Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr.293/2002

Widerspruch in sich: - Gesetzgebung zu Wohngeld und Existenzminimum

Cornelia Köster

Seit 1995 gibt es den sog. "Existenzminimumbericht". Er gibt Auskunft über die Bemessung des steuerfreien Existenzminimums. Dem Gesetzgeber wurde nämlich durch Beschluss vom 25. September 1992 vom Bundesverfassungsgericht auferlegt, dafür Sorge zu tragen, dass kein Steuerpflichtiger infolge der Besteuerung darauf angewiesen ist, seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von Staatsleistungen zu sichern. Diese einleuchtende Forderung musste tatsächlich erst gerichtlich erstritten werden. Zuvor nämlich wurde munter selbst noch ein Einkommen besteuert, das unterhalb des Sozialhilfesatzes lag.

"Eine der Grundideen der sozialen Marktwirtschaft ist, die breite Bevölkerung am materiellen Wohlstand teilhaben zu lassen." Aus: "Datenreport 1999", Bundeszentrale für politische Bildung

Das Verfassungsgericht hat 1998 noch einmal nachgebessert und festgelegt, dass die Grenze für das steuerfrei zu stellende Existenzminimum die sozialhilferechtlichen Sätze "über-, aber nicht unterschreiten darf". Der Höhe des steuerverschonten Existenzminimums liegt also die Höhe des Sozialhilfeanspruchs zu Grunde. Dies birgt einen Widerspruch in sich: Im Sozialhilferecht zählt der "individuelle Bedarf", der zwar durch Angemessenheit und "regionale Regelsätze" begrenzt wird, sich aber nach "den jeweiligen tatsächlichen Aufwendungen" richtet. Dadurch werden bei dem Sozialhilfeempfänger im Rahmen der "Richtlinien" die tatsächlich anfallenden Aufwendungen (insbesondere die Wohnkosten) von der Sozialhilfe übernommen.

Das Steuerrecht hingegen operiert "in typisierender Form", d.h. hier gibt es keinen Einzelfall, sondern nur die für alle Steuerpflichtigen geltenden Regeln.

Es muss eine Entscheidung darüber getroffen werden, wie dieser Ungleichheit beizukommen ist.

Die Bundesregierung erstellt alle zwei Jahre den "Existenzminimumbericht", in dem das steuerfrei zu stellende Minimum exakt beziffert wird. Inzwischen gibt es vier Existenzminimumberichte, zwei aus der Kohl- und zwei aus der Schröder-Zeit. Der letzte erschien im November 2001 und gibt die Zahlen für 2003 vor. (Im Internet z.B. unter http://dip.bundestag.de/btd/14/077/1407765.pdf, die Red.)

30 qm Wohnfläche für Geringverdiener ausreichend?

Betrachtet man im Vierten Existenzminimumbericht den Posten für Wohnkosten, so erscheinen zwei Dinge vollkommen ad absurdum geführt worden zu sein: erstens der Zweck des Wohngeldgesetzes und zweitens die Steuerfreiheit des Existenzminimums. Man glaubt es kaum, aber da steht tatsächlich, dass "für Alleinstehende eine Wohnung von 30 qm und für Verheiratete ohne Kinder eine Wohnung von 60 qm mit einfacher Ausstattung (ohne Sammelheizung und/oder ohne Bad) als angemessen angesehen" wird. Ein Erwerbstätiger mit einem Einkommen unterhalb der Steuergrenze erhält nur 3/5 der sozialhilferechtlichen Größe (siehe Infografik) zuerkannt. Und ohne sich zu fragen, wie viele Leute denn tatsächlich eine 30 qm-Wohnung bewohnen oder wie hoch denn die durchschnittlich von einer Person bewohnte Quadratmeterzahl und Miete in der Bundesrepublik ist, wird im Existenzminimumbericht darüber spekuliert, was denn diese paar Quadratmeter so kosten könnten: Die "maßgeblichen Quadratmetermieten" werden aus der - nicht veröffentlichten - Wohngeldstatistik 1999 abgeleitet und stützen sich somit auf Mieten von Personen, die Wohngeld bekommen haben und folglich nicht sehr hohe Mieten haben können. Der genannte Quadratmeterpreis für Wohnungen bis 40 qm beträgt angeblich 5,97 Euro bruttokalt (Laut Statistischem Bundesamt lag die Quadratmetermiete im April 1998 bei Kleinwohnungen bis 40 qm durchschnittlich bei 13,34 DM bzw. 6,82 Euro). Bei der Eheleute-Taxierung geht's sogar noch billiger, denn "für Wohnungen von 40 bis 60 qm Wohnfläche" reichen 4,55 Euro/qm. Dazu werden - außerordentlich moderate - jährliche Mietsteigerung von 1,5 % für 2000 und 2001 und von 2% für 2002 und 2003 hinzugezählt und so "die durchschnittliche monatliche Bruttokaltmiete pro Quadratmeter Wohnfläche" errechnet, wie sie sich die Regierung im Jahr 2003 vorstellt: 6,40 Euro/qm bzw. 4,88 Euro/qm. Im Bericht werden nun die o.g. "angemessenen" Wohnflächen von 30 qm bzw. 60 qm mit diesen Mietpreisen multipliziert. Das Ergebnis: Die monatlichen "zu berücksichtigenden" Bruttokaltmieten für 2003 betragen 192 Euro (375,52 DM) für Alleinstehende und 293 Euro (573,06 DM) für Verheiratete.

Sagenhaft, was da einem Erwerbstätigen an angeblicher Mietzahlung vom Finanzamt im kommenden Jahr nicht streitig gemacht werden darf! Diese lächerlichen Beträge unterschreiten sogar noch bei weitem die mickrigen Höchstbeträge der Wohngeldtabelle 2002.

Zum Vergleich: In Berlin wird gemäß den "Ausführungsbestimmungen über die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt" einem alleinstehenden Sozialhilfeempfänger derzeit eine Nettokaltmiete von 217,30 Euro (Altbau) und 222,41 Euro (Neubau ab 1950) im Westteil zugestanden, im Ostteil sind es 219,86 Euro bzw. 201,96 Euro. Der sich daraus ergebende Mittelwert beträgt 215,38 Euro. Werden zu dieser Nettokaltmiete noch 50,00 Euro (1,00 Euro/qm) kalte Betriebskosten hinzugerechnet, beträgt der hier anerkannte Bedarf zur Deckung der Wohnkosten 265,38 Euro bruttokalt. Der Existenzminimumbericht beziffert die notwendigen Aufwendungen für Wohnkosten jedoch mit nur 192,00 Euro. Geringverdienende scheinen also um 73,38 Euro geringere Wohnkosten zu haben, bzw. mit 72 % der Wohnkosten eines Sozialhilfeempfängers auszukommen! Begründet wird diese nicht mehr nachvollziehbare Unterschreitung der sozialhilferechtlichen Quadratmetergrößen und Wohnkosten damit, dass zur Ergänzung ja "Sozialleistungen, wie etwa Wohngeld" zur Verfügung stünden.

Steuern zahlen oder Wohngeld beantragen?

Hier hat sich der Gesetzgeber ein wahres Kunststück geleistet: Das Verfassungsgericht entschied vor einem Jahrzehnt, dass "kein Steuerpflichtiger (...) infolge einer Besteuerung seines Einkommens darauf verwiesen" werden darf, "seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von Staatsleistungen zu decken". Auch der Existenzminimumbericht bestätigt: "Soweit der Gesetzgeber jedoch im Sozialhilferecht den Mindestbedarf bestimmt hat, (...) darf das von der Einkommensteuer zu verschonende Existenzminimum diesen Betrag nicht unterschreiten." Soweit so gut. Jedoch nur wenige Absätze weiter führt der Existenzminimumbericht aus, es sei "dem Gesetzgeber (...) nicht verwehrt, sich bei der Bemessung des steuerfrei zu stellenden Betrags hinsichtlich der Wohnkosten an einem unteren Wert zu orientieren, wenn er zugleich zur ergänzenden Deckung des Bedarfs nach dem Einzelfall bemessene Sozialleistungen, wie etwa Wohngeld, zur Verfügung stellt."

Ja, was denn nun? Soll man von der "Inanspruchnahme von Staatsleistungen" verschont bleiben oder soll man Sozialleistungen bzw. Staatsleistungen "zur ergänzenden Deckung" aufgebürdet bekommen? Wohngeld ist unbestreitbar eine Staatsleistung; und gerade eine solche soll man laut Verfassungsgericht aber doch gerade nicht in Anspruch nehmen müssen, wenn gleichzeitig wenigstens das Existenzminimum vor dem Zugriff des Finanzamts geschützt wird. Und gleichzeitig praktiziert "der Gesetzgeber" die Herabminderungsmöglichkeit bei den Wohnkosten hemmungslos weiter und versäumt es nicht, im Existenzminimumbericht scheinheiligst darauf zu verweisen, "dass Bezieher niedriger Einkommen zur Abdeckung ihrer Wohnkosten nach Maßgabe des Wohngeldgesetzes (WoGG) Anspruch auf Wohngeld haben", allerdings nur: "soweit Höchstbeträge, die in Abhängigkeit von Haushaltsgröße, Ausstattung, Mietenstufe und Baualter festgelegt sind, nicht überschritten werden". So viel Unverfrorenheit muss man erst mal haben! Wohlgemerkt, es spricht die Regierung, der parlamentarische Gesetzgeber, die gewählten Vertreter der deutschen Bevölkerung. Dasselbe Organ hat wissentlich und absichtlich mehr als ein Jahrzehnt lang die "Höchstbeträge" im Wohngeldgesetz nicht den jedes Jahr fröhlich weiter steigenden Mieten angepasst.

Braucht es noch mehr Belege? Zu fordern ist deshalb: Dass beim Wohngeld wie im Existenzminimumsbericht die Wohnkosten mindestens nach den sozialhilferechtlichen Wohnkosten-Kriterien ausgerichtet werden. Es besteht Regelungsbedarf!

Darf der Staat durch seine Steuergesetzgebung den Bürger dazu bringen, existenzbedroht eine Staatsleistung zu beantragen? Darf der Staat mich zwingen, zum Wohngeldantragsteller werden zu müssen? Was in der Praxis heißt: Ich muss mich mit den hanebüchen irrealen Mietobergrenzen auseinandersetzen und meine Einkommens- und Wohnumstände einer Behörde offen legen, die mich dann mit einem Witz von "Mietzuschuss" abspeist - oder sogar mit der Nichtbewilligung von Wohngeld belästigt. Zugleich aber muss ich eine Miete zahlen, die in ihrer tatsächlichen Höhe im Wohngeldgesetz nicht berücksichtigt wird. Ich soll also zwischen den Fiktionen der Existenzminimumsfestlegung einerseits und denen der Höchstbeträge im Wohngeldgesetz andererseits zerrieben werden? Und dabei steht doch nur eins fest: Die Mieten in Deutschland befinden sich nicht auf dem zwergenhaften Niveau, das sich Parlamentarier für die existenzminimierte Bevölkerung ausgedacht haben. Aber was will man auch von einer Regierung erwarten, die erst zwangsweise durch Verfassungsgerichtsbeschluss, dazu gebracht werden musste, Kleinverdienern das Existenzminimum steuerfrei zu stellen?

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