Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 294/ 2002

Die Miete an der Börse

Hermann Werle

Menachem Mendel aus Jehupez an seine Frau Scheine-Scheindel in Kasriliwke: (...) Zum zweiten wisse: Papiere sind nicht, wie Du meinst, gewöhnliches Papier. Man nennt das Papier, doch gemeint sind Aktien, Petersburger Aktien, zum Beispiel: 'Putilow`, 'Transport`, 'Maltzewer`, 'Wolga` und dergleichen. Das sind Fabriken, wo man Eisenbahnen auf Aktien verfertigt; das heißt nämlich: es werden Aktien ausgegeben von einem Hunderter und dafür bezahlt man drei Hunderter. Warum? Sie geben 'Divandenden`; je mehr 'Divandenden`, desto besser; nur weil eben keiner vor Ende des Jahres weiß, was für ‚Divandende` gegeben werden wird, deshalb fasst man blind zu und kauft und kauft; und daraus wird eine 'Hausse` (...).

Scheine-Scheindel aus Kasriliwke an ihren Gatten Menachem Mendel in Jehupez: (...) Du lieber, guter Narr Du, was erzählst Du mir von großartigen Dingen, mit denen Du Dein Glück machen sollst: ‚Aktien, Schmaktien, Divandende, Andiwände` - das alles ist so viel Wert wie ein ausgeblasenes Ei; mit den bloßen fünf Fingern zählt man kein Vermögen!

Aus: Scholem Alejchems "Menachem Mendel"

Während städtische Wohnungsbaugesellschaften auf dem Wohnungsmarkt immer mehr an Bedeutung verlieren, wächst die Rolle von Immobilien-Aktiengesellschaften.

Die eine Entwicklung hat mit der anderen durchaus zu tun, da Aktiengesellschaften zu den größten Interessenten an den städtischen Wohnungsbeständen gehören.

Der Stellenwert der Immobilienaktie als Investment liegt in den USA und Großbritannien weit höher als in Deutschland, wo die Kapitalanlage in Aktien allgemein weniger beliebt ist und erst in den letzten Jahren einen Aufschwung erlebte. An dieser Entwicklung möchten die 59 im Deutschen Immobilienaktienindex DIMAX notierten Gesellschaften teilhaben.

Der Anteil der deutschen Bevölkerung, der in Besitz von Aktien ist, stieg in den letzten Jahren beständig an. Lag er vor fünf Jahren noch unter 9 %, so sind es heute über 18 %, d.h. über elf Mio. Bundesbürger "sparen" in Aktien. Zu erklären ist diese Entwicklung mit den überaus vielversprechenden Werbekampagnen, mit denen Neuemissionen, wie die der T-Aktie, begleitet werden. Des Weiteren wird die Anlage in Aktien durch die zunehmende Beteiligung von Arbeitern und Arbeiterinnen an "ihren" Betrieben durch Belegschaftsaktien und durch die niedrigen Zinsen auf "normalen" Sparbüchern begünstigt. Nicht zuletzt die Medien verbreiten in der Bevölkerung das Gefühl, ohne Aktien auf der Verliererseite zu stehen. Keine Fernseh- oder Radiostation verschont uns mehr vom monotonen Börsengequatsche über Höhenflüge oder Abstürze des einen oder des anderen Börsenwerts. Ungeachtet der allgemeinen Kursflaute und der Hinweise auf eine anhaltende Rezession, preisen Tageszeitungen ihre Lieblingswerte an, als sei nichts anderes möglich als satte Gewinne einzufahren. Wo die FAZ eine Mischung von risikoreichen und Standardwerten bevorzugt, propagiert die taz mit dem Slogan "Grünes Geld - Gutes Geld" und "Ökologisch investieren mit Gewinn" für die Anlage in "grüne Aktien", die vermutlich auch noch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt sind. Von den "freien Liberalen" bis zu den "grünen Liberalen" sind sich offensichtlich alle einig: Aktien sollen zum modernen Sparstrumpf des Volkes werden, auch wenn die Löcher darin kaum noch zu stopfen sind.

Immobilien im Shareholder-Value-Konzept

Der eigentliche Zweck der Aktie ist die Kapitalbeschaffung. Unternehmen können dafür Kredite aufnehmen oder Aktien ausgeben. Mit dem Kauf einer Aktie erwirbt der Anleger den Anspruch auf einen Anteil des vom Unternehmen erwirtschafteten Mehrwerts. Er hofft dementsprechend auf eine hohe Dividende und dass sich der Aktienkurs erhöhen möge, um das Papier gewinnbringend weiterveräußern zu können. Der Wert einer Aktie hängt dabei nicht allein vom Geschäftsergebnis des Unternehmens ab, sondern vielmehr von der Erwartung künftiger Entwicklungen. Diese können von politischen Konstellationen wie Wahlen oder Fusionsankündigungen oder von erwarteten Produktinnovationen ausgehen. Das Shareholder-Value-Konzept, welches in den 80er Jahren in den USA entwickelt wurde, setzt verstärkt auf diese Zukunftserwartungen, um den Aktienkurs zu steigern und die Rendite für die Anleger zu erhöhen.

Für das Management von Immobilien-Aktiengesellschaften gibt die Deutsche Bank Research folgenden Rat: "Nach dem Shareholder-Value-Konzept wird die Unternehmensführung konsequent auf die Maximierung der Eigenkapitalrendite ausgerichtet, was sich in steigenden Aktienkursen oder Dividendenzahlungen niederschlagen soll. Diese systematische Identifikation wertsteigernder Strategien ist auch für Immobilienaktiengesellschaften sinnvoll, um an der Börse erfolgreich zu sein. Wichtige Bestandteile des Konzeptes sind ein professionelles Portfoliomanagement und Kosteneinsparungen durch effiziente Verwaltung bzw. Bewirtschaftung der Immobilien."

Dax bestimmt Wohnungspolitik

Dass diese Vorgehensweise auch etwas mit der Veräußerung staatlicher Wohnungsbaugesellschaften zu tun hat, erwähnt die Bank ebenso, wie die Attraktivität niedriger Mieten. Diese sollen mittels der "Kursphantasie" potenzielle Aktienkäufer und Käuferinnen locken und nicht dem Wohl der Mieter und Mieterinnen dienen. "Die Strategie kann daher sein, auf der Basis niedriger Mieten Immobilien günstig einzukaufen und Wertsteigerungen zu realisieren", schreibt die Bank und meint, wo die Mieten niedrig sind, gibt es die höchsten Steigerungsaussichten.

Die strategische Ausrichtung einiger Immo-AGs liegt dementsprechend im Bereich des Aufkaufs städtischer Wohnungsbaugesellschaften. Und hier ist noch einiges zu holen. Laut FAZ sind bundesweit noch rund 3,2 Mio. Wohnungen mit einem Verkehrswert von

100 Mrd. Euro im Eigentum der öffentlichen Hand. Diese gelte es noch unter den kaufkräftigsten Investoren aufzuteilen. Dazu gehören auch börsennotierte Gesellschaften wie die B&L und die Deutsche Wohnen AG, eine Tochter der Deutschen Bank, erklärt der Vorstand der Westdeutschen Immobilienbank und fügt laut FAZ hinzu, "dass die Wohnungsprivatisierung als politische Chance verstanden werden sollte. Neben der Unterstützung der Haushaltskonsolidierung biete sie zusätzlich die Möglichkeit zur Steigerung der Wohneigentumsquote, die weit unter dem europäischen Durchschnitt liege." Zu einer ganz anderen Einschätzung kommt der Deutsche Gewerkschaftsbund, der in einer Presserklärung vom Juli 2000 warnt: "Die ‚versteckten Schätze` kommunaler Wohnungsunternehmen wandern an die Börse und in die Hände transnationaler Unternehmen. Internationales Kapital, Share-Holder-Value und DAX bestimmen künftig über Kernfragen der lokalen Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik."

Favoriten des DIMAX

Zu den schwergewichtigen Unternehmen des DIMAX gehören neben den bereits erwähnten B&L und Deutsche Wohnen AG auch der frühere Maschinenbauer Agiv, der von der Hamburger HBAG Real Estate AG übernommen und zu einer reinen Immobiliengesellschaft verwandelt wurde. Gemein ist diesen Gesellschaften ihre strategische Ausrichtung: Aufkauf von kommunalen Wohnungsgesellschaften, anschließende Modernisierung, um möglichst hohe Mieterhöhungspotenziale auszuschöpfen und die Bildung von Wohneigentum. In den Kreis dieser illustren Gesellschaften gehören auch die Bayerische Immobilien AG, die TAG und die IVG. Die frühere Industrieverwaltungsgesellschaft, die 1993 vollprivatisiert worden war, ist finanziell und personell eng mit zwei Gesellschaften verbunden, die MieterEcho-Lesern und Leserinnen wohl bekannt sind und ebenfalls zu den Branchenriesen gehören: die WCM und die dazugehörige Rinteln-Stadthagener Eisenbahn AG (RSE).

Der Mann, der die RSE seinerzeit auf Erfolgskurs brachte, ist heute Vorsitzender des Aufsichtsrates der TAG Tegernseebahn Immobilien- und Beteiligungs-AG. Der Einstieg von Lutz Ristow bei der TAG macht deutlich, welche Bedeutung Zukunftserwartungen für Aktienwerte haben können. Die Euphorie der Zeitschrift Cash über diese Personalie kannte keine Grenzen: "Beispiel für eine durch Fantasie beflügelte Immobilienaktie ist die TAG. Bei der noch recht kleinen Gesellschaft sorgte insbesondere der Einstieg des Immobilienaktien-Tausendsassas Dr. Lutz R. Ristow für eine regelrechte Kursexplosion." Die frühere Bahngesellschaft hält seit dem letztem Jahr 88 % an der Bauverein zu Hamburg AG, welche noch bis 1991 eine gemeinnützige Wohnungsgesellschaft war. Innerhalb der TAG führt der Bauverein den Geschäftsbereich Wohnimmobilien und "generiert seine Erträge durch die aktive Entwicklung seiner Immobilien und profitiert auf zwei Wegen von seiner Wertsteigerung. Nach der Entwicklung lassen sich höhere Verkaufserlöse erzielen oder die Immobilien gehen mit höherem Wert in den Bestand ein und generieren höhere Mieteinnahmen," wie das Bankhaus Ellwanger & Geiger berichtet.

Die Attraktivität niedriger Mieten

Dasselbe Bankhaus beklagt den entspannten Wohnungsmarkt, "denn in einem solchen Markt sind keine vernünftigen Mieten zu erzielen." Diese Klage - ob zutreffend oder nicht spielt dabei keine Rolle - teilt die Bank natürlich mit all den anderen Geschäftemachern im Wohnungsgeschäft. Ellwanger & Geiger hat jedoch als Entwickler des DIMAX ein gesteigertes Interesse an der Notierung der Immobilienwerte, da die Gewinnaussichten der von ihnen aufgelegten Fonds schlussendlich nur in Verbindung mit Mietsteigerungen zu realisieren sind. "Der Aktienkurs orientiert sich an den antizipierten zukünftigen Wert- und Mietsteigerungspotenzialen. Aufschläge werden nur in Zeiten stark zunehmender Mietsteigerungsraten, insbesondere, wenn die Mietsteigerungsrate die Dividendensteigerungsrate des Gesamtaktienmarktes übersteigt, realisiert", wie es die Kanzlei Rothege Wassermann & Partner im Börsendeutsch auf den Punkt bringt. Der Einfluss von Aktiengesellschaften auf dem hiesigen Wohnungsmarkt ist bislang gering und die im DIMAX gehandelten Werte gleichen zur Zeit einer Ansammlung von mehr oder weniger ausgeblasenen Eiern. Mit jeder privatisierten Wohnungsbaugesellschaft erhöht sich aber der Druck auf die Mieten, der allein durch das Mietrecht, starke Mieterorganisationen und aufmüpfige Mieter und Mieterinnen zurückgewiesen werden kann.

Und wer in die Versuchung kommt, sich am Börsengeschäft zu beteiligen, denke an die mahnenden Worte Scheine Scheindels an ihren Mann oder stelle sich die paradoxe Situation vor, in der sich so manche Arbeiter und Arbeiterinnen schon wiederfanden, wenn sie gleichzeitig Aktienbesitzer ihres Unternehmens waren. Die Aussicht auf Dividenden und Kurssteigerungen realisiert sich unter anderem an realen Entlassungen und kann auch den eigenen Arbeitsplatz betreffen, so wie es zukünftig auch die eigene Miete betreffen könnte.