Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr.293/2002

Wohnungswirtschaft schlägt Stadtplanung

Johannes Touché

Der Imbissmann in der Fußgängerzone hinter dem Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf konnte sich nicht zurückhalten: "Sie kommen aus dem Westen, oder?" Nichts für ungut, aber wenn dem so sei, müsse er mit seinen Ausführungen eben ganz von vorne anfangen: "Was hier in Marzahn los ist, versteht ein Westler nicht auf Anhieb!" Er sollte Recht behalten. Auch auf der Pressekonferenz im Bezirksamt, die wenig später begann, hatten alle einen Wissensvorsprung. Man kannte sich. Nur einige Spezialisten schienen sich für das Thema der Veranstaltung wirklich zu interessieren - es ging um den "Stadtumbau Ost". Das milliardenschwere Bundesprogramm, das die "Stärkung der Städte in den Neuen Ländern als Wohn- und Wirtschaftsstandorte" zum Ziel hat, kommt allmählich in Schwung. Die Ergebnisse eines Wettbewerbs um die besten Konzepte, für den das Bundesbauministerium im vergangenen Jahr fast 16 Mio. DM bereitgestellt hatte, wurden am 5. September in Potsdam vorgestellt und bewertet. Es wurden der erste, zweite und dritte Preis verteilt; in Berlin war Marzahn-Hellersdorf der Gewinner. Es ist nicht zufällig der einzige Bezirk, der mit einem nennenswerten Bevölkerungsrückgang zu kämpfen hat: Dass der "Stadtumbau Ost" nicht wirklich einen Um-, sondern vielmehr einen Rückbau der ostdeutschen Städte zum Ziel hat, ist allen Beteiligten klar. Dennoch bedankte sich das Bezirksamt artig: "Die Wettbewerbsauszeichnung ist für uns ein wichtiger Impuls für die Zukunfts- und Lebensfähigkeit unseres Bezirkes", ließ der Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung, Heinrich Niemann, der Presse mitteilen. Doch inzwischen erwägt seine Behörde, die Ehrung wieder zurückzugeben. In einem geharnischten Brief an Stadtentwicklungssenator Peter Strieder beschwerte sich Bezirksbürgermeister Uwe Klett über die "bisher nie da gewesene Arroganz" der Senatsverwaltung, die zu einer "ungezügelten Pressekampagne" gegen die Großsiedlung Marzahn geführt habe. Wenn sich ein erfahrener Politiker wie Klett von der Arroganz Strieders überraschen lässt, muss schon etwas ganz besonderes vorgefallen sein.

Verunsicherung

Der Grund für die Aufregung waren Presseberichte, in denen wenige Tage nach der Preisverleihung der Abriss von 2300 bis 2800 Wohnungen der Wohnungsbaugesellschaft (WBG) Marzahn angekündigt wurde, allesamt unsaniert, aber zu mehr als der Hälfte bewohnt. Eine böse Überraschung für die betroffenen Mieter, denen Reporter der Morgenpost die Nachricht gleich selbst überbrachten - nicht ohne sich in der anschließenden Reportage über deren "riesige Bäuche in Unterhemden" zu mokieren und die Verwahrlosung des "Abrissgebiets" aufs Anschaulichste herauszustreichen: "Kakerlaken im Schlafzimmer", "Mehlwürmer in der Küche", "Maden auf dem Balkon". Wenn es um die Diskreditierung der Platte geht, ist der westdeutschen Presse kein Klischee zu dumm.

Auch das Bezirksamt erfuhr von der Abrissliste, die Strieder im Alleingang mit der WBG ausgehandelt hatte, erst aus den Zeitungen. Zwar ist in den verantwortlichen Gremien, in denen neben Vertretern des Senats und der Wohnungsbaugesellschaften auch solche des Bezirks sitzen, u. a. von "Rückbau" gesprochen worden. Aber nur an der Marchwitzastraße wurde man konkret; die WBG hatte schon vor langem einen Abrissantrag für ein Hochhaus gestellt, das dort seit Jahren leer steht. Ein massenhafter Abriss aber, meint Stadtrat Niemann, sei nicht mit dem Bezirk abgestimmt und werde "von dem Wettbewerbsbeitrag nicht gedeckt".

Tatsächlich sind im preisgekrönten Entwurf keine konkreten Abrissplanungen verzeichnet. Nur an wenigen Stellen wird die Möglichkeit eines "Teilrückbaus" angedeutet, bei dem einzelne Stockwerke oder Gebäudeteile abgetragen werden. Das Hochhaus in der Marchwitzastraße, dessen Abriss das Bezirksamt in den nächsten Wochen genehmigen wird, ist auf dem Plan gar nicht zu finden. Niemand soll auf schlechte Gedanken kommen. Es gehörte zu den selbstverständlichen Übereinkünften der Planer des "Stadtumbau Ost", bei Leerstand immer behutsame Maßnahmen wie Wohnungsumbau, Teilrückbau oder Wohnumfeldverbesserungen zu bevorzugen - sonst wächst die Verunsicherung und die Leute ziehen noch schneller weg.

Dummerweise ist eine solch behutsame Stadterneuerung aber erheblich teurer als der Abriss und so ermunterte die Staatssekretärin für Bauen und Wohnen, Ingeborg Junge-Reyer, schon im Juli die WBG Marzahn zu einer "radikaleren Herangehensweise". Wie sie sich von der Morgenpost zitieren ließ, stehe beim "Teilrückbau die geringe Anzahl abgerissener Wohnungen in keinem Verhältnis zu den hohen Kosten". Die WBG soll abreißen - und basta! Strieder widersprach seiner Staatssekretärin nicht. Es geht um viel Geld: Um in den Genuss der Bundesmittel zu kommen, muss das Land Berlin den "Stadtumbau Ost" zur Hälfte kofinanzieren. Die Finanzpolitiker suchen nun nach Wegen, sich so schnell und billig wie möglich aus der Affäre zu ziehen. "Aber wenn wir nicht ein Konzept machen, an dem sich die Finanzer reiben müssen, dann haben wir schon verloren", meint Bezirksbürgermeister Klett.

"Aufwertung" und Marktbereinigung

Es wird nicht nur mit den Finanzern Reibungen geben: Im "Stadtumbau Ost" sind so unterschiedliche Interessen vereint, dass Streit vorprogrammiert ist.

Einerseits hat das Programm die anspruchsvolle Aufgabe, umsichtig und behutsam ein nie da gewesenes Phänomen der Stadtentwicklung - die fortschreitende Schrumpfung - stadtplanerisch zu organisieren. "Aufwertung vom Rückbau betroffener Städte" heißt dieses Ziel in der Programmbeschreibung, die das Bundesbauministerium vor Beginn des Wettbewerbs herausgegeben hat. Ob dabei an eine Aufwertung im Sinne von Luxussanierungen und Eigentumsumwandlung, an Verbesserungen der Infrastruktur oder an fantasievolle Zwischen- und Nachnutzungen gedacht war, ließ das Ministerium offen.

Andererseits geht es um die angestrebte "Reduzierung des Angebotsüberhangs an Wohnraum", die schlicht den wirtschaftlichen Interessen der Wohnungsbaugesellschaften dient. Diese haben sich mit den hektischen Sanierungen der vergangenen Jahrzehnte fast in die Pleite geritten und sehen nun in einer konsequenten "Marktbereinigung" ihre letzte Chance: Je mehr Wohnraum vernichtet wird, so das nachvollziehbare Kalkül, desto leichter finden sich Mieter für die verbleibenden Wohnungen, die dann dementsprechend teuer vermietet werden können. Dabei werden sich die Unternehmen weder um die strategischen Erwägungen der Stadtplaner noch um die Sorgen der Anwohner viel scheren. Im Gegenteil: Je größer die Angst in den noch unsanierten Häusern, von einem Tag auf den anderen in irgendwelchen Abrisslisten aufzutauchen, desto leichter kann man sie ,leerziehen'; desto mehr Nachdruck erhält auch die Forderung nach noch mehr Abrissen - bis der Wohnungsmarkt tatsächlich eng genug ist, dass man auf ihm wieder Gewinne erwirtschaften kann. Ähnliche Hoffnungen hegt auch die Bauindustrie: Sie würde zuerst an den Abrissen verdienen und könnte bei einem erneut steigendem Bedarf endlich wieder mit Bauaufträgen rechnen.

Die Aufgabe der Landespolitik wäre es nun, zwischen der Logik der Wohnungs- und Bauwirtschaft und den stadtplanerischen Notwendigkeiten zu vermitteln. In Berlin gab es hoffnungsvolle Ansätze. Die Stadt ist zwar keine Boomtown, aber mit Städten wie Wittenberge oder Schwedt, die seit 1990 fast die Hälfte ihrer Einwohnerschaft verloren haben, kann man sie nicht vergleichen. Strieder erwirkte darum eine Sonderregelung: Der Großteil der Mittel des "Stadtumbau Ost" soll nicht in Abrisse, sondern in eine städtebauliche Weiterentwicklung investiert werden. In Lichtenberg und Friedrichshain etwa, wo mehrere Viertel für das Bundesprogramm vorgeschlagen wurden, verschwinden nur ein paar öffentlichen Gebäude und Industrieruinen; der Rest der Planungen besteht aus Lückenschlüssen, Straßenverbindungen und Parkanlagen. Nahezu alle Projekte stammen aus mittlerweile abgewickelten Stadtentwicklungsprogrammen älteren Datums wie "Urban II", die vom Senat aus Finanzierungsgründen eingestellt worden sind. Auch diese Projekte sind nicht unumstritten: Viele BewohnerInnen oder Gewerbetreibende der betroffenen Viertel werden ihre Zweifel haben, ob etwa die "Erneuerung der Pfarrstraße nach historischem Vorbild" oder der "Rückbau der Gewerbeschuppen zwischen Matkowsky- und Haasestraße" wirklich vordringlich für ihren "Wohn- und Wirtschaftsstandort" sind. Aber im Gegensatz zu den jüngsten Abrissplänen für Marzahn kann man hier eine Stadtentwicklungspolitik erkennen, die auf eine Verbesserung der städtischen Strukturen abzielt - und nicht nur auf ihre Ausdünnung.

"Stärkung der Innenstädte" und Zerstörung der Platte

Bei den Planungen in Lichtenberg ist offenbar weder "Rückbau" noch "Marktbereinigung" das Thema. Hier geht es um das dritte und letzte offizielle Ziel des "Stadtumbau Ost": die "Stärkung der Innenstädte". Mit ihr will das Bundesbauministerium auf die massenhafte Stadtflucht reagieren, die seit 1990 die ostdeutschen Stadtkommunen regelrecht ausbluten lässt und zur Zersiedlung ganzer Landstriche führt. Statt neuer Einfamilienhaussiedlungen im Umland sollen in den Zentren der Städte hochwertige Wohngebiete entstehen, die auch wohlhabendere Schichten anziehen. In schrumpfenden Städten wie Leipzig oder Halle, wo die Innenstädte tatsächlich vom flächendeckenden Verfall bedroht sind, mag eine solche Strategie richtig sein. Aber in Berlin erfreuen sich die Gründerzeitviertel des Zentrums großer Beliebtheit und stehen unter wachsendem Aufwertungsdruck. Hier herrscht eher Wohnungsknappheit. In Berlin sind es die Plattenbausiedlungen, die eine aktive Förderung benötigen. Stattdessen bahnt sich nun folgendes Szenario an: Die Einfamilienhaussiedlungen im Speckgürtel wachsen weiter (angesichts der enormen Eigenheimförderungen und der unentschlossenen Verkehrspolitik besteht kaum Hoffnung, dass sich hier etwas ändert). Die innerstädtischen Gründerzeitviertel werden weiter aufgewertet. Und die Plattenbausiedlungen übernehmen die "Reduzierung des Angebotsüberhangs" und werden der Willkür der Wohnungsbauunternehmen ausgeliefert.

Zugegeben: In Marzahn ist der Leerstand zur Zeit vergleichsweise hoch; der Stadtteil ist aus der Mode. Aber das galt auch für Kreuzberg 36, bevor es nach Jahrzehnten des Verfalls in den 70ern und 80ern wiederentdeckt wurde. Hätte man damals nur auf die hohen Leerstandsquoten, die Verarmung der Bevölkerung und die enormen Instandsetzungskosten geachtet, die die altertümlichen - seinerzeit als hässlich und unpraktisch verschrieenen - Gebäude verursachten, wäre von den Gründerzeitvierteln kaum etwas übrig geblieben. Aber es gab Stadtplaner, Politiker und Kulturschaffende, die den Wert der gewachsenen sozialen Strukturen und die Schönheit und Angemessenheit der Architektur erkannten. Auch bei den Plattenbausiedlungen wird es noch dazu kommen: Schon jetzt beginnt ein Teil der kulturellen Avantgarde, sich für die Ästhetik der Platte zu interessieren. Die Platte hat Potential, und auch die Bewohner sind nicht so unzufrieden, wie uns die Berliner Stadtentwickler glauben machen wollen. Als ich dem Imbissmann erklärte, welcher traurige Anlass mich nach Marzahn geführt hatte, meinte er: "In Prenzlauer Berg kriege ich Beklemmungen, ich brauche diese Weite. Das geht hier vielen so. So was hängt einfach davon ab, wo man aufgewachsen ist."