Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr.293/2002

Strategischer Rohstoff Erdgas

Hermann Werle

Im Ministererlaubnisverfahren zur Übernahme der Ruhrgas AG durch den E.ON Konzern bestätigte der Staatssekretär Alfred Tacke am 18. September seine Entscheidung vom 5. Juli 2002. Unter nun erhöhten Auflagen darf die Fusion stattfinden. Mit dieser Entscheidung orientiert sich das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie sowohl an den Interessen der deutschen Großindustrie als auch am Rahmen einer neuen europäischen Großraumpolitik. Durch die starke Importabhängigkeit Deutschlands und Europas im Bereich der Energieversorgung bedarf es zur Versorgungsabsicherung starker international agierender Konzerne und einer ebenso starken politischen Flankierung. Der so gepriesene "freie" Wettbewerb tritt somit auf nationalstaatlicher Ebene in den Hintergrund.

Im Hörsaal des Wirtschaftsministeriums fand am 5. September eine weitere mündliche Verhandlung mit Vertretern des Ministeriums und der Erdgaswirtschaft statt. (Zur Vorgeschichte siehe MieterEcho Nr. 292, die Red.) In der ersten Reihe hatten die Energiebarone Burckhard Bergmann (Ruhrgas) und Ulrich Hartmann (E.ON) Platz genommen. Ihnen direkt gegenüber auf dem Podium sitzend, eröffnete Staatssekretär Tacke um 9.00 Uhr die Verhandlung, mit der die bemängelten Verfahrensfehler "geheilt" werden sollten. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hatte unter anderem die Nicht-Anwesenheit Tackes bei der ersten Verhandlung beanstandet. Ob sich das Gericht und vor allem die klagenden Unternehmen mit diesem Verfahren und den erhöhten Auflagen zufrieden geben, ist zweifelhaft. Unzweifelhaft ist hingegen, dass mit der erneuten Ministererlaubnis die Ansicht, einer Anwältin eines kleineren im Gasgeschäft tätigen Unternehmens bestätigt wurde, die Verhandlung sei eine "Alibiveranstaltung". Soll heißen, die Entscheidung Tackes war bereits im Vorhinein gefallen und mit der Verhandlung sollte lediglich der langwierige gerichtliche Klärungsprozess umgangen werden. Sollte das gelingen, sind negative Auswirkungen auf den Wettbewerb und damit auch auf die Preisbildung zu erwarten. Die Konkurrenz fürchtet deshalb im seit 1998 liberalisierten deutschen Gasmarkt zu kurz zu kommen, d.h. der Dominanz des entstehenden Megakonzerns E.ON/Ruhrgas machtlos gegenüber zu stehen und nur Krümel des großen Kuchens abzubekommen. Denn auch die kleineren Gasunternehmen handeln nach der Maxime der Profitmaximierung und nicht, wie sie es gerne darstellen, im Sinne verbraucherfreundlicher Preise.

Zeit der Daseinsvorsorge vorbei

Die Versorgung der Bevölkerung mit leitungsgebundenen Gütern wie Wasser, Gas, Strom und Telekommunikation oblag bislang der öffentlichen Daseinsvorsorge. Mit der Liberalisierung dieser Märkte setzte im internationalen Rahmen eine Welle von Übernahmen und Fusionen ein, die den europäischen Energiesektor grundlegend gewandelt haben. "Auf europäischer Ebene ist die weitere Expansion der Stromkonzerne in das Gas- und Wassergeschäft zu erwarten", prognostiziert Florian Haslauer von der Unternehmensberatung A.T. Kearney, und er führt weiter aus: "In Deutschland wird das Rennen um die Stadtwerke weitergehen." Grundlage dieser Entwicklung bilden die Strom- und Gasrichtlinien der EU zur Bildung eines einheitlichen Energiebinnenmarktes. Diese sind für alle Mitglieds- und Bewerberstaaten bindend, wobei die Privatisierung der staatlichen und kommunalen Versorgungsunternehmen und Leitungsnetze oberste Priorität haben. Gerade für die VerbraucherInnen in den osteuropäischen Staaten, wo die Energie- und andere Konsumgüterpreise wesentlich schneller steigen als die Reallöhne oder Arbeitslosenbezüge, hat diese Entwicklung schwerwiegende soziale Konsequenzen. Zudem ist mit einem massiven Stellenabbau in der Energiewirtschaft zu rechnen, den Haslauer für die Bundesrepublik auf 20 % beziffert. Die Deutsche Bank geht über derlei "Nebensächlichkeiten" lapidar hinweg. Vorbei seien die Zeiten, "als die europäischen Länder aus Gründen der Daseinsvorsorge und aus Angst vor Versorgungsengpässen ihre Energiepolitik rein national definierten und auch praktizierten." Daseinsvorsorge ist nach Meinung der Banker also von Gestern und hat im liberalisierten Markt keinen Platz. Dies überrascht kaum, sind doch die großen Finanziers maßgeblich im Energiesektor aktiv. Sowohl die Deutsche Bank als auch die Allianz als größte deutsche Finanzgruppen halten nicht unbedeutende Anteile an Energiekonzernen und sind in deren Vorständen und Aufsichtsräten vertreten. So hält z.B. der Allianz-Konzern 11,7 % an der RWE AG und 10,6 % an der E.ON, in dessen Aufsichtsrat u.a. Klaus Liesen und Henning Schulte-Noelle von der Allianz sitzen. Klaus Liesen hat außerdem Posten in den Aufsichtsräten der Deutschen Bank, der Preussag AG, der Volkswagen AG etc. und ist Vorsitzender des Aufsichtsrates der Ruhrgas AG. Hier war Liesen lange Zeit der strategische Planer, der dem Erdgas auf dem deutschen Energiemarkt zum Durchbruch verhalf und nach Meinung der Tageszeitung Die Welt "der eigentliche Kreative in der Schöpfungsgeschichte des Energie-Giganten E.ON-Ruhrgas" ist. Da Deutschland zunehmend von Erdgasimporten abhängig ist, hält Liesen es laut Der Welt für zwingend geboten, mit Investitionen über die deutschen Grenzen hinaus zu gehen und bereit zu sein, "in den Transitländern und gegebenenfalls in den Produktionsländern Geld einzusetzen und Projekte gemeinsam mit den Produzenten zu realisieren."

Diese Zielrichtung entspricht den Planungen der Europäischen Union, die Versorgungslage Europas weniger anfällig für Krisen zu machen. Welche politische und geographische Reichweite die Vorstellungen deutscher und europäischer Strategen haben, soll im Folgenden erläutert werden.

Bedeutungsgewinn des Erdgas

Etwa 6 % der Weltbevölkerung lebt innerhalb der EU. Der Verbrauch an weltweit produzierter Energie liegt indes bei 16 %. Im Gegensatz zum Wasser müssen die Energieträger Öl und Gas in großen Mengen importiert werden. Erdöl wurde bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur strategischen Ressource der auf Öl basierenden Industrienationen. Als Grundstoff der Energiewirtschaft sowie der Chemie-, Kunststoff- und der Automobilindustrie war und ist das schwarze Gold Dreh- und Angelpunkt geopolitischer Strategien. Ohne Öl könnten nicht einmal die Kriege ums Öl geführt werden. Erdgas wurde hingegen als Nebenprodukt der Ölförderung lange Zeit einfach abgefackelt.

In Westeuropa änderte sich dies erst mit der Entdeckung der niederländischen Erdgasfelder Ende der 50er Jahre. Naturgas verdrängte seither das Stadt- oder Kokereigas, welches aus Kohle hergestellt wurde. 1974 deckte Erdgas 5,4 % des Primärenergieverbrauchs in Westdeutschland ab. Ein Teil davon kam bereits aus der Sowjetunion. Auch in der DDR wuchs der Bedarf an Erdgas. Mit einem gewaltigen Aufwand und in Kooperation mit dem Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe wurde 1974 damit begonnen, die Erdgasvorkommen in der Sowjetunion zu erschließen. Zwischen 1975 und 1979 wurde die sogenannte "Drushba-Trasse" erbaut, über die die DDR mit Erdgas versorgt wurde.

Entscheidend für die Zunahme der Gasnachfrage war die Ölpreiskrise 1973, in deren Folge die westlichen Industrienationen versuchten, die Abhängigkeit vom Öl der OPEC-Staaten zu verringern. Trotz der Bestrebungen, durch effizientere Nutzung, Energieeinsparung und den Einsatz von Atomenergie und regenerativer Energiequellen unabhängiger von fossilen Energieträgern zu werden, ist 30 Jahre später festzustellen, dass nach wie vor fast 90 % des Energiebedarfs durch Öl, Gas und Kohle gedeckt werden und die Abhängigkeit der Industriestaaten auf Grund des absolut steigenden Energiebedarfs weiterhin zunimmt. "Diese Abhängigkeit hat erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen: sie schlagen 1999 mit 240 Mrd. Euro zu Buche, was 6 % der Gesamteinfuhren und 1,2 % des BSPs entspricht", wie das "Grünbuch" der Kommission der Europäischen Gemeinschaft feststellt und deshalb vorschlägt, die Ausgewogenheit und Diversifizierung der verschiedenen Energiequellen (nach Energieträgern und geographischen Zonen) zu fördern sowie den Beitritt der Erzeugerländer zur WTO anzustreben. Der Rolle des Erdgases wird dabei ein hohes Gewicht beigemessen und bis zum Jahr 2020 mit einem Zuwachs von 60 % gegenüber dem heutigen Verbrauch gerechnet. So soll bis zum Jahr 2030 die Hälfte des Stroms innerhalb der EU aus Erdgas erzeugt und neue Regionen an das Erdgasnetz angeschlossen werden. Vorgesehen - oder auch schon fertig gestellt - sind Gaspipelines quer durch Europa von Norwegen bis Portugal und darüber hinaus zu den Quellen in Algerien, Russland, Iran und anderen Ländern am Kaspischen Meer. "Geopolitisch betrachtet stammen 45 % der Erdöleinfuhren aus dem Mittleren und Nahen Osten, 40 % der Erdgaseinfuhren aus Russland, wobei die EU noch nicht über ausreichende Möglichkeiten verfügt, auf dem Weltmarkt Einfluss zu nehmen", resümiert das "Grünbuch" und spekuliert dabei auf eine weltpolitische Rolle, die der Vormachtstellung der USA Paroli bieten kann. Vorgesehen sind Mindeststandards von Erdöl- und Gasvorräten und langfristige Lieferverträge, aber vor allem auch die engere Anbindung Russlands.

Die militärische Dimension

Auch in militärischen Überlegungen hat die Rohstoffsicherheit an Bedeutung gewonnen. Der an der Bundeswehruniversität in München lehrende Professor und Generalleutnant a.D. Jürgen Schnell fordert die Heranführung des militärischen Gewichts der Europäer an dasjenige der USA und damit entsprechende Etaterhöhungen. Erst dadurch könne Europa den ihm gebührenden Platz in der Welt einnehmen. Entsprechend seiner wirtschaftlichen Bedeutung "muss Europa von seiner ökonomischen Perspektive her seine Außen- und Sicherheitspolitik global ausrichten und fähig sein, in dieser Dimension seine ökonomischen Interessen wahrzunehmen und Einfluss auszuüben." Mit der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), die nach übereinstimmender Ansicht beim Europäischen Rat in Köln am 3./4. Juni 1999 ins Leben getreten ist, befindet sich die EU auf dem Weg, ihren energiepolitischen Interessen auch militärisch Nachdruck zu verleihen. Ein Aspekt, der unter dem damaligen Verteidigungsminister Volker Rühe bereits 1992 in den Verteidigungspolitischen Richtlinien seinen Niederschlag fand. Demnach lässt "sich die deutsche Politik von vitalen Sicherheitsinteressen leiten". Zu den vitalen Interessen gehört u.a. die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung". Das bedeutet, wie es dann im Fazit ausgeführt wird: "Unter den neuen sicherheitspolitischen Verhältnissen lässt sich Sicherheitspolitik weder inhaltlich noch geographisch eingrenzen. Sie muss risiko- und chancenorientiert angelegt sein, Initiative und Gestaltungskraft entwickeln und Risikoursachen abbauen. Zukünftig muss aber politisches und militärisches Krisen- und Konfliktmanagement im erweiterten geographischen Umfeld eindeutig im Vordergrund unserer Maßnahmen zur Sicherheitsvorsorge stehen."

Folgt man den Ausführungen der Deutschen Bank Research, sind diese Überlegungen reinste Demagogie und um dies zu untermalen, wird sogar Lenin herbeizitiert: "Die Epoche Lenins ist mit der EU-Erweiterung endgültig vorbei, für ihn war Kommunismus noch ‚Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes' - die Altlasten in den Beitrittsländern sind das Erbe jener Zeit. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, dass länderübergreifend befreite Energiemärkte besser geeignet sind, den Wohlstand der Bevölkerung und der Länder nachhaltig zu steigern."

Man braucht kein Anhänger Lenins zu sein, man muss nur die Armutsberichte der Weltbank lesen oder die Folgen der Enron-Pleite zu betrachten, um zu erkennen, dass durch die Liberalisierung der Märkte die Verbraucher, ob in Deutschland, Russland oder Frankreich langfristig in die (Gas-)Röhre gucken werden.

Die E.ON - Ruhrgas Fusion erscheint zunächst als rein wirtschaftlicher Prozess, der kurzzeitig in den Wirtschaftsnachrichten Erwähnung findet. Die Implikationen zur internationalen Politik liegen jedoch sehr nahe und sollten gerade im sich anbahnenden - oder bereits begonnenem - Krieg um die Kontrolle der Öllagerstätten im Irak in seiner konfliktiven Dimension wahrgenommen werden.

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