MieterEcho
Nr. 258 September/Oktober 96

Mitte: Gefährdung von Menschenleben bei Abrißarbeiten
"Das können Sie doch nicht machen. Da wohnen noch Menschen!" " Na und?"

Am 3. Juni 1996 alarmierte die Berliner MieterGemeinschaft zum ersten Mal die Öffentlichkeit über lebensbedrohende Vorkommnisse bei Abrißarbeiten in Berlin-Mitte. Im Fernsehen lief am Abend ein erster Bericht. Am nächsten Tag erstattete die BMG Anzeige wegen akuter Gefährdung von Menschenleben durch unsachgemäße Abrißarbeiten in der Mittelstraße 45-48 - und zwar gegen das ZDF als mutmaßlichem Eigentümer der Grundstücke.
 
Genauer konnte der Adressat der Anzeige unmittelbar nach Besichtigung vor Ort nicht gefaßt werden, weil es an dieser Baustelle noch nicht einmal das vorgeschriebene Bauschild mit den Angaben zu dem Vorhaben, den Bauherren, Projektanten, Bauausführenden usw. usf. gab - eine der (vielen) Ungereimtheiten an diesem Platz. Was war geschehen?
 
Schornstein durchschlägt Dach
 
Am Samstagnachmittag des 1. Juni (aha - im Osten früher mal Kindertag!) spielt der zweijährige Maximilian Reiniger in der Wohnung seiner Eltern im 4. Stock der Mittelstraße 44 - unmittelbar unterm Dach. Andere Bewohner des Hauses nutzen die Nachmittagszeit, um einen Keller leer zu räumen, und überqueren dabei immer wieder den Hof des Hauses.
 
Gegen 16 Uhr kracht es - das ganze Haus wird erschüttert, Schutt prasselt auf den Hof: Ein tonnenschwerer Schornsteinbrocken hat das Dach durchschlagen, dicke Balken sind gesplittert (Bild 1 u. 2), Steine bis auf den Hof gestürzt. Zwei Glücksumstände: Die Decke über der Wohnung hat gehalten, und über den Hof ist gerade niemand gelaufen!
 
Wie nach einem Bombenangriff
 
Geschockt flüchten die Mieter/innen aus den Wohnungen, unter ihnen Frau Reiniger aus dem 4. Stock mit ihrem vor Angst schreienden Sohn, der glücklicherweise unversehrt geblieben ist. Sprachlos stehen sie dann vor den Trümmern auf dem Hof, im Schutze der Toreinfahrt Ursache für den Schornsteineinsturz waren die offensichtlich unsachgemäßen Abrißarbeiten auf den Nachbargrundstücken Mittelstraße 45-48, auf denen das ZDF sein Hauptstadt-Studio und die Veba Geschäftsräume erbauen wollen.
 
Die von der Kriminalpolizei aufgenommenen Ermittlungen - die nach Auskunft aus der zuständigen Abteilung erst Ende September abgeschlossen sein dürften - betreffen den Straftatbestand des § 323 - Baugefährdung, d.h. die Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen beim Bau oder Abbruch eines Bauwerks.
 
Die Recherchen der Berliner MieterGemeinschaft, die durch ihre in den betroffenen Häusern wohnenden Mitglieder alarmiert wurde, lieferten ein erschreckendes Bild von dem Geschehen rund um den Abriß, das als Unterschrift tragen müßte: "menschenverachtender Umgang mit den Mieter/innen der Nachbarhäuser". Der in der Überschrift wiedergegebene Kurzdialog - aus einem Gespräch nach dem geschilderten Geschehen zwischen einem entsetzten Nachbarhausbewohner und einem nicht identifizierten Mitarbeiter einer der beteiligten Baufirmen - drückt das zufällig prägnant aus.
 
Abriß mit Brachialgewalt
 
Die Abrißfirma arbeitete mit völlig unangemessenem Gerät, ihre Methode war die Brachialgewalt, die inmitten von Wohnhäusern im City-Bereich Ost ebenso unverträglich ist wie im City-Bereich West.
 
Der Baulärm und die Staubbelästigung war für die Bewohner/innen der Mittelstraße 44 und 49 schier unerträglich (Pikanterie am Rande: Die Mitarbeiter der ebenfalls benachbarten Außenstelle der englischen Botschaft sollen Klimaanlagen vom ZDF bekommen haben, da sie ihre Fenster nicht mehr öffnen konnten). Die Erschütterungen waren so stark, daß die Nachbarhäuser bebten, sich teilweise Risse ausbildeten, ja in der Mittelstraße 44 drei PC-Festplatten ausfielen.
 
Wie ein Hohn liest sich daher folgender Satz aus einer Stellungnahme des Bezirksamts Mitte vom 21.6.96: "...Der 1. Überwachungsbericht des vom BWA (Bau- und Wohnungsaufsichtsamt. D.R.) beauftragten Prüfingenieurs für Baustatik enthält ebenfalls die Forderung nach erschütterungsfreien Abbrucharbeiten." (!) Alle Mieter/innen berichteten übereinstimmend von erdbebenartigen Erschütterungen (so daß sogar teilweise Geschirr aus den Schränken fiel).
 
Gegenbeispiel aus Charlottenburg: An der Ecke Tauentzien- und Nürnberger Straße wurde von April bis Juni 1996 das ehemalige Bettenhaus Rutz abgetragen. Darüber war am 29.6. in der Berliner Morgenpost zu lesen: "Wegen der Lage mitten in der City ging der Abbruch sehr kleinteilig vonstatten: Mini-Bagger hatten die Wände des Gebäudes Etage um Etage aufgeschlitzt, am Boden wurden sie dann zertrümmert."
 
Unverantwortliche Verantwortliche
 
Alle Beteiligten versagten in irgendeiner Weise - sowohl vor dem Beginn als auch während der unsäglichen Abrißarbeiten. Der Bauherr schloß anscheinend Verträge auf Treu und Glauben. Der Bauauftragnehmer tat offenbar das gleiche mit Subunternehmen, diese wiederum mit weiteren Subunternehmen.
 
Die bauüberwachenden Architekten wiederum scheinen alles andere, aber nicht diese Baustelle überwacht zu haben. (Architekt zu Mieter der Mittelstr. 44 nach den Unfällen sinngemäß: Wir wußten ja gar nicht, daß die Giebelwand nur einen Mauerstein dick ist. Da müßte ja die Statik neu berechnet werden.)
 
Das Bauamt Mitte untersagte weder im Vorfeld den Einsatz der vorgesehenen Großgeräte, noch unterband sie später die unsachgemäße Abrißweise.
 
Baustopp seit 1. Unfall am 15. Mai fällig
 
Die Bauaufsicht stoppte nicht ein einziges Mal das unzumutbare Baugeschehen trotz wiederholter Anrufung durch die betroffenen Mieter/innen. Sie tat es noch nicht einmal nach dem ersten schwerwiegenden Vorfall, als ein kühlschrankgroßer Schornsteinteil das Dach des anderen Nachbarhauses (Mittelstraße 49) durchschlagen hatte. Das war bereits am 15. Mai 1996, fünf Tage nach Abrißbeginn, geschehen.!
 
Hätte hier die Bauaufsicht nicht abgewiegelt, sondern sachgerecht eingegriffen, wäre es gar nicht zu dem noch schlimmeren Zwischenfall am 1. Juni gekommen! Die nachträglichen, schriftlichen Reinwaschungsversuche aus dem Bezirksamt greifen nicht - sie führen die Erfüllung formaler Verwaltungsschritte an, gehen aber weder auf die Nichtdurchsetzung richtiger Forderungen ("erschütterungsfreier Abriß" - s.o.) noch auf die Ignorierung der dringenden Hilferufe der an Leib und Leben gefährdeten Mieter/innen ein.
 
Der Gipfel ist der Hinweis auf die Ermittlungen der Kriminalpolizei: Kein Wort davon, daß diese nicht durch die Bauaufsicht eingeschaltet wurde, sondern erst aufgrund der Anzeige durch die BMG. Wollte man hier niemandem weh tun - auf Kosten der Mieter/innen?
 
Die mehrfach alarmierte Polizei wie auch die hinzugezogene Feuerwehr versäumten es ebenfalls, auf dem Dienstwege gegen die Ursachen der Zwischenfälle vorzugehen (Vereitelung von Strafverfolgung?).
 
WBM reagierte nicht auf Hilferufe
 
Auch die Wohnungsbaugesellschaft Mitte wurde nicht ihrer Verantwortung für die Gebäude und ihrer Fürsorgepflicht für die Bewohner/innen gerecht. Dringende schriftliche Hilferufe gingen unter im Umzugsdurcheinander der gerade ihr Domizil wechselnden unmittelbaren Zuständigen. Auch nach der Informierung der Geschäftsführung erfolgten keine konsequenten Schritte zum Schutze der Mieter/innen - von skandalösen anderen Fehlleistungen ganz zu schweigen (Verweigerung von Mietminderung, aber Zusendung von Mieterhöhungsschreiben, Nichteinhaltung von Unmsetzungszusagen usw.).
 
Das Berufen der WBM auf die (Fehl-)Einschätzungen und -entscheidungen der Bauaufsicht taugt nur als formales Alibi, da diese einfach übernommen wurden, ohne die dringlichen, ihnen entgegenstehenden Hinweise und Beschwerden der Mieter/innen zu prüfen und entsprechend einzugreifen.
 
Die Regelwidrigkeiten auf der Baustelle waren für jeden sichtbar bzw. erfahrbar, vorausgesetzt, er wollte sehen und wissen. Auffällig war, daß die Abrißarbeiten oft gegen 17 Uhr begannen bzw. samstagnachmittags stattfanden. Auffällig war auch, daß die Gesichter der eingesetzten Bauarbeiter immer wieder wechselten. Bei einer Razzia wurden dann ebenfalls auf dieser Baustelle Schwarzarbeiter festgestellt und abgeführt.
 
Dritter Unfall am 3. Juni - drei Unfälle zuviel
 
Nach dem schweren Zwischenfall am 1. Juni wurde am 3. Juni spätnachmittags trotzdem weiter abgerissen (mit dem Segen der Bauaufsicht?). Dabei kam es zum dritten unsäglichen Vorfall: Die Schaufel des zum Abriß eingesetzten Baggers schlug ein Loch in die Brandmauer des Hauses Mittelstraße 44 in Höhe des zweiten Stocks! Mauerteile fielen direkt auf das Kopfende des Doppelbettes von Herrn und Frau Pflughaupt, beide schwerbeschädigt, demgemäß auch oft auf dem Bett ruhend. Was hätte hier wieder geschehen können, wären nicht beide gerade zur Kur verreist gewesen?
 
Unzumutbarer Umgang mit den Bewohner/innen
 
Was hier den Menschen zugemutet worden ist (und teilweise immer noch zugemutet wird, soweit sie nicht ausgezogen sind), war einfach unzumutbar, unmenschlich. Und wir haben nur das Gröbste dessen genannt, was ihnen widerfahren ist, nicht aber die tägliche Dauerqual, das schlimme Gefühl des Ausgeliefertseins und daß die Verantwortlichen einen im Stich lassen; später die ständige Angst, es könnte noch Schlimmeres passieren. Sie waren durch die wochenlange Tortur nervlich am Ende, der kleine Maximilian völlig verängstigt. Das konnte auch keine Umzugsbezahlung durch die WBM für Ausziehende und auch kein Blumenstrauß der Baufirma wieder gut machen. Und es wohnen weiterhin Mieter/innen in den Häusern, während die Abriß- und Bauarbeiten sich fortsetzen.
 
Mieter/innen aufgepaßt!
 
Verantwortliche verschiedenster Bereiche, das ist hier sichtbar geworden, können sich mitunter als unverantwortlich Handelnde erweisen. Betroffenen von Bau- und Abrißmaßnahmen bleibt also nur - das sei eine Folgerung - sich von Anfang an wehrhaft zu zeigen. Also:
  • Ab Ankündigung einer Maßnahme sich kundig zu machen über die Rechtslage
  • Entsprechend der Rechtslage auf schriftliche Zusagen oder Zusagen unter Zeugen bestehen
  • Bei Nichteinhaltung gemachter Zusagen oder anderen widrigen Vorgängen sofort rechtliche Schritte einleiten, je nach Lage z.B. Anzeigen bei der Bauaufsicht, der Polizei, Erwirken eines Baustopps per einstweiliger Verfügung des Gerichts, Dienstaufsichtsbeschwerden bei Untätigkeit von Behörden
  • Gegen nicht angekündigte Maßnahmen sofort vorgehen
  • Wenn nötig - die Öffentlichkeit einschalten.
J. Granzow

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