MieterEcho
Nr. 283 - Januar/Februar 2001

Wohnungsbaugenossenschaften und staatliche Förderung

 

von Chaim Reich

In Berlin werden heute mehr als 180.000 Wohnungen von über 80 Wohnungsbaugenossenschaften verwaltet, d.h. über 10% des gesamten Wohnungsbestandes dieser Stadt. Ein nicht unerheblicher Teil! Ist er das stolze Ergebnis des erfolgreichen Konzepts Genossenschaft? Sicherlich auch das! Aber überlebensfähige Wohnungsbaugenossenschaften entstanden erst in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts, also verglichen mit den anderen Genossenschaftsformen, den Konsumgenossenschaften und den Produktivgenossenschaften erstaunlich spät. Das muss besondere Gründe haben, denn an Wohnungselend, dem damals nicht anders als durch Selbsthilfe hätte begegnet werden können, hat es während des ganzen Jahrhunderts wahrlich nicht gemangelt. Die Volkszählung von 1861 enthüllte erschreckende Zustände: "Ein Zehntel der Bevölkerung, 48 326 ,Seelen', hauste damals in Kellerwohnungen, und ihre Zahl stieg immer weiter. Fast die Hälfte aller gezählten Wohnungen, 51.909 von insgesamt 105.811 Wohnungen, besaß ... nur ein einziges heizbares Zimmer, das im Durchschnitt von 4,3 Personen belegt war. Aber rund 27.600 Menschen wohnten zu siebent, 18.400 Menschen zu acht, 10.700 Menschen zu neunt in einem Zimmer. Ja es gab Kleinwohnungen, in denen bis zu 20 und mehr Menschen zusammengepfercht waren." (Lange, 1980, S. 122) Zwar fand in den 1860er Jahren eine rege Bautätigkeit statt, aber die Nachfrage durch den Zustrom war höher und die Hauseigentümer verdienten daran. "Um die Mieten zahlen zu können, waren im Jahre 1871 rund 45.000 Berliner Familien gezwungen, Schlafstellen - das charakteristische Nachtlager unverheirateter und frisch zugezogener Arbeiter - anzubieten, und häufig genug wurde der Strohsack umschichtig benutzt; denn 60.574 ‚Schlafburschen' und 18.124 ‚Schlafmädchen' wurden damals gezählt." (Lange, 1880, S.123)

Es waren Zustände, die gefährlich erschienen. In sozialer Hinsicht sowieso, aber noch unmittelbarer in hygienischer und folglich gesundheitsbedrohender Weise gerade auch für die bürgerlichen Kreise, die dem Wohnungselend nicht ausgesetzt waren. Denn Krankheitsepidemien durch Typhus, Flecktyphus und Cholera hätten niemanden verschont. Und vor ihnen fürchtete man sich zu jener Zeit mehr als vor einer sozialen Revolution. Diese Furcht war denn auch schon seit langem die Triebkraft für die Gründung "gemeinnütziger Baugesellschaften" durch wohlhabende Bürger und Adlige als reine Wohlfahrtsorganisationen ohne jeden Selbsthilfecharakter. Ihre Lebensdauer war begrenzt, ihr Beitrag zur Linderung der Wohnungsnot kaum erwähnenswert. Altruismus in allen Ehren, aber zum Wohnungsbau ist Kapital erforderlich und damit gingen die noblen Gründer weit sparsamer um als mit Menschenliebe.

Doch auch die wenigen frühen, von Betroffenen getragenen und selbsthilfegestützten Genossenschaften überlebten wegen ihrer Kapitalschwäche die Wirtschaftskrise von 1874 nicht. Diese Situation zeigt mit zwingender Deutlichkeit, dass es neben der Unterstützung durch bürgerliche Förderer und der in Genossenschaften gebündelten Selbsthilfe der Betroffenen einer unverzichtbaren zusätzlichen Bedingung bedurfte: nämlich der durch den Staat geschaffenen rechtlichen und vor allem finanziellen Voraussetzungen. "Erst das Genossenschaftsgesetz ,Betreffend die Wirtschafts- und Erwerbsgenossenschaften' ermöglichte 1889 die Gründung von Genossenschaften mit beschränkter Haftungspflicht und beendete damit die Angst potentiell Eintrittswilliger im Konkursfall mit dem gesamten individuellen Vermögen haften zu müssen. Weiterhin schuf die Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetzgebung von 1889 - die die Vergabe von langfristigen und zinsgünstigen Krediten der Versicherungsanstalten an die gemeinnützige Wohnungswirtschaft vorsah - die Finanzierungsgrundlage für die Wohnraumerstellung der Baugenossenschaften." (Arndt/Rogall, 1987, S. 20)

Diese Auffassung wird auch von Klaus Novy geteilt: "Anders als die Arbeiterkonsumgenossenschaften, die seit den 90er (des 19. Jahrhunderts, C.R.) Jahren ihren Aufstieg ganz ohne Fremdkapitalhilfe finanzieren konnten, waren die Wohnungsbaugenossenschaften immer eigenkapitalschwach und daher auf die Finanzierungshilfen seitens privater und öffentlicher Förderer angewiesen. Es ist ein Mythos der Festtagsreden, dass Wohnungsbaugenossenschaften historisch auf die Selbstorganisation der Wohnungssuchenden zurückgehen." (Novy, 1983, S.23) Die direkte staatliche Förderung, parallel zu den durch Sozialversicherungen verordneten, setzte 1895 mit der Errichtung des - allerdings nur für Beamte vorgesehenen - preußischen Wohnungsfürsorgefonds ein. Der Kathedersozialist Karl v. Schmoller kommentierte die Entwicklung: "Die besitzenden Klassen müssen aus ihrem Schlummer aufgerüttelt werden; sie müssen endlich einsehen, dass selbst wenn sie große Opfer bringen, dies nur ... eine mäßige, bescheidene Versicherungssumme ist, mit der sie sich schützen gegen die Epidemien und gegen die sozialen Revolutionen, die kommen müssen, wenn wir nicht aufhören, die unteren Klassen in unseren Großstädten durch ihre Wohnungsverhältnisse zu Barbaren, zu tierischem Dasein herabzudrücken." (zit. nach Novy, 1985, S. 40)

Wohnungsbaugenossenschaften, so können wir dem Anfang ihrer Geschichte entnehmen, sind angewiesen auf Förderung. Dies hat sich bis heute nicht geändert. Der Beginn der staatlichen Förderung der Wohnungsbaugesellschaften leitete aber auch den Beginn einer staatlichen Wohnungspolitik ein. Zu befürchten ist, dass wir uns jetzt an derem Ende befinden. Und wieder scheinen die Genossenschaften eine Rolle im Zusammenhang mit dem politischen Paradigmenwechsel zu spielen. Diesmal als Feigenblatt für den Rückzug des Staates aus seiner Verantwortung. Solange sie dafür nützlich sind, werden Neugründungen auch finanziert. Danach aber werden auch sie im Haushaltsloch verschwinden.

Literatur: Arndt, Michael und Rogall, Holger: Berliner Wohnungsbaugenossenschaften. Berlin (1987) Lange, Annemarie: Berlin zur Zeit Bebels und Bismarcks. Berlin (1980) Novy, Klaus: Genossenschafts-Bewegung. Berlin (1983) Novy, Klaus und Prinz, Michael: Illustrierte Geschichte der Gemeinwirtschaft. Berlin/Bonn (1985)

 

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