Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 295/ 2003

Gegen die Plünderung des Sozialen Wohnens in Europa

Gekürzte Fassung des Vortrags von Knut Unger auf dem Europäischen Sozialforum in Florenz, November 2002

Knut Unger

Knut Unger ist Mitarbeiter beim MieterInnenverein Witten, Koordinator der AG Habitat im Forum Umwelt und Entwicklung sowie Mitglied im Steering Committee der Habitat International Coalition Focla Point Europe.

Seit Margret Thatcher in den frühen 80er Jahren die neoliberale Schlacht gegen den Sozialstaat eröffnete, ist auch die Privatisierung des öffentlichen und sozialen Wohnungsbaus zu einem Gegenstand sozialer und politischer Kämpfe in Europa geworden. Der Markt, so hämmern uns die neoliberalen Propagandamaschinen unablässig ein, ist die einzige Macht, die Wohnraum auf eine ökonomisch effiziente Weise zur Verfügung stellen kann.

Das Privateigentum an Wohnraum, und besonders das Eigenheim, ist ein Leitmythos und hat die wohnungspolitischen Instrumente selbst in den Zeiten des größten Massenwohnungsbaus grundlegend beeinflusst. In den letzten 30 Jahren setzte sich dieses Dogma allerdings mit einem davor nicht gekannten Totalitätsanspruch durch.

Die Segnungen der neoliberalen Wende für die Vermögenden und für die Herstellung einer Mittelschichthegemonie sind ebenso offensichtlich wie die negativen Effekte dieser Orientierung für die soziale Wohnraumversorgung. Wenn Mietwohnungen und Sozialer Wohnungsbau reduziert werden, wird das Potenzial der Wohnungsmärkte, nämlich die Befriedigung der Wohnbedürfnisse der ärmeren Teile der Bevölkerung, umfassend geschwächt. Diejenigen, die sich Eigentum nicht leisten können, werden gezwungen, sich mit jenem geschrumpften Rest des Sozialen Wohnungsbestands zu begnügen, den der Staat für die Armenversorgung noch vorhält. Wenn es dann überhaupt noch ausreichend Zugang zu Wohnraum gibt, führt die Verknappung der sozialen Angebote fast zwangsläufig zur Entstehung marginalisierter Wohnquartiere. Und wer diesen entkommen will, wird gezwungen, sich dem Eigentum mit Haut und Haaren, mit Ersparnissen und Krediten zu unterwerfen.

Folge sozialer Kämpfe

Dass heute die meisten Menschen im westlichen Europa eine halbwegs ausreichende Wohnraumversorgung haben, fußt auf einem ganz anderen Modell. Über mehrere Jahrzehnte haben die Nationalstaaten ganz massiv in die Märkte interveniert, um eine gigantische Masse an Wohnungen zu produzieren. Zumeist taten sie das auf eine Weise, die eine staatliche oder gesellschaftliche Kontrolle der geschaffenen Wohnungen garantierte, verbunden mit einer Kontrolle des Wohnraumzugangs und der Mieten. Diese direkten Interventionen in den Wohnungsbau wurden häufig begleitet von weiteren Mietregulationen und Mietgesetzen.

Die verschiedenen Formen des öffentlich regulierten Wohnungsbaus sind zwar immer auch eine Folge von sozialen Auseinandersetzungen, die weit in die Geschichte zurück reichen können, eine quantitativ dominierende Bedeutung erhielt der Soziale Wohnungsbau aber erst im Zuge von Massenproduktion und Massenkonsum in der Nachkriegszeit. Nach der Beseitigung der größten Kriegsschäden war es ein Hauptmotiv des Sozialen Massenwohnungsbaus, die dringend benötigten Arbeitskräfte unterzubringen und gleichzeitig die Grundlagen einer normalisierten, konsumistischen Alltagskultur zu schaffen, die sich auf die Kernfamilie stützte. Die Bewohner haben trotz mancher Zumutungen und der seit den 70er Jahren aufkommenden Kritik an der Trostlosigkeit funktionalistischer Formen des Sozialen Wohnungsbaus die so geschaffenen Wohnformen weitgehend adaptiert.

Der Niedergang wesentlicher Instrumente des Sozialen Wohnungsbaus ist nicht so sehr ein Ausdruck einer immanenten Akzeptanz- und Steuerungskrise des sozialen Sektors, als vielmehr eine Folge einer umfassenden Krise der fordistischen Regulationsweise und der mit ihr verbundenen Sozialstaatlichkeit. Nach dem Ende der Vollbeschäftigung fiel die Industrie als Bündnispartner des Wohnungsbaus aus und die Finanzkrise der öffentlichen Haushalte tat ein Übriges den sozialen Wohnungsbau angreifbar zu machen. Die überfällige Reform der existierenden öffentlichen Sektoren gemäß den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen konnte sich gegenüber den marktliberalen Kräften und jenen, für die das Eigenheim immer schon die einzig akzeptable Wohnform war, nicht durchsetzen.

Verwertungspotenzial Wohnraum

Diese Entwicklungen erklären nun aber noch nicht die Tatsache der Massenprivatisierung von existierenden Wohnungsbeständen. Die einfache Erklärung ist, dass der in den Jahren der wohnungspolitischen Regulation geschaffene gesellschaftliche Wert an Wohnraum samt seiner Bewohner ein gigantisches Potenzial für die sekundäre Verwertung darstellt. Das ist der Kern jener Strategie die wir - über die Dominanz der Eigentumsideologie hinaus - heute Privatisierung nennen (oder eindeutiger die italienischen Mieter: Plünderung).

Just in die Zeit der Marginalisierung des Sozialwohnungsbaus im Westen fiel dann die Perestroika und der Zusammenbruch der Kommandowirtschaft im Sowjetblock. Für die neuen politischen Akteure galt der Markt als die große Verheißung und eine differenzierte Kenntnis der Marktregulationen im Wohnungswesen des Westens war kaum vorhanden. Entsprechend widerstandslos und verheerend erfolgte in den meisten Ländern dann auch die Privatisierung und Markteinführung im Wohnbereich. In Polen, Tschechien usw. standen weder ein erprobtes Mietrecht noch Milliardensubventionen für Modernisierung und Neubau wie in Ostdeutschland zur Verfügung.

In Frankreich gibt es zwar auch Privatisierungen, aber die dort dominante Krise des Sozialwohnungsbaus HLM (Habitations à Loyer Modéré) und der Kampf um eine Lösung verweist eher auf die immanenten Widersprüche eines bürokratisierten Massenwohnungsbaus. Breite politische Kräfte forcieren einen Umbau der marginalisierten Großsiedlungen, der mit massiven Bestandsabrissen und der Herstellung von kleinbürgerlichen Wohnformen verbunden ist. Das wird in Frankreich weniger von Mieterorganisationen als von den Obdachlosenbewegungen bekämpft, die ein Recht auf Wohnen für alle einfordern.

Während in Europa die Konsequenzen der Politik des Ausverkaufs und der Verkleinbürgerlichung noch gar nicht absehbar sind, beginnt die ökonomische Globalisierung auch die Wohnungssektoren zu erfassen. Pensionsfonds, Börsen und internationale Beteiligungen infiltrieren die ursprünglichen lokalen und regionalen Eignergruppen des Wohnungsbestands in einem Umfang, wie wir es uns bis vor wenigen Jahren noch nicht vorstellen konnten. Damit wird die öffentliche Steuerbarkeit der Wohnraummärkte massiv untergraben und außerdem steigt ganz selbstverständlich auch die Renditeerwartung auf ein Niveau, das außerhalb von Boom-Metropolen mit der Vermietung von Wohnraum nicht erreicht werden kann. Der Verkauf des Wohnungsbestands, und zwar am besten zu überhöhten Preisen an die verängstigten bisherigen Mieter, ist eine der Hauptsstrategien dieser Profitmaximierung geworden.

Bedingungen für den Protest

Die Verkäufe von Wohnungsbeständen treiben die betroffenen Mieter in verschiedenen Ländern auf die Straße. Triebfeder der Proteste sind die unmittelbare Bedrohung für die eigene Wohnung, aber auch die Bedrohung für den sozialen Lebenszusammenhang in Arbeitersiedlungen und eine allgemeine Empörung über die "Ausplünderung".

Erfolgt der Verkauf oder die Übertragung an die bisherigen Mieter zu einem stark reduzierten Preis und ohne unmittelbare Folgen für das eigene Wohnrecht, können sehr viele Mieter für die Übernahme der eigenen Wohnung gewonnen werden. Diese Situation haben wir z.B. in Russland, wo die ehemals staatlichen Wohnungen quasi an die Mieter "verschenkt" werden, allerdings ohne Eigentums- und Verfügungsrechte im deutschen Sinne zu begründen. Die neuen Eigentümer unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Rechtslage faktisch kaum von den Mietern. In Deutschland und Italien werden die einzelne Wohnungen dagegen weitgehend zu Marktpreisen verkauft, was viele Mieter überfordert. Der Kauf durch Dritte löst dann Verdrängungsketten aus.

Diese Situation allein führt aber keineswegs automatisch zu Protesten. Unter der Bedingung, dass ein Angebotsmarkt vorherrscht, ist die häufigste Reaktion der Mieter der Fortzug aus den betroffenen Beständen. Selbst unter diesen Bedingungen kommt es aber zu "Angstkäufen", sie sind ein wesentlicher Teil der Verwertungsstrategie der Privatisierer.

Eine Basis für die Organisation von Protesten besteht dort, wo ein kollektives Milieu betroffen ist. Das ist zum Beispiel der Fall in den Arbeitersiedlungen im Ruhrgebiet, wo die Einzelprivatisierung die nachbarschaftlichen Beziehungen im Quartier bedroht. Bisherige Kollegen werden zu Vermietern, außerdem sind durch die Verkaufsvorgänge häufig Mietergärten und öffentliche Freiräume bedroht. Ein dauerhafter Erfolg ist diesen lokalen Bewegungen allerdings kaum möglich, zumal sich die Hauptakteure dieser Verkaufswellen, allen voran die Viterra AG, bereits jedem politischen Einfluss entziehen. Auch das Land stellt nicht mehr, wie noch in den 80er Jahren, umfassende Mittel bereit, um privatisierungsbedrohte Bestände zu sichern.

Anders stehen die Chancen, wenn nicht einzelne Siedlungen durch Mieterprivatisierungen bedroht sind, sondern öffentliche Wohnraumvermögen auf einen Schlag ihren Besitzer wechseln sollen. Die Bürgerbegehren gegen geplante Verkäufe von kommunalen Wohnungsunternehmen in Deutschland oder die Ansätze einer Mobilisierung gegen den Verkauf der nordrhein-westfälischen Landesentwicklungsgesellschaft GmbH (LEG) sind Beispiele für derartige Gegenbewegungen. Ihre politische Schwäche besteht in der Kurzlebigkeit und natürlich in ihrer lokalen oder regionalen Beschränkung. In Deutschland existiert bislang kein aktionsfähiges Netzwerk von Anti-Privatisierungsbewegungen. Dementsprechend fehlt es an politischen Forderungen auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene, und die Strukturen für Proteste und Gegenmaßnahmen müssen sich in jeder Stadt gesondert herausbilden.

Anders ist die Situation derzeit in Italien, wo die Privatisierungsvorhaben der Regierung das ganze Land betreffen, auch wenn die Formen stark regionalisiert werden. Dem linken Mieterverband Unione Inquilini ist es hier in den letzten Monaten gelungen, regionale Protestbewegungen zu nationalen Kampagnen zusammenzuführen. Dieser Ansatz zwingt nun die anderen Mieterverbände, die Gewerkschaften und die links-zentristischen Regionalregierungen dazu, eindeutig Farbe zu bekennen.

Europäische Bewegungen gegen die Ausplünderung?

Wie wir an diesen wenigen Beispielen sehen, befinden sich die neoliberalen Kräfte in der Wohnungspolitik in zahlreichen europäischen Ländern in der Offensive. Die Gegenwehr hat nur in Ansatzpunkten überhaupt ein nationales Niveau erreicht. Wenn wir in der Habitat International Coalition nun von der Notwendigkeit eines europäischen Bündnisses gegen die Wohnraumprivatisierung sprechen, hat das damit zu tun, dass wir hoffen können, an der Dynamik der globalisierungskritischen Bewegungen in Europa und weltweit zu partizipieren.

Waren diese Bewegungen zunächst stark auf die Problematik der globalen Finanzspekulation und Freihandelsabkommen fixiert, hat sich inzwischen eine umfassende Erweiterung der Themenpalette ereignet. Dazu zählt gerade auch der Kampf gegen die Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen, zum Beispiel der Wasserversorgung. Zahlreiche Verknüpfungen lokaler Angriffe auf die Lebensverhältnisse mit internationalen Abkommen und globalisierten Korporationen geraten ins Blickfeld, zum Beispiel die Folgen der Weltbank-Auflagen oder des Abkommens zur Liberalisierung von Dienstleistungen (GATS). Es ist dringlich erforderlich, die Folgen dieser Abkommen auf die Wohnverhältnisse in Europa zu analysieren. Ebenso dringlich ist es, die Folgen der Maastricht-Kriterien und der Brüsseler Direktiven auf die Wohnungspolitik der Staaten - gerade auch im Hinblick auf die EU-Osterweiterung - zu verstehen. Und schließlich stehen wir vor der Aufgabe, den Umfang der Globalisierung des Wohnungskapitals einzuschätzen.

Das alles ist Voraussetzung dafür, dass wir globale Antworten auf globale Herausforderungen finden. Denn es ist offensichtlich so, dass die wohnungspolitische Kompetenz der Nationalstaaten untergraben wird, ohne dass es ernsthafte Ansätze zu einer transnationalen Wohnungspolitik gibt. Gelingt es, die Abwehrkämpfe gegen Wohnraumprivatisierungen mit den globalisierungskritischen Bewegungen organisch zu verknüpfen, gewinnen wir darüber hinaus vielleicht das Potenzial, um auch die Soziale Wohnungspolitik wieder zu einem Gegenstand gesellschaftlicher Debatten zu machen. Die globalisierungskritische Bewegung ist heute die einzige Klammer, die wir für eine breite Dynamik von unten erkennen können. Die Habitat-Organisationen im Allgemeinen und die linken Mieterbewegungen im Besonderen können Wesentliches zur lokalen und thematischen Verbreiterung dieser Dynamik beitragen.