Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 294/ 2002

Aids = Armut?!

Antje Grabenhorst

Im Rahmen einer Diskussion, die Raimund Geene von "Gesundheit Berlin e.V." am 31. Mai 2002 im Theater am Halleschen Ufer moderierte, wurde die Lebenserwartung und die -qualität sowie die finanzielle Situation von HIV-Positiven thematisiert.

"Arbeit wird inzwischen wieder als Form der Existenzsicherung für Menschen mit HIV und Aids gesehen", erklärte Michael Krone von "zukunft positiv". Doch der Versuch, ein geregeltes Arbeitsleben zu führen, scheitere oft am geschwächten Immun-System und den Nebenwirkungen der Medikamente. Wer innerhalb von drei Jahren länger als 78 Wochen wegen ein und derselben Krankheit nicht arbeiten kann, bekommt kein Krankengeld mehr. Auch das Arbeitsamt streicht Kranken irgendwann die Bezüge. In jungen Jahren Erkrankte erfüllen die Renten-Anwartschaftszeiten nicht, die Renten-Reform hat die Erwerbsminderungs-Renten verringert und private Berufsunfähigkeits-Versicherungen können HIV-Positive nicht abschließen.

Gang zum Sozialamt unvermeidlich

Elisabeth Strothmann von der Berliner Aidshilfe erläuterte, dass "50 % der Ratsuchenden" der Berliner Aidshilfe, "egal zu welchen Problemen sie Rat suchen, von Sozialhilfe leben." In ihrer Sozialberatung seien es fast 100 %. Schlimm ist für die Betroffenen die Unsicherheit: "Bekomme ich im nächsten Monat meine volle Sozialhilfe?". Die Ämter fordern 20 Bewerbungen im Monat, sonst wird die Sozialhilfe um 25 % gekürzt. "Das macht Leuten totalen Druck!", erklärte Elisabeth Strothmann. "Auch das Gefühl, beim Sozialamt mehr oder weniger ständig der Unterstellung ausgesetzt zu sein: ´Irgendwie betrügen Sie doch!`" Fast alle Betroffenen schildern, dass sie sich "diskriminiert, teilweise von oben herab, teilweise sehr unfreundlich" behandelt fühlen. Sie werden auf Ämtern "fast nie aufgeklärt, wo sie Anträge auf einzelne Leistungen stellen können." Standardantwort sei: "Nee, nee, das gibt`s nicht. So was machen wir nicht." Erst beim "Nachbohren, sich informieren und schriftlich Beantragen" stelle sich heraus "die beantragte Leistung gibt es sehr wohl". Manchmal könne sie Leuten helfen, ihre materielle Situation zu verbessern, manchmal aber nicht. Die Tatsache, dass die Sozialhilfe zu wenig sei, könne sie nicht ändern.

"Eine ganz große Rolle spielt auch das Gefühl von Diskriminierung und Ausgrenzung, was einfach durch den Status Sozialhilfe-Empfänger zu sein, erzeugt wird", so Elisabeth Strothmann. In der Positiven-Szene Berlins sei Armut zum Teil ein Tabu-Thema. Robert Ulmer von der "AG Existenzsicherung" beklagte, "dass Armut kein Skandal mehr sei, sondern mit zunehmender Gleichgültigkeit akzeptiert wird." Teilweise werde Armut sogar als "gerechte Strafe für diejenigen, die es in der Arbeitswelt nicht schaffen" gesehen. Absurd sei, "dass in unserer hoch produktiven Ökonomie der Zwang zur Arbeit immer weiter verschärft wird." Michael Krone bezeichnet Armut als zusätzliche "Stigmatisierung. Da begehrt man eben nicht gemeinsam dagegen auf, sondern Armut ist etwas, was der einzelne mit sich selber ausmacht." Hans-Peter Hintz sah einen Grund darin, "dass die Leute so hingestellt werden, dass sie glauben selbst schuld zu sein. Die meisten glauben es auch, weil sie durch ihre persönliche Situation ein so geringes Selbstbewusstsein haben, dass sie so was wirklich fressen und runterschlucken. Da sollten wir vielleicht ansetzen."

Armut gefährdet die Aids-Prävention. Männer "fordern immer mehr ohne Gummi" schilderte Antje Conrady von Hydra e.V., einer Beratungsstelle für Prostituierte. "In Berlin arbeiten 8000 bis 10.000 Prostituierte, davon sind die Hälfte Migrantinnen." Viele "leben an der Sozialhilfegrenze oder darunter und die Männer fordern immer mehr - was die Praktiken anbetrifft - zu immer weniger Geld. Die Frauen geraten dadurch in eine sehr schwache Position."

"Die Sozialbewegung wird nur da weiter gehen, wo die Betroffenen sich engagieren", glaubt Friedhelm Krey von "zukunft positiv". Auch Elisabeth Strothman findet Selbstorganisation wichtig. Schaffen könne das aber nur, wer nicht "von morgens bis abends mit der eigenen existentiellen Sicherung beschäftigt" sei.

"Ein Existenzgeld in ausreichender Höhe1", schlug Robert Ulmer zur Armutsprävention vor, in der Hoffnung, dass ein Existenzgeld den Betroffenen das Selbstbewusstsein und die Muße bieten könnte, sich zu organisieren, eigene Projekte und womöglich eine eigene Ökonomie aufzubauen?

Am schwersten haben es Menschen aus sog. Dritte-Welt-Ländern, die hier teilweise ohne Papiere leben. Birol Isik von ADM, einer türkisch-arabischen Beratungsstelle, sagte dazu "Wir haben so ein bisschen die Situation von Afrika hier in Deutschland. Die sind hier und haben keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Deutschland gehört zu den Ländern, die als letzte in Europa keine Regelung für Leute ohne Papiere haben." Christine Thomas-Khaled vom Afrika Center beklagte, dass es für Menschen "ohne Duldung, ohne Papiere von der Ausländerbehörde, keine Sozialhilfe und auch keine Krankenversicherung" gibt. Einige Krankenhäuser und Ärzte behandeln sie trotzdem, andere drohen mit der Ausländerbehörde. Hans-Peter Hintz, Pressesprecher der Berliner Aids-Hilfe warf dazu ein: "Wenn ein Deutscher mit akuter Erkrankung in der Ersten Hilfe abgewiesen wird, dann ist das unterlassene Hilfeleistung." Doch "wo kein Kläger, da kein Beklagter", so Christine Thomas-Khaled, "die Leute sind Schwuppdiwupp weg, die Ausländerbehörde reagiert da prompt, die haben extra Teams, die dann mit Autos kommen." Anwälte und Ärzte, die kostenlos den ´Illegalen` helfen, müssen sogar mit Sanktionen rechnen. Sie fordere deshalb dringend eine Lösung auf staatlicher Ebene, denn "wir haben die Verpflichtung auch vom Grundgesetz her einzugreifen. Medizinische Behandlung ist ein Menschenrecht. Wir haben ja auch die Menschenrechts-Charta der UNO unterschrieben."

Weitere Informationen bietet www.armut-und-gesundheit.de.

1) 1500 DM + Mietzuschuss errechnete die Bundes-Arbeitsgemeinschaft der Sozialhilfe-Initiativen in Jahr 1998

Antje Grabenhorst war Mit-Initiatorin der Veranstaltungsreihe "AIDS.2002".