in zahlreichen Fällen mittels "freiwilliger" Übereinkünfte zwischen Vermietern und Mietern, die für begehrten Wohnraum in attraktiver Lage auch gerne etwas tiefer in die Tasche greifen, die im Sanierungsgebiet geltenden Mietobergrenzen faktisch außer Kraft gesetzt werden. Eine Untersuchung der Gewerbestruktur, ein lange Zeit unterbewertetes Thema in der Stadterneuerung, wäre in diesem Kontext nun von besonderem Interesse. Denn Veränderungen in der Gewerbestruktur sind zugleich als ein Indikator für veränderte Nachfragestrukturen und Lebensstile im Quartier wie auch als ein Motor der Gebietsentwicklung insgesamt zu begreifen.

Wo gewohnt wird, wird auch konsumiert

Laut Aussage des Gebietsbeauftragten für den Helmholtzplatz, Heinz Lochner, liegt dem Quartiersmanager und Sanierungsbeauftragten S.T.E.R.N. keinerlei Übersicht über die Gewerbeentwicklung aus jüngerer Zeit vor. Dies ist erstaunlich, denn die Förderung des Gewerbes liegt ausdrücklich in ihren Aufgabenstellungen und wird, nicht zuletzt seit der Einsetzung der S.T.E.R.N. als Quartiersmanager, aktiv betrieben. Dahingegen wurde vom Autor im Spätsommer 2002 eine Untersuchung auf Grundlage der in den Jahren 1992 und 1998 von der Forschungsstelle für den Handel Berlin (FfH) und dem Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik (IfS) erstellten Gewerbestudien für das Sanierungsgebiet Helmholtzplatz durchgeführt. Da das Interesse aus stadtsoziologischer Perspektive ein anderes als das der Industrie- und Handelskammer ist, wurde die Gewerbeklassifizierung neu geordnet. Die vorliegenden Datensätze aus den Erhebungsjahren 1992, 1997 und 2002 wurden anhand der Kategorien "Handwerk", "Einzelhandel periodisch", "Einzelhandel aperiodisch", "Dienstleistungen" und "Gastronomie" systematisiert. Unter "periodischen" Bedarf fallen Lebensmittelgeschäfte, Bäckereien, Obst-/Gemüseläden, Getränkeläden, Drogerien und Apotheken, unter "aperiodischen" Bedarf alle übrigen Non-Food-Waren. Schon bei der Zählung fiel als qualitatives Merkmal eine Konzentration von hochwertigen Dienstleistungen, Einzelhandel und Gastronomie im Kerngebiet rund um den Helmholtzplatz ins Auge, während die das Quartier eingrenzenden Straßen verstärkten Leerstand aufwiesen. Dieser Eindruck bestätigte sich in der Auswertung.

Die Zahl der Gewerbeeinheiten im Sanierungsgebiet Helmholtzplatz hat sich von 438 (1992) über 545 (1997) auf 623 im Jahr 2002 erhöht. In absoluten Zahlen betrachtet ist das Handwerk rückläufig und sank in den Zeiträumen 1992 bis 1997 um 5 % und 1997 bis 2002 nochmals um 8 %. Dagegen stieg der periodische Einzelhandel von 60 Betrieben im Jahr 1992 auf 65 im Jahr 2002 kontinuierlich leicht an. Signifikant rückläufig der aperiodische Einzelhandel: nach einer Steigerung bis ins Jahr 1997 sank die Zahl der Läden seither um 17 % und liegt damit unter dem Niveau von 1992. Dies dürfte insbesondere auf die Konkurrenz durch Shopping-Center im Einzugsbereich zurückzuführen sein.

Angebot: Wein statt Wirsing

Astronomisch sind die Zuwächse für Dienstleistungen und Gastronomie. Während der Dienstleistungsbereich um rund 150 % zwischen 1992 und 2002 wuchs, verbuchte die Gastronomie gar einen Anstieg um annährend 200 %. Dies ist insbesondere von Bedeutung, wenn man sich die Gewichtung der Gewerbe vor Augen führt. Bis 1997 war der Einzelhandelssektor die dominierende Branche im Gebiet und machte rund die Hälfte aller Betriebe im Quartier aus. Inzwischen ist sein Anteil auf etwas mehr als ein Drittel gesunken, während Gastronomie und Dienstleistungen mit jeweils rund einem Viertel mehr als 50 % des Gewerbes ausmachen.

Dieser Zuwachs und die Verschiebung der Gewichtung sind jedoch nicht allein aus direkten Branchenwechseln abzuleiten ("Cocktailbar übernimmt Kurzwarenladen"), sondern ebenfalls aus Neubautätigkeit (oftmals sind regelrechte Dienstleistungskomplexe entstanden) und vor allem aus der Beseitigung von Leerstand, der vor allem im "LSD-Kiez" (Lychener-Schliemann-Dunckerstraße) und hier insbesondere der Lychener Straße sehr hoch war.

Betrachtet man diese Entwicklung etwas eingehender, so führt der "Kneipenboom" in einzelnen Untersuchungseinheiten (die Untersuchungen wurden straßenweise erhoben) zu Spitzenwerten von bis zu 40 % der jeweiligen Betriebe. Der Extremwert wurde mit 40,6 % in der Lychener Straße gemessen. In nur einer von 20 weiteren Straßen im Sanierungsgebiet sind mit 28 Bars und Restaurants 18,1 % aller Gastronomiebetriebe am Helmholtzplatz konzentriert (auf die Plätze folgen Raumerstraße und Pappelallee). Tendenz: steigend. Soeben wurde ein neuer Club ("Hierher soll nicht nur der Elektro- oder Rockfreak kommen, sondern auch der Galerieschnösel, der sich ein Konzert anguckt" - Mitbetreiber G. Hotz in der Berliner Zeitung vom 8.1.2003) mit Förderung des Quartiermanagements aus der Taufe gehoben.

Raum für unterschiedliche Lebensstile

Angesichts dieser Entwicklung ist eine Reduzierung der Nutzungsvielfalt bei partiell monostruktureller Nutzung durch gastronomische Einrichtungen zu konstatieren. Dabei gruppieren sich Einrichtungen mit vergleichsweise hochpreisigen Angeboten in der unmittelbaren Nachbarschaft zum Helmholtzplatz, ebenso Anwaltsbüros und Einzelhandelsgeschäfte, die von Angebot und Optik auf neue Lebensstilgruppen im Kiez schließen lassen. Die Attraktivität des Quartiers Helmholtzplatz als Wohn- und Erlebnisort ist hoch und wird den Gebrauchswert des Viertels wie auch das Mietniveau für Wohnraum und Gewerbe weiter verändern. Noch kann am Helmholtzplatz von kleinteiligen Auf- und Abwertungsprozessen ( oder zutreffender: von Aufwertung und Stagnation) gesprochen werden. Während in der Schliemannstraße in einem Haus mit maroder Bausubstanz eine Obdachloseninitiative Quartier bezogen hat, hält nur wenige fünfzig Meter weiter zwischen Luxusapartment und Cocktail-Lounge die Schickeria Hof.

Aber: Während das Schlürfen kühler Caipirinhas auf dem Kneipengestühl am Helmholtzplatz geradezu en vogue ist, kann der Verzehr lauwarmen Dosenbiers auf dem Helmi – vorausgesetzt man fällt ins polizeiliche Raster des "Störers" – leicht zur unfreiwilligen Bekanntschaft mit der Direktionshundertschaft und im wahrsten Sinne des Wortes zum "Platzverweis" führen. Und stören tut derzeit alles, was die Atmosphäre für Quartiersmanager, Gewerbetreibende, Hausbesitzer, Touristen und Neubewohner am emporstrebenden Helmholtzplatz negativ beeinflussen könnte. Der Helmholtzplatz: ein domestizierter urbaner Erlebnisraum. Verdrängung ist das Wesen seines Wandels, Toleranz und ein zumindest gleichberechtigtes Nebeneinander sind dagegen Fremdworte.