Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 294/ 2002

Rückbau Ost

Was tun mit der Platte?

Interview mit Bodo Meinecke

Vom Bundesprogramm Stadtumbau Ost sind in Berlin vor allem die Plattenbausiedlungen am östlichen Stadtrand betroffen. Das MieterEcho sprach mit Bodo Meinecke, ehemaliger Bezirksverordneter von Marzahn-Hellersdorf, heute Bürgerdeputierter für Soziales, Bauen und Wohnen sowie Leiter der Bezirksgruppe Marzahn der Berliner MieterGemeinschaft.

ME: Was sind deiner Meinung nach die Gründe für den heutigen Leerstand?

Es gibt mehrere Gründe, warum die Leute wegziehen. Erstens wegen der Arbeitsplätze: Die jüngeren und die mittleren Jahrgänge ziehen der Arbeit hinterher, das ist ganz normal. Viele der Anwohner in Marzahn kommen aus Thüringen, Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern, manche fühlen sich immer noch nicht als Berliner. Ein Großteil war beim Staat angestellt, jetzt haben sie die Arbeit verloren und ziehen zurück in die Häuser, die ihre Eltern auf dem Land oder in der Kleinstadt gebaut haben. Es ist ja auch leichter, auf dem Land arm zu sein als in der Stadt, und man hat seine Ruhe.

Auch die, die zu etwas gekommen sind, spüren diesen Drang zum Eigenheim, dem Ideal vom Häuschen mit Hund und drei Katzen. Ab 35 ziehen diese Leute in die Einfamilienhaus-Siedlung. Man wird ja auch scheel angesehen, wenn man in der Platte wohnt. Mein ehemaliger Nachbar, ein hochbezahlter Ingenieur, ist nach Steglitz gezogen, weil er seine Kollegen nicht nach Marzahn einladen konnte. Die Presse hat die Platte so madig gemacht, dass sie von vornherein abgelehnt wird.

Dass die Platte so unter Beschuss steht, ist unter anderem eine kulturpolitische Frage. Der Westen sieht sie als minderwertigen Wohnraum an, als etwas für Abgestürzte. Man findet sie hässlich. Obwohl gerade Marzahn durchaus ein durchdachtes städtebauliches Ensemble darstellt, das zwar nicht vollendet, aber durchaus entwickelbar ist. Marzahn ist grün. Die technische Infrastruktur ist hervorragend. Am Kollwitzplatz müssen sie alles erneuern, was unter der Erde liegt, in der Platte ist das alles schon neu. Marzahn hat Tunnel, in denen alle Installationen so angeordnet sind, dass man sie aufrecht stehend warten kann; es gibt Fernwärmesysteme und eine ausgezeichnete Verkehrsinfrastruktur.

ME: Der Bezirk ist ja nicht völlig homogen. Gibt es deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Vierteln?

Es gibt ein gewisses Armutsgefälle von Nord nach Süd, das sich, soweit man das statistisch erfassen kann, mit der Zeit verstärkt. Aber noch ist der Leerstand gestreut. Es ist auch bisher nicht so, dass die Armen alle in eine Ecke ziehen; es gibt eigentlich keine Gettoisierung. Nur in Marzahn-Nord und -West, wo viele Aussiedler wohnen, da kann es schon mal vorkommen, dass eine Großmutter auszieht, weil sie sich mit den Nachbarn nicht mehr verständigen kann. So ähnlich, wie das wahrscheinlich früher in Kreuzberg war. Aber das vollzieht sich geräuschlos, das ist keine dramatische Entwicklung, obwohl im Bezirk schätzungsweise 20.000 bis 25.000 Aussiedler leben, also fast 10 % der Bevölkerung.

In Marzahn gibt es ungefähr 70.000 Haushalte, von denen jährlich 10.000 bis 15.000 umziehen. Das ist eine kolossale Umzugsbewegung, aber die meisten bleiben im Bezirk. Warum die Leute so viel hin- und herziehen, weiß man nicht genau. Ein Grund liegt wohl in den Mietschulden. Bei der Schuldnerberatung in Marzahn sind in wenigen Jahren aus wenigen hundert ca. 1200 Beratungsfälle geworden. Viele von denen müssen aus den Wohnungen raus, weil sie sie nicht mehr bezahlen können, aber ich weiß nicht, wohin sie gehen.

Ein weiterer Grund dürfte in der Altersstruktur liegen. Es gibt hier ja sehr viele Rentner. So wie wir auch, wir hatten drei Jungs, was sollen wir mit 90 qm, wenn wir nur noch zu zweit sind? Wir sind dann innerhalb des Hauses umgezogen.

ME: Die ersten Planungen zum Stadtumbau Ost liegen vor und haben in Marzahn bereits für Irritationen gesorgt. Wie schätzt du sie ein? Was hältst du z.B. von den Absichten der Wohnungsbaugesellschaft Marzahn (WBG), in Marzahn-Nord bis zu 3000 Wohnungen "rückzubauen"?

Was die wollen, ist entweder ganze Blöcke abreißen oder um etliche Etagen kürzen. So wollen sie die Vermögenden anlocken. Ich habe mir das in Cottbus angesehen, wo sie Elfgeschosser zurückgebaut haben, drei Geschosse blieben übrig, pro Etage und Aufgang eine Wohnung. Aus 60 oder 100 Wohnungen haben sie sechs gemacht. Wie soll das denn wirtschaftlich sein? Das ist ein Unfug. Es ist Privatbesitz, und man muss dem Besitzer die Vermögensminderung ausgleichen, die durch Abriss entsteht. Der Senat kann das nicht bezahlen: den Abriss, den Mietausfall, die Entwertung des Grundstücks. Darum sind die hauptsächlichen Bremser beim Abriss auch immer die Banken.

Außerdem sorgen die ständigen Diskussionen für Verunsicherung bei den Mietern und den Investoren. Die Leute kriegen Angst, gerade jetzt gab es ja eine regelrechte Pressekampagne. Nehmen wir z.B. die Hochhäuser in der Marchwitzastraße, für die schon seit langem der Abrissantrag gestellt ist. Erst hat man den Mietern mitgeteilt, dass nun endlich die Modernisierung beginnt. Dann war es plötzlich zu teuer und vier Wochen später wurde der Abriss angekündigt. Und dabei gab es einen potentiellen Käufer, der 3,5 Mio. Euro angeboten hatte, mit einem britischen Investor und allem, was man will. Ich verstehe nicht, wie der Senat rechnet. Will er eine Konkurrenz zur WBG verhindern?

Der Block war zu 60 bis 70 % besetzt, die Mieter mussten rausgekauft werden. Dazu kommen die Abrisskosten: In Dresden kostet der Abriss etwas über 150 Euro/qm, hier soll es sogar noch mehr sein. Bund und Land zahlen aber nur 75 Euro/qm. Für die Marchwitzastraße fehlen demnach über 1,5 Mio. Euro, die die Wohnungsbaugesellschaft selbst aufbringen muss. Und dann hat man noch immer nichts auf dem leergeräumten Gelände getan. Da kommen noch Parkgestaltungen dazu, für die Strieder in den nächsten vier Jahren 1,8 Mio. Euro bereitstellen will.

ME: Du diagnostizierst also Missmanagement?

Es gibt hier verschiedene wohnungswirtschaftliche Akteure, die nicht alle kompetent sind. Ein Teil der Platte liegt in den Händen der Genossenschaften, die erst langsam wieder aus der Versenkung auftauchen. Zum Teil sind das die so genannten Erwerbergenossenschaften, das sind oft nur ein paar Rechtsanwälte aus West-Berlin, die sich ein paar Wohnungen kaufen, oft im Streubesitz. Manche sind schlimmer als die Mieteintreiber vor hundert Jahren. Aber es gibt auch fantastische Leute, die ihren Laden wirklich in Ordnung haben.

Ein weiterer Teil des Wohnungsbestandes gehört den städtischen Wohnungsbaugesellschaften. Da gibt es Geschäftsführer, mit denen man alles besprechen kann, die haben einen enormen Ideenreichtum. Bei anderen fragt man sich, wo sie eigentlich gelernt haben. Dennoch gibt es unter den 50 Unternehmen, die in Marzahn tätig sind, nur eins, das wirklich ernsthaft in Nöten ist: die WBG. Die hat in den neunziger Jahren 35.000 Wohnungen übernommen, zwei Mio. qm Wohnraum, mit 150 DM/qm Altschulden. Sie haben dann verkauft bzw. saniert, aber in Marzahn sind immer noch rund 50 % unsaniert, in Hohenschönhausen oder Hellersdorf dürften es höchstens 25 % sein. Dafür hat die WBG in Marzahn-Nord dieses Niedrigenergiehaus gebaut, das nicht funktioniert. Sie haben die Ringelnatz-Siedlung errichtet, 600 Wohnungen, die 1997 fertig waren, als klar war, dass die Bevölkerung schrumpft. Sie leisten sich drei Geschäftsführer, und sie haben sich für 30 Mio. ein pompöses Verwaltungsgebäude gebaut - das allein ist soviel wie die Grobsanierung von 30 Aufgängen in Elfgeschossern. Die Häuser hier gegenüber z. B. gehören der Deutsch-Polnischen Freundschaft, einer Genossenschaft, die aus dem Ministerium für Post- und Fernmeldewesen hervorgegangen ist. Die haben mit zügigen, kleinen Maßnahmen und guter Organisation ein völlig neues Wohngefühl erreicht und haben so gut wie keinen Leerstand.

ME: Was gibt es sonst noch für Alternativen zum Abriss?

Es gibt viele Ideen: Man kann z.B. die Wohnungsgrundrisse großzügiger machen. Hier könnten ohne großen Aufwand richtig variable Grundrisse entstehen, die Zwischenwände sind ja nur vier Zentimeter stark.

Oder der Export: Die Schweden hatten in den 80er Jahren das gleiche Problem mit ihrer Platte. Dort hat man auch Rückbau probiert, aber sie haben auch exportiert. Die Platte ist demontierbar. Nach Untersuchungen der Uni Cottbus ist bei einem halbwegs guten Zustand rund ein Drittel der Plattenbauten wiederverwendbar. Warum soll man nicht versuchen, der Wohnungsnot in München mit wiederverwendeten Platten beizukommen? Zumindest könnte man sie lagern, um sie später wiederzuverwenden.

Als Sofortmaßnahme müsste man in allen Elfgeschossern die oberste Etage ‚leerziehen`. Die Aufzüge in DDR-Plattenbauten gehen sowieso nur bis zum zehnten Stock, die Wohnungen darüber könnte man versiegeln, ganz korrekt nach DIN, nach der Berliner Bauordnung: Ein Gitter auf die Treppe und die Leitungen gekappt, mehr braucht es nicht. Für die übriggebliebenen Mieter bedeutet das anteilig leicht erhöhte Betriebskosten, aber bei einem Elfgeschosser sind das nicht mehr als monatlich fünf bis zehn Euro für eine große Wohnung. So könnte man in Marzahn in ein paar Monaten zwischen 1500 und 2000 Wohnungen vom Markt nehmen. Und es gäbe einen kleinen Boom bei den lokalen Handwerksbetrieben, die so etwas selber machen könnten.

Mit solchen Maßnahmen bleiben die Häuser stehen und das Milieu wird geschützt. Im Grunde sind die Strukturen ja noch intakt. Die Verwurzelung im Viertel ist natürlich flach, weil hier nicht Generationen groß geworden sind, aber es gibt sie. Hier gibt es noch Reste der alten Hausgemeinschaften, nebenan betreiben sie noch eine Art Hausgemeinschaftsleitung weiter, wie in der DDR, nur grillen tun sie nicht mehr. Vor dem 1. Mai machen sie Großputz, da wird das ganze Umfeld gesäubert, früher hat man auch mal das Treppenhaus tapeziert. Solche Strukturen muss man schützen!

Das Wichtigste wäre aber, dass man eine Reserve behält. Eine Reserve an stillgelegtem Wohnraum, der mit geringem Aufwand wieder aktiviert werden kann, wenn wieder Bedarf besteht. Mit der Öffnung nach Osten z.B. werden sich die Polen, die jetzt noch im Grenzgebiet wohnen, in Berlin ansiedeln. Für diese Menschen gibt es hier genau das passende Angebot. Und es gibt erste Anzeichen, dass demnächst die Hochhäuser mit 19 und 21 Geschossen für junge Leute interessant werden, so wie letzten Sommer bei Dostoprimetschatjelnosti, dem Künstlerprojekt in Hellersdorf.

ME: Du sprichst von maximal 2000 Wohnungen, die mit der Versiegelung vom Markt genommen werden können. Der Leerstand liegt aber doch bei 10.000. Reichen solche kleinen Maßnahmen aus?

Das ist natürlich kein Konzept, das alle Leerstandsprobleme auf einen Schlag löst. Aber das tut der Stadtumbau Ost noch viel weniger. Der soll für ein Schweinegeld 3000 Wohnungen vom Markt nehmen, und zwar bis zum Jahre 2009, wenn die Situation in Berlin schon wieder ganz anders sein könnte.

Das Interview führte Johannes Touché.