MieterEcho
Nr. 282 - November/Dezember 2000

Bezirkskorrespondenz Kreuzberg

 

D er Wachturm am Kottbusser Tor

Von Martin Kaltwasser

Wachtürme sind nahezu vollständig aus dem Berliner Stadtbild verschwunden, nachdem sie jahrzehntelang zu den innerstädtischen Wahrzeichen gehörten. Allenfalls aus Tegel und Moabit ist man an deren Anblick noch gewöhnt, als allgemein akzeptierte, notwendige Maßnahme zur Verhütung von Ausbruchsversuchen aus den dortigen Justizvollzugsanstalten. Man kennt Wachtürme ansonsten noch aus fernen Krisengebieten und Kriegsschauplätzen als Militär- oder Gefangenenlagerarchitektur und Beobachtungsposten. Ein Wachturm am Kottbusser Tor? Das graugestrichene, sechs Meter hohe Bauwerk war vom 4. bis 21. November im Rahmen der Aktions- und Veranstaltungsreihe METROZONE auf der begrünten Mittelinsel des vielbefahrenen Verkehrsknotenpunktes aufgestellt.

Die Aufstellung des Wachturms zeigte eine Dimension auf, die bei der gegenwärtigen Diskussion um "innere Sicherheit" bislang keine Rolle spielte: Im Gegensatz zum modernen Pendant, der Videoüberwachung, stellt der Wachturm eine archaische Form der Kontrolle dar. Der Wachturm in der Mitte der Kreuzung stellt im Gegensatz zur Videokamera nicht nur einen Blickfang dar, er gibt auch zumindest teilweise die Identität des Beobachtenden preis. An einem Ort, der bei der Diskussion um Videoüberwachung öffentlicher Plätze in Berlin immer als einer der ersten genannt wird, entblößt die Aufstellung eines anachronistisch anmutenden Wachturms den Vorgang des Beobachten und des Beobachtetwerdens. Die sich inflationär steigernde Präsenz von Kameras in der Öffentlichkeit hat - oberflächlich betrachtet - längst ihren Schrecken verloren. Sowohl in den privatisierten ehemals öffentlichen Räumen von Einkaufszentren und Bahnhöfen, als auch in Kaufhäusern, Multiplex-Kinos, Urban Entertainment Centers und in Supermärkten, wird schon lange intensiv Videoüberwachung eingesetzt, um Räume und die sich darin bewegenden Menschen permanent kontrollieren zu können. Das schließt eine verstärkte Repression gegenüber denjenigen ein, die nicht in ein bestimmtes Konsumentenbild passen. Mit der Verbreitung der Auffassung, dass es "gefährliche Orte" gibt, die dadurch gefährlich sind, dass sich dort eine bestimmte "Klasse" habituell aufhält oder auch nur aufhalten könnte, verbreiten sich auch die Bemühungen, städtische Räume so zu gestalten, dass sie nicht mehr von vermeintlichen gefährlichen, armen Bevölkerungsgruppen betreten und genutzt werden können. Dies geschieht zum einen über bauliche Abgrenzung, Umbau und Privatisierung von öffentlichem Raum und zum anderen über verschärfte Überwachung sowie polizeiliche Intervention.

Das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg ist prädestiniert für eine kritische Aktion, die zu dieser Tendenz Stellung bezieht. Immer wieder wird von den selbsternannten law-and-order-Politikern dieser innerstädtische Ort als einer der ersten genannt, wenn es um das Ausprobieren, d.h. die Gewöhnung an Videoüberwachung im öffentlichen Raum geht. Zunächst sollen "nur" einige wenige, auserwählte öffentliche Orte videoüberwacht werden, denen durch phantasievolle Medienkampagnen in der willfährigen Presse ein extrem schlechtes Image angedichtet wurde: Breitscheidplatz, Alexanderplatz, Kottbusser Tor. Nach der wohlkalkulierten Testphase, deren "Erfolg" ohnehin schon vorher feststeht, werden dann andere Orte in die flächendeckende Überwachung einbezogen. So soll dem europäischen Vorbild England nachgeeifert werden, in dessen Großstädten heute niemand mehr weiß, wann er von welcher Kamera eingefangen wird, wann er auf wessen Bildschirm erscheint und was mit dem Videomaterial geschieht. Mehrere hunderttausend Kameras wurden in den letzten Jahren installiert, und in London beispielsweise wird man durchschnittlich dreihundert Mal am Tag mit öffentlichen Kameras aufgenommen.

Der Wachturm am Kottbusser Tor kommt dagegen geradezu altmodisch daher. Er ist gegenüber den oftmals geschickt getarnten Videokameras mitsamt seiner Besatzung weithin gut sichtbar. In modernen Überwachungszentralen werden die Bilder der anonymen Kameras gebündelt und mit digitaler Hilfe abgeglichen, ausgewertet und nötigenfalls gespeichert. Die Angst, beim Beobachten selber beobachtet, ertappt zu werden, ist dort nicht gegeben.

Das ist beim Wachturm anders. Auf der Mittelinsel einer umtosten Kreuzung installiert, die durch ihre axial-räumliche Anordnung im Stadtraum wie ein Panopticon* wirkt, ist der Wachturm mitsamt seiner Besatzung theoretisch allen Blicken ausgeliefert, gleichwie das Gegenüber, die Menschen, die diesen Ort frequentieren, ebenfalls der permanenten Kontrolle durch die Wachturmbesatzung ausgeliefert werden.

"Das Panopticon, das so sorgfältig geplant worden ist, damit ein Aufseher mit einem Blick so viele verschiedene Individuen beobachten kann, erlaubt es jedermann, den kleinsten Wächter zu überwachen. Die Sehmaschine wird ein Glaspalast, in dem die Ausübung der Macht von der gesamten Gesellschaft durchschaut und kontrolliert werden kann." (Foucault, M., Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/Main 1977, S, 266) Dieses Offenlegen von Observation macht jedoch Sinn: Die gegenseitige Sichtbarkeit der Beobachteten und der Beobachtenden seziert, ja demokratisiert das Überwachen. Die Beobachteten können ihre Kontrolleure bei der Arbeit begutachten und selber kontrollieren, der Wachturm ist eine kleine Bühne mit Wachleuten als Akteure im Inneren. Man kann sie ansprechen, eventuell mit ihnen kommunizieren - und doch sind die Machtverhältnisse klar festgelegt. All dies ist bei Videokameras nicht einmal theoretisch denkbar.

Durch sie hat das Beobachten aber zusätzlich eine neue Dimension gewonnen: "Ursprünglich herrschte zwischen Beobachter und Beobachtetem ein eindeutiges, hierarchisches Verhältnis. Heute, in Zeiten von Big Brother, der veröffentlichten Wohnzimmer-, Bett- und Duschüberwachung zur Volksbelustigung, in denen die Befriedigung des gemeinen Voyeurismus direkt mit Aufmerksamkeit und Ruhm belohnt wird, sieht dies anders aus. Gesehen werden, ohne selbst zu sehen, ist populär. Es vollzieht sich eine Umwertung und damit Nivellierung der Machtverhältnisse."

Der bewusst grobschlächtig gestaltete, im bekannten Grauton einer Berliner "Wachschutzfirma" gestrichene Wachturm soll dazu provozieren, sich mit dem Vorgang von Kontrolle und Überwachung direkt auseinanderzusetzen. Ein noch so paramilitärisch und brachial aussehender, im städtischen Raum aufgestellter Wachturm ist trotz der möglicherweise evozierten negativ konnotierten Bilder immer noch humaner, sinnlicher erfahrbar, einschätzbarer und vor allem angreifbarer als jede im öffentlichen Raum installierte Videokamera. Es sei denn, der Wachturm selber wird durch Videoüberwachung geschützt.
Anmerkung:*) Das Panopticon

Sein Prinzip ist bekannt: An der Peripherie ein ringförmiges Gebäude; in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Ringes öffnen; das Ringgebäude ist in Zellen unterteilt; sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach innen, das auf die Fenster des Turmes gerichtet ist, und eines nach außen, so dass die Zelle auf beiden Seiten von Licht durchdrungen wird. Es genügt demnach, einen Aufseher im Turm aufzustellen und in jeder Zelle einen Irren, einen Kranken, einen Sträfling, einen Arbeiter oder einen Schüler unterzubringen. Vor dem Gegenlicht lassen sich vom Turm aus die kleinen Gefangenensilhouetten in den Zellen des Ringes genau ausnehmen. Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar. Die panoptische Anlage schafft Raumeinheiten, die es ermöglichen, ohne Unterlaß zu sehen und zugleich zu erkennen. (...) Die Sichtbarkeit ist eine Falle. (Foucault, M., a.a.O.)

Weiterführende Literatur zum Thema Überwachung/Kontrolle/ städtischer Raum:
Kommende Transparenz. Arch+ Nr. 144/154, Berlin 1998.
Das vernetzte Haus. Arch+ Nr. 152/153, Berlin 2000.
Oettermann, S., Das Panorama. Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt/ Main 1980.
Foucault, M., Überwachen und Strafen.
Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/Main 1977. Sicherheitskonzepte.
Die Beute, Herbst 94, Berlin 1994.
Ronneberger, K./ Lanz,S./ Jahn,W., Die Stadt als Beute, Bonn 1999.
Davis, M., City of Quarz, Berlin/Göttingen 1994.
Krasmann,S./deMarinis,P., "Machtintervention im urbanen Raum", in: Kriminologisches Journal 29, 1997.
Poyer,B., Design against crime, London/Boston 1998

Der Wachturm am Kottbusser Tor, ein temporäres Bauwerk von Metrogap e.V., war im Rahmen der Veranstaltung METROZONE vom 4.11. bis 21.11.2000 auf der Verkehrsinsel des Kottbusser Tores in Berlin-Kreuzberg aufgestellt. Planung und Bauleitung erfolgte durch das Architekturbüro Kaltwasser, Berlin. Die Aktion wurde freundlich unterstützt durch das Kunstamt Kreuzberg und das Tiefbauamt Kreuzberg.

Kontakt:
Metrogap e.V., Verein für städtische Theorie und Praxis, Mariannenstr. 32, 10999 Berlin
metrogap@gmx.net
Tel.: 030-61288788 / 6917901

 

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