Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 295/ 2003

Interessenabwägung bei Eigenbedarf

Wird einem Mieter wegen der auf die Mietsache getätigten Aufwendungen ein Mietnachlass für eine bestimmte Zeit gewährt, so ist der Wert dieses Mietnachlasses bei der Interessenabwägung einer Eigenbedarfskündigung maßgeblich zu berücksichtigen. Ein Verstoß gegen dieses Abwägungsgebot führt zur Verfassungswidrigkeit des Berufungsurteils.
Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Beschluss vom 16. Mai 2002
- VerfGH 124/01, 124 A/01 -

Die Vermieterin war eine aus 17 Personen bestehende Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) und hatte das gehörende Grundstück im Jahre 1995 von zwei Voreigentümerinnen, von denen eine die Mutter des einen Mieters war, gekauft. Die Mieter hatten die streitgegenständliche Wohnung im Februar 1994 von den Voreigentümerinnen zu einer deutlich unter dem ortsüblichen Mietzins liegenden Bruttokaltmiete gemietet. In dem Mietvertrag war unter anderem vereinbart, dass die Miete bis zum 1.7.2004 nicht erhöht werden dürfe und die Mieter darüber hinaus einen Anspruch auf Erstattung des Zeitwertes der von ihnen vorgenommen Modernisierungsmaßnahmen haben sollen. Die vereinbarte Wohnungsmiete und der Ausschluss deren Erhöhung bis zum Juli 2004 war Bestandteil einer "vorweggenommen Erbfolgeregelung" in der Familie des einen Mieters und stellte einen Ausgleich dafür dar, dass dessen Bruder ein Grundstück übereignet worden war.

Die Mieter hatten die Wohnung vor Einzug entsprechend der Vereinbarung modernisiert und darüber hinaus sämtliche elektrische Leitungen sowie die Be- und Entwässerungsleitungen erneuert. Hierfür hatten sie Kosten in Höhe von ca. 80.000 DM aufgewandt.

Die mit dem Kauf des Grundstücks in den Mietvertrag eingetretene Vermieterin (GbR) kündigte das Mietverhältnis zum 31. Mai 2000 wegen Eigenbedarfs ihres damals geschäftsführenden Gesellschafters, Rechtsanwalt L. Dieser begründete den Eigenbedarf im Wesentlichen damit, dass er seit 1989 im Wedding in einer beengten Hinterhauswohnung wohne, die von der Ausstattung her einer Arbeiterwohnung aus dem 19. Jahrhundert entspreche. Der geschäftsführende Gesellschafter Rechtsanwalt L. wolle seine Wohnung unter anderem auch deshalb aufgeben, weil diese in dem Haus liege, in der sich auch seine Anwaltskanzlei befinde und er aus diesem Grunde häufig außerhalb seiner Sprechzeiten von den Mandanten in seiner Privatwohnung kontaktiert werde.

Die Mieter traten dem Räumungsbegehren mit dem Argument entgegen, bei dem Abschluss des Mietvertrags habe es sich um eine vorweggenommene Erbschaftsregelung gehandelt. Der den Eigenbedarf geltend machende Rechtsanwalt L. sei zuvor der Steuerberater einer der früheren Eigentümerinnen des Grundstücks (der Mutter des Mieters) gewesen und habe diese bewogen, das Haus an ihn und weitere 13 Gesellschafter zu veräußern. Darüber hinaus habe er den Kaufpreis unter Berufung auf das bestehende Mietverhältnis und die dafür zu zahlende sehr niedrige Miete um 50.000 DM herunter gehandelt. Er habe der Mutter bei Kaufvertragsabschluss versichert, dass es sich für die Käufer ausschließlich um eine Geldanlage handele und keiner der Gesellschafter den Einzug in eine der Wohnungen des Hauses anstrebe. Rechtsanwalt L. habe bei den Voreigentümerinnen damals eine besondere Vertrauensstellung eingenommen, so dass man seinen Angaben vertraut habe, ohne sich vertraglich abzusichern. Die Mieter vertraten die Ansicht, die Vereinbarung der sehr niedrigen Festmiete beinhalte konkludent auch den Verzicht auf eine ordentliche Kündigung. Entsprechendes gelte für den oben genannten Kaufpreisnachlass von 50.000 DM.

Das Amtsgericht hat die Klage der Vermieter abgewiesen. Er wies in seinem Urteil darauf hin, dass der Umzugswunsch des Rechtsanwalt L. nur schwer nachvollziehbar sei. Es sei zwar verständlich, dass er eine unzulängliche Unterkunft aufgeben und seine Freizeit künftig fern der eigenen Anwaltskanzlei verbringen wolle, unverständlich sei jedoch, dass Rechtsanwalt L. gerade in ein von ihm verwaltetes Haus ziehen wolle, wo eine Mehrzahl der Mieter und Mitbewohner eine ablehnende bis feindliche Haltung gegenüber Rechtsanwalt L. angenommen habe. Auf die Entscheidung komme es jedoch nicht an, da der geschäftsführende Gesellschafter der Vermieterin seinem Wohnungsbedarf auch durch Einzug in die unter der Wohnung der Mieter liegende, derzeit gewerblich genutzte Wohnung decken könnte. Hierzu sei er auch verpflichtet. Das Amtsgericht wies darauf hin, dass von einem Vermieter verlangt werden könne, dass er in gewissem Umfang einen sich abzeichnenden Eigenbedarf vorausschauend berücksichtige. Nach Ansicht des Amtsgerichts wäre es Rechtsanwalt L. daher möglich gewesen, bereits im Jahre 1999 den nunmehr geltend gemachten Eigenbedarf zu erkennen und durch Einzug in die damals zur Verfügung stehende - nunmehr gewerblich umgebaute - Wohnung zu berücksichtigen.

Gegen dieses Urteil legte die Vermieterin (GbR) Berufung beim Landgericht Berlin ein. Sie vertrat insbesondere die Ansicht, dass die unter der Wohnung der Mieter liegende Wohnung einerseits mit 190 qm viel zu groß sei und andererseits ihr Umbau zu gewerblichen Zwecken bereits im Jahre 1996 begonnen habe. Es sei einem Vermieter nicht zuzumuten, einen künftigen Eigenbedarf über vier Jahre im Voraus hinaus zu erkennen und zu planen.

Das Landgericht hob das Urteil des Amtsgerichts auf und verurteilte die Mieter zur Räumung der Wohnung. Es führte in seinem Urteil aus, dem Mietvertrag könne ein Verzicht auf das Kündigungsrecht nicht entnommen werden. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass beim Erwerb des Hauses der Kaufpreis im Hinblick auf das streitgegenständliche Mietverhältnis um 50.000 DM reduziert worden sei. Entsprechendes gelte für die mündlichen Äußerungen des geschäftsführenden Gesellschafters der Klägerin Rechtsanwalt L. in denen dieser versichert hatte, keiner der Gesellschafter plane den Einzug in eine der Wohnungen. Die Tatsache, dass in den Kaufvertrag kein Kündigungsverzicht aufgenommen wurde, gehe daher zu Lasten der Mieter. Im Übrigen wies das Landgericht Berlin darauf hin, dass die Eigenbedarfskündigung nicht bereits deshalb rechtsmissbräuchlich gewesen sei, weil eine andere Wohnung zur Verfügung gestanden habe. Denn diese Wohnung sei gewerblich genutzt und insoweit auch als Gewerberaum "gewidmet" gewesen. Die Vermieterin war nach Ansicht des

Landgerichts Berlin nicht verpflichtet, eine Umwidmung zu Wohnraum vorzunehmen. Insbesondere sei zu berücksichtigen, dass mit der Gewerbewohnung ein deutlich höherer Mietzins erzielt werden könne, so dass der Wunsch der Vermieterin, diese Wohnung nicht zu Wohnzwecken zu vermieten, vernünftig und nachvollziehbar sei.

In einer abschließenden Interessenabwägung stellte das Landgericht Berlin fest, dass eine soziale Härte zu Lasten der Mieter nicht festzustellen sei. Er wies darauf hin, dass die bei Einzug erheblichen Investitionen der Mieter auf Grund der Vereinbarungen im Mietvertrag vom jeweiligen Vermieter beim Auszug zu entschädigen sind.

Gegen das Räumungsurteil legten die Mieter Verfassungsbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin ein. Der Verfassungsgerichtshof Berlin hat das Urteil des Landgerichts Berlin wegen Verletzung der Grundrechte der Mieter aus Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 der Verfassung von Berlin aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Berlin zurückverwiesen. Der Verfassungsgerichtshof Berlin wies in seinem Beschluss darauf hin, dass die zivilrechtliche Frage, ob auf Grund der besonderen Umstände, die zum Abschluss des Mietvertrages geführt hätten, eine Kündigung des vertragstreuen Mieters überhaupt möglich gewesen sei, im Rahmen der Verfassungsbeschwerde nicht zu entscheiden sei. Hierbei handelt es sich um Fragen des einfachen Rechts die von den Instanzgerichten zu beurteilen sind. Der Verfassungsgerichtshof wies ausdrücklich darauf hin, dass er keine zusätzliche gerichtliche Instanz darstelle, sondern lediglich eventuelle Verfassungsverstöße der Fachgerichte zu überprüfen habe.

Der Verfassungsgerichtshof gelangte im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass das Räumungsurteil des Landgerichts Berlin in eine verfassungsrechtlich geschützte Position der Mieter eingreife. Dabei ist es in seinem Beschluss ausdrücklich offen, ob das Besitzrecht des Mieters als solches bereits als Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinne angesehen werden könne. Maßgeblich sei vielmehr, dass im vorliegenden Falle auf Grund des außergewöhnlichen Vertrags mit dem die früheren Vermieterinnen dem Mieter im Wege der so genannten "vorweggenommenen Erbfolge" durch Vereinbarung einer unverhältnismäßig günstigen Miete und durch den Ausschluss einer Mieterhöhung für einen längeren Zeitraum einen wirtschaftlichen Vorteil zukommen lassen wollte. Dieser vermögenswerte Vorteil stelle somit ein im verfassungsrechtlichen Sinne geschütztes vermögenswertes Recht dar.

Aus diesem Grunde habe das Landgericht Berlin bei der Auslegung und Anwendung der einfachen gesetzlichen Vorschriften über Voraussetzungen einer wirksamen Eigenbedarfskündigung die durch die Verfassung gezogenen Grenzen zu wahren und insbesondere den beiderseitigen Eigentumsschutz zu beachten. Bei der Auslegung und Anwendung der genannten mietrechtlichen Vorschriften sind nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofs Berlin neben den Belangen des Vermieters auch die Belange des Mieters angemessen zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen. Ein über die Auslegung einfacher gesetzlicher Vorschriften hinausgehender verfassungsrechtlicher Verstoß liege dann vor, wenn das Instanzgericht auf Grund einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Eigentumsgarantie (zu der auch die oben genannte Vermögensposition begünstigter Mietvertrag gehört) Fehler bei der Auslegung der gesetzlichen Vorschriften gemacht habe. Der Mieter könne beanspruchen, dass das Gericht seinen Einwänden in einer Weise nachgehe, die der Bedeutung und Tragweite seines Bestandsinteresses gerecht werden.

Diesen Maßstäben genügt die Entscheidung des Landgerichts nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs nicht. Dieser gelangte zu der Feststellung, dass die vereinbarte Kaltmiete nur ein Viertel des als marktüblich anzusehenden Mietzinses betrug. Daraus folge, dass auf Grund des Ausschlusses einer Mieterhöhung monatlich ein vermögenswerter Vorteil in Höhe von 1280 DM bestehe. Da nach dem geltenden Mietrecht die Miete ab Juli 2004 nur um höchstens 20 % innerhalb eines Zeitrahmens von 39 Monaten erhöht werden könne, setze sich der aus dem Mietvertrag erwachsene Vorteil auch nach diesem Stichtag fort. Alles in allem erwachse dem Mieter bei Fortbestehen der Mietverhältnis bis zum Jahre 2004 ein vermögenswerter Vorteil in Höhe von geschätzten 250.000 DM. Mit der vorzeitigen Beendigung des Mietvertrags werde der Mieter daher ein Vermögensvorteil in mindestens dieser Höhe genommen.

Der Verfassungsgerichtshof gelangte in seinem Beschluss zu dem Ergebnis, dass das Landgericht diesen Umstand entweder nicht erkannt oder aber bei seiner Abwägung nicht zutreffend gewürdigt habe. Es habe vielmehr ausgeführt, die Mieter erlitten durch den Auszug "keinen wesentlichen finanziellen Verlust". Mit diesen rechtsfehlerhaften Ausführungen sind die tragenden Erwägungen des landgerichtlichen Urteils offensichtlich unzutreffend, denn das Landgericht habe bei der Prüfung des Vorliegens einer sozialen Härte gemäß § 556 a BGB (alte Fassung) lediglich die Frage der gegenwärtigen Ortsabwesenheit der Mieter sowie die Frage des Ausgleichs für den Modernisierungsaufwand geprüft. Es hat bei seiner Abwägung die außerordentliche Vermögenseinbuße der Mieter außer Betracht gelassen und damit deren Eigentumsrecht verletzt. Da das angegriffene Urteil auf dem Verstoß gegen das Grundrecht auf Eigentum gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 der Verfassung von Berlin beruhe, sei es aufzuheben und an das Landgericht zurückzuverweisen.

Mitgeteilt von Rechtsanwalt Michael Weßels

Anmerkung:

Die gegen diese Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichtshofs beim Bundesverfassungsgericht eingelegte Verfassungsbeschwerde der Vermieterin wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen. Hierbei hat das Bundesverfassungsgericht im Wesentlichen darauf hingewiesen, dass auf Grund der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landgericht Berlin die Möglichkeit besteht, dass ein Ergebnis erzielt wird, bei dem die mit der Verfassungsbeschwerde gerügten Grundrechtsverletzungen nicht mehr gegeben sein könnten. Die Vermieterin ist daher gehalten, nach dem Subsidiaritätsprinzip der Verfassungsbeschwerde den vorhandenen Rechtsweg (in diesem Fall die erneute Entscheidung des Landgerichts Berlin) vollständig zu erschöpfen.