MieterEcho
Nr. 274 - Juni/Juli 1999

Das Trauma der ´zerstörten Städte´ - Über Grunderfahrungen und Gemeinsamkeiten zwischen Guernica und Warschau, Coventry, Dresden, Hiroshima, Beirut, Novi Sad...

 

von Simone Hain

Es gibt Lieder, die das unfaßbare Elend des Krieges gegen Städte in Worte fassen, wie "Fly little bird to Hiroshima" oder "Madrid, du Wunderbare, wer hat dich verraten?". Wir kennen Bilder wie das des rauchgeschwärzten Engels hoch über dem zerstörten Dresden oder Picassos "Guernica". Speziell wer in Dresden aufgewachsen ist, hat zumindest einmal im Jahr die lange Liste der schicksalsverwandten Schwesterstädte in der ganzen Welt vortragen gehört – unvollständig. Kaum eine andere deutsche Stadt hat über vierzig Jahre hinweg das Erinnern an den 13. Februar 1945 so kultiviert wie das sächsische "Elbflorenz". Unangemessen und anstößig – weil antiwestlich – wurde das nach der deutschen Vereinigung empfunden. Es ist auch sonst in der Welt kaum üblich, öffentlich Klage zu halten über den Tod von Städten. Man errichtet Denkmale und überläßt den Künstlern das Feld der Trauer. Eher selten sind Gesten der Mahnung international so populär geworden wie die Papierkraniche aus Hiroshima. Auch eine sachlich-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema steht erst in den Anfängen. Noch sind vergleichende Untersuchungen zur Geschichte des Wiederaufbaus kriegszerstörter Städte eher rar.

Fazit in Lorient: Kriegsverluste letztlich nicht wieder gut zu machen
Immerhin fanden 1983 und 1993 in der bretonischen Stadt Lorient - 1943 beim alliierten Angriff auf den anliegenden deutschen U-Boothafen zu 95% zerstört - Konferenzen zu diesem Thema statt, bei der die Forscher sehr eindeutige Bilanzen ziehen mußten: Nur ganz wenigen Städten ist nach ihrer Zerstörung ein befreiender Neuanfang gelungen. Middleburg in den Niederlanden und eventuell noch Saint-Nazaire in Frankreich schätzen sich ausdrücklich glücklich ob ihres gelungenen Wiederaufbaus.
Alle anderen, seien es die Hafenstädte an der norwegischen oder baltischen Küste oder Coventry, Wolgograd oder Kiew, tragen noch ein halbes Jahrhundert später schwer an der traumatisierenden Erfahrung, daß die Verluste des Krieges bei aller Liebe nicht wieder gut zu machen sind. Selbst in Polen hat man dies erfahren müssen, wo man erst heute den Mythos der weltweit vollkommensten Wiederherstellung des Alten zu hinterfragen beginnt. Hier hat man die multikulturellen, ja überwiegend deutsch besiedelten Städte und Viertel durch baugeschichtliche Auslese oder künstlerische Phantasien retrospektiv polonisiert, die Stadt und ihre Kirchen buchstäblich gegen den recht komplizierten historischen Strich gebürstet - und jüdischer Alltag ist nach Krakau oder nach Muranow schon gar nicht zurückgekehrt.

Unter Bomben birst auch die Identität der Stadt
Im modernen Luftkrieg geht also weit mehr in die Brüche als Fabriken, Brücken und Häuser an sich. Immer wird zugleich die Legitimität oder die kulturelle Repräsentation der jeweiligen Bevölkerung mitverhandelt. Mit den von
Alters her überlieferten Gegenständen werden im übertragenen Sinne die Verbindungsgänge zu einer gewachsenen und meist ausdifferenzierten Vergangenheit verschüttet, die für das kollektive Gedächtnis der Stadt wesentlich sind. Ganz nebenbei wird durch die Bomben auch die kulturelle, soziale und demographische Kodierung der Stadt erschüttert und alles bis dahin Selbstverständliche nachhaltig problematisiert.
Jeder Neubeginn hat als Aufbauplan zugleich bereinigende Wirkungen. Er bedeutet immer - selbst ohne den ausdrücklichen Vorsatz der deutschen Raumordnungs- und Kulturpläne für die eroberten Ostgebiete - den Auftakt zu einer veritablen Säuberungsaktion. Die Neigung zur tabula rasa ist immer groß. Nach den Aufräumungsarbeiten werden die Räume eigentumsrechtlich neu geordnet oder zumindest veränderte Normen und Standards festgelegt. Dabei steht es zum Beispiel frei, ob man der lästigen Industrie am Hafen künftig den Rücken kehrt, die Flußufer freilegt oder bebaut, ob man landschaftlich die Trümmer zu Bergen und Tälern moduliert oder die Kanäle und Buchten damit verfüllt, ob nicht künftig alle Häuser zur Sonne ausgerichtet werden müßten, ob man noch im eignen Hause arbeiten oder wieviele Kinder eine Familie zweckmäßigerweise haben sollte. Selbst die Frage nach Tierhaltung, Selbstversorgung, nach Art und Zahl der in der Stadt möglichen Verrichtungen, nach Wohlfahrt der Alten und Erziehung der Kinder hängt von den je futuristischen, sozialreformerischen oder wertkonservativen Wiederaufbauplänen der Besatzer oder Befreier der Städte und von deren Geldgebern ab. Sie bestimmen über die künftige Psyche der lokalen Gemeinschaft.

Die Stadt und ihre "Seele"
Aber haben Städte überhaupt so etwas wie eine "Seele"? Kann man davon sprechen, daß sie mit den Gemäuern, Grundstücksmustern, den charakteristischen Gerüchen und kaum merklichen Luftbewegungen zugleich auch ihre "Identität" verlieren? Ging mehr verloren als ein Postkartenmotiv, als die Brücke von Mostar in Trümmer fiel? Bis heute gilt es in Italien als Mysterium, daß die deutsche Heeresleitung 1944 bei ihrem Angriff auf Florenz alle strategisch wichtigen Arnobrücken zerstört hat - mit Ausnahme der altehrwürdigen Ponte Vecchio. Wenn nicht ein Schutzengel im Spiel war, gibt es das - Gefühle angesichts von alten Gegenständen? Offensichtlich ist das so.
Da brennt eine Stadt, und bis zur letzten Minute läuten die Glocken der Kathedrale, ehe sie mit dem lodernden Gebälk des Turmes in die Tiefe stürzen, wo sie beim Aufschlag zerschellen. Die mächtigen Bronzescherben zweier dieser Glocken dienen seither dem Gedenken an die Unglücksnacht von Lübeck. Unheimlich monumental verkörpern sie alles zugleich: Die harte Arbeit der Glockengießer, den Stolz ihrer Stifter und den Anspruch der Bürgerschaft, aber auch das ohnmächtige Läuten und die Wucht des einstürzenden Kirchendaches, das die Schutzsuchenden unter sich begräbt.
Ich erinnere mich gut an die kleine Hand, die sich beim Besuch der wiederaufgebauten Marienkirche in meine schob, und die flüsternde Jungenstimme: "Mama, ist das sehr schlimm, daß mir die beiden Glocken mehr leid tun, als die vielen Menschen, die hier umgekommen sind?" Ich hatte dem Kind gerade - selbst mit einem Kloß im Hals - vorgelesen, über wie viele Menschengenerationen hinweg die Glocken von Sankt Marien alljährlich Weihnachten und Ostern eingeläutet hatten. Ihr Geläut sollte an die Ewigkeit appellieren und auf Menschengedenken hin die Lübecker Christen zum Gebet einladen, ihr Verlust kann durchaus auch ein Kind am Ende des 20. Jahrhunderts schwer bekümmern.
Aus welchem anderen Grund auch - wenn nicht aus einem sehr ursprünglichen "Leidtun" - klauben die Dresdener unter unendlichen Anstrengungen die Steine der nach Brand zusammengefallenen Frauenkirche wieder auf? Wenn schon nicht die Menschen zu retten waren, vielleicht kann man das, was über das einzelne Leben hinausreicht, das Werk von ihresgleichen, für die Zukunft noch einmal zusammenfügen? Einfach, weil es einem das Herz zerbricht,
vor diesen Trümmerhaufen zu stehen. Sei es in Dresden, in Mostar oder auch vor der Kathedrale von Rouen, die mit den sie umgebenden Wohnvierteln 1914 General Ludendorffs Blitzkriegsplan zum Opfer fiel.

Wer kennt all die ausgelöschten Städte und Dörfer?
Noch hat sich nicht einmal jemand der Mühe unterzogen, eine Liste aller in diesem Jahrhundert von Menschen ausgelöschten Städte und Dörfer zu erstellen. Das Thema des Wiederaufbaus ist bislang allein von der Urbanistik als das eines besonderen Planungstyps untersucht worden. Psychologen, Ärzte, Poeten, Soziologen, Kulturhistoriker haben sich bislang nur in ausgewählten Einzelfällen - besonders im Zusammenhang mit dem Libanon - engagiert. Noch ist nicht einmal das ganze Material bekannt. Wir warten auf die Übersetzung neuerer japanischer, polnischer und ukrainischer Untersuchungen. Andere Länder wie Vietnam oder Nordkorea sind noch zu sehr in existentiellen Fragen gefangen, sich dem Problem überhaupt distanziert nähern zu können.
Immerhin gibt es seit der 1994er Konferenz mit der "Internationalen Assoziation der wiederaufgebauten Städte" ein Netzwerk, das die Bürgermeister von Shiauliai, Ludwigshafen, Le Havre, Saint-Nazaire, Royan, Maubeuge, Brest, Lorient begründet haben. Sie haben sich verpflichtet, den Austausch von Experten und vor allem die Solidarität untereinander zu befördern. Die Schweizer Architektin Cristina Storelli hat das Programm des Verbandes im Namen des Europarates begrüßt. Seither waren die Anstrengungen der Aktion "Kulturerbe ohne Grenzen" vor allem auf Rettungsaktionen für Bibliotheken, Bauten und Kunstwerke in Kroatien und Bosnien gerichtet.

Der lange Weg zu neuer Normalität
Glaubt man den Berichten der Forscher, scheinen die Probleme des Wiederaufbaus überall und immer die selben zu sein - unabhängig übrigens davon, wessen Bomben hier fielen oder aus welcher Himmelsrichtung die Geschosse gefeuert wurden, allerdings sehr verschieden je nach dem, wer am Ende die Zeche bezahlt. Immer steht zuerst die Frage des unmittelbaren Überlebens, in Ruinen oder auf der Flucht zunächst, dann in Baracken und Zelten, später streng rationiert in den ersten Neubauten.
Dauert der Krieg wie im Libanon oder in Palästina Jahrzehnte oder werden die Grenzen nach einem Krieg verschoben, gibt es vor Ort meist keine Bevölkerung mehr, dann muß man das städtische Subjekt erst neu erfinden.
Außerdem bedarf es angesichts der Ausmaße moderner Luftkriegsführung immer eines möglichst tragfähigen Finanzierungsprogramms, das sich je nach Ausgang des Krieges aus staatlichen Anleihen, Wiedergutmachungen, Spenden, internationalen Transferen oder auf Selbsthilfe und Muskelkapital der Bewohner begründen kann.
Es braucht die planenden Eliten, know how, Grundsatzdebatten über Wertigkeiten, Ziele und Zwecke, ehe noch der eigentliche Aufbau beginnen kann. Das ist bei guter Logistik meist innerhalb der ersten zehn Jahre nach Kriegsende möglich.
Viel länger aber dauert es in der Regel, ehe in den in ihrem Lebensnerv getroffenen Städten etwas wie eine neue Normalität entstehen kann. Hierzu gibt es bislang noch sehr wenig vergleichende Untersuchungen, aber allein die vorliegenden französischen Analysen über die psychosozialen Folgen des radikal stadtverändernden Wiederaufbaus von Brest, Le Havre oder von Dünkirchen sprechen Bände über seelische Verwerfungen.
Niemanden braucht man diesen langen Weg der Normalisierung weniger erklären als den Einwohnern Berlins, die vierzig Jahre lang außergewöhnlich an den Kriegsfolgen getragen haben. Fünfzig Jahre nach Kriegsende wird - nach der vollendeten Wiederherstellung der Neuen Synagoge und des deutschen Doms am Gendarmenmarkt - nun auf der Museumsinsel die letzte verbliebene Ruine für den Wiederaufbau vorbereitet. Niemand hat sich nach dem Krieg ein einigermaßen realistisches Szenario gestatten dürfen. Schon die fünfundzwanzig Jahre, von denen Baustadtrat Hans Scharoun 1945 ausging, schienen den Politikern als fatalistischer Gedanke.

Wessen Prägung tragen wiederaufgebaute Städte?
Im ersten Weltkrieg waren es deutsche Waffen, die prächtige Städte wie Brügge und Lüttich zerstörten. Die Reparationszahlungen des Verlierers und amerikanisches Mitleid ermöglichten im Fall der flandrischen Altstädte einen passionierten und recht luxuriösen Wiederaufbau, der "authentischere" Renaissancebauten zurückließ, als es je zuvor hier gegeben hatte.
Die von bulgarischen Truppen 1913 zerstörten ostmakedonischen Städte, allen voran das jüdische Thessaloniki, wurden dagegen ganz im Sinne der Berliner Reformsozialisten um Georg Simmel und Gustav Schmoller als moderne Gartenstädte wiedererrichtet. Hier war es das moderne Griechenland, das sich kulturell im Gegensatz zur kolonialen osmanischen Vorgängerkultur präsentieren wollte. Nichts sollte hier länger türkisch wirken.
Nach dem selben Wirkmechanismus wurde das von wechselnden Truppenverbänden verwüstete litauische Shiauliai, eine überwiegend jüdische Stadt, nach dem Zweiten Weltkrieg städtebaulich wie demographisch nachhaltig sowjetisiert. Der Marshallplan dagegen band den ehemaligen Feind Deutschland auf das wirkungsvollste in die Einflußsphäre der zweiten großen Siegermacht dieses Krieges ein, was zu einer Amerikanisierung des Stadtbildes in Gestalt von modernen Geschäftscities, high ways und Firmenrepräsentationen führte. Der Wiederaufbau von Riga und von Frankfurt am Main sind zu exemplarischen Symbolen subkutanter Kolonisierung durch die Supermächte geworden.
Wenn vielleicht nicht gewollt - dies sind nachweislich Effekte der Kriegsführung gegen Städte. Sie werden am Ende zu investiven Vorposten, kulturellen Schaufenstern und strategischen Brückenköpfen der jeweiligen Siegermächte und verlieren - schon durch die monetären Zuwendungen - weitgehend ihre lokale Autonomie. Nirgends kann man das besser studieren als am Fall der Frontstadt des Kalten Krieges. Berlin ist noch manche Erkenntnis über Spätfolgen von Zerstörungen wert.

Luftkrieg und Zivilbevölkerung
Die rasante Entwicklung der Flug- und Raketentechnik veränderte am Vorabend des Zweiten Weltkrieges die Kriegsführung. Das republikanische Städtchen Guernica ist die erste Stadt, in der ausdrücklich die Zivilbevölkerung mit einem "Bombenteppich" belegt wurde. Aber diese perverse Innovation war erst der Auftakt zu jedesmal neuen Rekordleistungen. Die Zerstörungen von Coventry, Rotterdam und - auf das wütendste - Belgrad sollten noch folgen. Schließlich sanken unter angloamerikanischen Einsätzen auch die deutschen Städte in Schutt und Asche: Hamburg, Pforzheim und Köln, Frankfurt, Danzig und Dessau, Königsberg und Breslau.
Eine letzte Pervertierung des Krieges gegen die Zivilbevölkerung allein blieb den "Weißen" in Deutschland erspart und wurde statt ihrer an einer aus der Sicht der kriegsführenden Eliten farbigen Bevölkerung statuiert: Die Atombombe. Erst nach vierzig Jahren sind scheibchenweise die klar rassistischen Motive der damaligen Zielbestimmung in den USA offensichtlich geworden. Auf die eigene Rasse hätte man das "baby" nicht abgeworfen. Mit ihrem Menschenversuch war die US-Air Force in die unheilvollen Fußtapfen der rassistischen deutschen Kriegsführung gegen Warschau getreten. Ausdrücklich waren in den Zielplänen des Reichsluftfahrtministeriums jene Viertel mit mehr als der Hälfte jüdischer Bevölkerung als erstrangige Ziele markiert.

Die Kriegserfahrung der Bewohner
Nun stelle man sich vor - die flandrischen und ostpreußischen Städte sind im Laufe einer Generation gleich zweimal zerstört worden: 1914-18 und 1940-45. Belgrads Bevölkerung, die nun gar zum dritten Mal Krieg erlebte, kann die Erinnerung an Bombenalarm nach fünfzig Jahren möglicherweise schon fast vergessen gehabt haben. Ab wann verliert sich eigentlich der Schrecken? Ist die Angst vor Krieg nur an die Zeitzeugen gebunden oder wird Kriegsgegnerschaft eventuell ebenso kulturalisiert wie der Wohlstandsbauch bei Nachkommen aus Hungermilieus?
Vor vier Jahren haben wir im Zuge eines Forschungsprojektes über den Berliner Wiederaufbau Interviews mit Erstbeziehern der legendären Karl-Marx-Allee gemacht und waren einigermaßen überrascht, wie schnell wir beim Stichwort "7.Oktober" auf teilweise dramatische Kriegserlebnisse stießen.
Eigentlich sollte es jeweils um die Festkultur und die Aufmärsche in Ostberlins neu aufgebauter Prachtstraße gehen, wenn wir die Bewohner nach ihrer Anteilnahme an staatlichen Ritualen befragten. Fast alle Interviewpartner zogen spontan eine eindeutige Demarkationslinie. Am 1. Mai seien sie selbst mehr oder weniger exponiert im Zug mitgegangen - sogar stolz gewesen -, aber am 7.Oktober hätten sie höchstens vom Balkon aus mal nach dem "Gerät" geguckt. Der "Tag der Republik" wurde im Gegensatz zum "Tag der Arbeit" wegen der Militärparaden oft verächtlich kommentiert. Und wir - meine italienische Kollegin und ich - brauchten nur erstaunt die Augenbrauen zu heben, um sogleich erschütternd gute Gründe für die Aversion gegen Uniformen, Panzer und Gleichschritt zu erfahren.
Ein Mieter hatte sechzehnjährig als Volksturmjunge im Keller des Reichsluftfahrtministeriums herzzerreißend zu Adolf um die Wunderwaffe gebetet, um danach, als der Krieg vorüber war, sehr allmählich, sehr gründlich und äußerst gewissenhaft alles noch einmal zu ergründen, was ihm zuvor vollkommen eindeutig dargestellt worden war. Er sei unvorstellbar verblendet gewesen und habe schließlich gelernt, keinem anderen Urteil als dem eigenen zu vertrauen.
Eine Frau wiederum erzählte, jemand habe sie - das damals aus Berlin evakuierte Schulmädchen - auf der Flucht bei Küstrin in einen Schützengraben gestoßen und im selben Moment sei der russische Panzer schon über ihr hinweg gerollt: "Können sie sich vorstellen, wie ich immer zitterte, wenn die ihr Gerät spazieren fuhren?". Und die Kaufmannstochter aus Dresden erzählt, sie sei die einzige aus der Familie, die den 13. Februar überlebt habe. Zuletzt sei sie mit der Großmutter zu den Elbwiesen geflüchtet. Zuerst habe der Pelzmantel von Omi gebrannt und dann die Haare. Sie habe bis 1953 an siebzehn verschiedenen Adressen gewohnt, meist mit mehreren Familien in einer Wohnung, eine zeitlang auch in der Fabrik, in der sie Arbeit gefunden hatte.
Schon als wir diese Gespräche 1995 aufzeichneten, teilten uns die Gesprächspartner ihre große Besorgnis ob des damals von ihnen bereits beunruhigt wahrgenommenen Normalisierungskurses der Bundeswehr mit. Dieses Inferno, das man erlebt habe, könne doch nur einen einzigen Sinn gehabt haben, nämlich ein für alle Mal den Krieg zu bekämpfen. "Wir und die Russen", hieß es, sollten uns stellvertretend für alle Völker der Aufgabe universeller Abrüstung stellen.

Kriegserfahrung in der Verdrängung
Ab wann wird ein solcher Schwur als kulturelles Kapital unwirksam? Wenn sich die Kriegslücken mit Neubauten schließen oder die letzte Ruine verschwunden ist? Begann die Verdrängung, kaum daß alle wieder eine eigene Wohnung hatten? Oder in dem Moment, als die Sirenenprobe eingestellt wurde, diese letzte Mahnung an die Bombenächte mitten im Frieden! Immer mittwochs um Eins. Oder wurde das Schreckliche vergessen, weil niemand mehr Zivilschutzübungen und - der simulierten Lage angemessen - absurde Witze macht: "Pilz unbedingt anschauen - einmaliges Erlebnis"?
Sie seien damals aufs Dach gestiegen, als fünfzig Kilometer entfernt die "Christbäume"* über Dresden leuchteten, hat mir mein Vater berichtet. Jetzt brannten ähnlich abstrakt die jugoslawischen Raffinerien auf unseren Bildschirmen, ohne daß wir an den Gasen würgen oder gar irre würden von dem Höllenlärm, den solche Brände erzeugen. Einem Säugling in Novi Sad aber können allein von diesem brüllenden und pfeifenden Dauergeräusch die Lebensinstinkte verloren gehen. Vollkommen in Bann geschlagen, hört er auf zu essen, trinken, ja beindruckt von der Phongewalt, wagt er nicht einmal mehr zu schreien. Zum Glück hatte die Mutter ein Visum bekommen, um ihr Kind in der berühmten Hamburger Spezialklinik für traumatisierte Kinder behandeln zu lassen. Die übrigen Einwohner von Novi Sad sind erst nach dem Krieg ein Fall für die Kriegsfolgenkunde.
Seit der Konferenz in Lorient bewahre ich eine Postkartenserie von Riga auf. Weil er meinte, in meinem Namen Rigaer Abstammung erkannt zu haben, hatte sie mir der Denkmalpfleger der Stadt mit der Versicherung geschenkt: "Wir tun unser Bestes, wenigstens die deutsche Geschichte der Stadt zu bewahren."
Hier sind es die deutschen Nachbarn, die man nach einem halben Jahrhundert zu vermissen bekennt. Das ist das Trauma der zerstörten Städte, daß sie unter dem Radiergummi der Zerstörung und des säubernden Wiederaufbaus ihr "alter ego" - die Erinnerungen an die verlorenen Nachbarn und anders lebenden Mitbürger - verloren haben. Sie sind meist nur noch ruhelose Wiedergänger ihrer selbst. Auch deswegen sind Bombenangriffe niemals "humanitär", sondern die effektivste Form der kollektiven Gehirnwäsche, die je erdacht worden ist. Man braucht nur die neue Retortenstadt Beirut zu besuchen. Der Anblick der klimatisierten Malls und Towerbuildings anstelle der alten Kasbah würde einen Stein erweichen.

* Leuchtkugeln an Fallschirmen zur Zielmarkierung.

 

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