Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter

Urban 2000

Good governance

Die Ideologie des nachhaltigen Neoliberalismus

Neil Brenner

 

Die Autoren des Berichts "Reinventing the City" behaupten, eine Agenda für die "Wiedererfindung der Stadt" im neuen Jahrtausend zu formulieren. Der ideologische Dreh- und Angelpunkt ihres Projektes ist die Vorstellung einer good governance, die vorgibt, so unterschiedliche gesellschaftspolitische Ziele wie Wirtschaftswachstum, Demokratie, soziale Solidarität, angenehmes Leben und ökologische Nachhaltigkeit miteinander zu versöhnen.

In diesem kurzen Kommentar möchte ich das zentrale Paradox dieses zutiefst widersprüchlichen Dokuments herausarbeiten. Einerseits bleiben viele der im Bericht erwähnten Ziele, allen voran Demokratie und soziale Solidarität, sicher Schlüsselpunkte auf linken und linksradikalen politischen Tagesordnungen. Andererseits kann die Ansicht vertreten werden, dass die politische Hauptstoßrichtung des Reports der Verteidigung eines im Wesentlichen neoliberalen Programms städtischer, institutioneller Umstrukturierung und sozialer Reform dient, die sich intensivierteren Marktzwängen unterwirft und an Gewinnmaximierung, ungehinderter ökonomischer Expansion und verstärkter Kapitalisierung weiter gesellschaftlicher Bereiche orientiert. Auch wenn der Bericht Prioritäten wie soziale Reproduktion, Armutslinderung und ökologische Nachhaltigkeit ausweist, sind sie nur Mittel zum Zweck, das übergeordnete Ziel einer städtischen ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit unter den derzeitigen geoökonomischen Rahmenbedingungen zu erreichen.

Ein Großteil des Berichtes kommt einer Übung gleich, die US-dominierte, neoliberale Ausprägung der Globalisierung in allen Regionen der Weltwirtschaft einzubürgern. Der Begriff Kapitalismus ist in dem Bericht nicht ein einziges Mal erwähnt, statt dessen wird durch seine fetischisierten Erscheinungsformen auf ihn verwiesen: Bevölkerungswachstum und technologische Entwicklung werden gemeinsam als "grundlegende Antriebsräder" beschrieben, die zeitgenössischem städtischen Wandel zugrunde liegen. Dass Städte innerhalb globaler Produktions- und Tauschnetze konkurrieren, kommt einem notwendigen oder natürlichen Zustand gleich, der über menschliche Einflussmöglichkeiten hinaus geht. Politiker und Bürger müssen sich diesem unterwerfen, wenn sie nicht riskieren wollen, im globalen Überlebenskampf der Stärksten ausgelöscht zu werden. Städte, so der Bericht, werden in dienstleistungsorientierte, unternehmerische Einheiten transformiert. Diese existieren innerhalb einer sozialdarwinistischen Weltwirtschaft, die dominiert wird von hypermobilem Kapital. Nationalstaaten werden ausgehöhlt und zunehmend autonome oder "selbstbewusste" Städte entstehen, die dazu "in Macht gesetzt" ("empowered") sind, ihre eigenen Steuern zu erheben, den Großteil lokaler Sozialleistungen allein tragen zu müssen und aggressiv gegeneinander um externe Investitionen zu kämpfen. Die zentrale Regierung wird in erster Linie als ein Hindernis für lokale wirtschaftliche Entwicklung betrachtet, daher sollte deren Einfluss auf die kommunale Verwaltung und sozioökonomische Politik minimalisiert werden. Kurz gesagt: Die Stadt soll als Raum "wiedererfunden" ("reinvented") werden, für den die deutschen Neoliberalen den Begriff Standortpolitik geprägt haben. Definiert als "gemeinsame Anstrengung der Kommune, der Bürger und der Privatwirtschaft"1 wirkt good governance als Erfüllungsgehilfe für das, was Marco Revelli passend als die "reale Subsumierung von Raum unter Kapital" beschrieben hat.2

Ein nichtssagendes Konzept

Good governance ist ein bewusstseinbeeinträchtigendes, nichtssagendes Konzept, das hervorragend zu George Orwells dystopischem Roman "1984" passen würde. Ungläubig ließ mich die im "Reinventing the City"-Bericht gezeigte Abbildung 1 (siehe S. 21) meine Augen reiben: Wie könnte ein so offensichtlich lächerliches und zusammenhangloses Modell städtischer Steuerung von irgendjemandem ernst genommen werden? Es kommt letztendlich nur einer Wunschliste von idealtypischen normativen Zielen gleich, bei der good governance als eine Art Zauberstab dient, alles gleichzeitig zu erreichen. Ähnlich vieler dieser schalen ideologischen Begriffe, die in dem derzeitigen politischen Diskurs über den "Dritten Weg" benutzt werden, ist der Schlüssel zu good governance rein formal: Hinter den Allgemeinplätzen wie "Arbeit und Wohlstand", "in Macht Setzung der Bürgerschaft" ("empowering the citizenry") und "stabile Ökosysteme" - mit Bezug auf besondere sozioökonomische Bedingungen, politische Institutionen, gesellschaftliche Kräfte und soziale Bewegungen - werden die konkreten widersprüchlichen gesellschaftspolitischen Anliegen und Klasseninteressen sichtbar, und zwar dass in beinahe allen Bereichen städtischer Politik massive Tauschgeschäfte involviert sind, dass die Priorisierung einiger politischer Ziele notwendigerweise die Marginalisierung oder die Unterdrückung von anderen mit sich bringt und dass die Beeinflussungsmöglichkeiten (oder Einflussmöglichkeiten der Bewohnerschaft, innerhalb moderner Städte sehr asymmetrisch aufgrund von Klasse, race3/ Ethnizität, Geschlecht und nationaler Staatsbürgerschaft verteilt sind.
Sobald solche rudimentären Aspekte des städtischen politischen und ökonomischen Lebens in Betracht gezogen werden, können wir Abbildung 1 im Bericht als Ausdruck reiner Ideologie im klassischen Sinne Ernst Blochs erkennen, die "die voreilige Harmonisierung von sozialen Widersprüchen innerhalb vorhandener sozialer Beziehungen" bewirbt.4

Trotz ihrer substantiellen Leere verdient die Vorstellung von good governance hinsichtlich ihrer Funktion in der zeitgenössischen politischen Theorie und Praxis eine tiefere Überprüfung. Die Verbreitung der Idee von good governance sowohl unter Meinungsmachern, Politikern und Technokraten vom neoliberalen bis gemäßigten Flügel markiert möglicherweise eine sehr wichtige ideologische Änderung auf der Landkarte des zeitgenössischen Kapitalismus.

Das Projekt der good governance wurde in den späten 80er Jahren zuerst von der Weltbank gefördert, um "marktfreundliche" Formen des Staatseingriffs in semiperipheren und peripheren Ländern einzusetzen. In diesem Kontext änderte good governance die Vorgehensweise der Weltbank: weg vom traditionellen neoliberalen Ansatz struktureller Anpassung, der während der frühen 80er Jahre vorgeherrscht hatte und orthodoxe neoliberale Ziele, wie minimale Staatseinmischung, minimale Preisverzerrung und die aggressive Förderung des exportorientierten Wachstums privilegierte. Die Hinwendung der Weltbank zu einem Diskurs über marktfreundliche Intervention und good governance in den frühen 90er Jahren, signalisierte somit die Konsolidierung eines revidierten globalen Entwicklungsprojekts, basierend auf einer intensivierten Mobilisierung staatlicher Institutionen sowohl zur Subventionierung und Lenkung privaten Kapitals, als auch um Marktbeziehungen aufrechtzuerhalten. In diesem Projekt kommt Staaten zunehmend eine Schlüsselrolle zu, um für den Erhalt der gesellschaftspolitischen und rechtlichen Rahmenbedingungen zur Durchsetzung der Marktbeziehungen zu sorgen. Staaten müssen nicht demontiert, sondern restrukturiert werden, um kapitalistische Kontrolle, Arbeitsdisziplin und Austauschbeziehungen des Marktes innerhalb der inländischen zivilen Gesellschaften zu befördern.5

Die "drei Cs" des Kapitals

Allgemeiner gesagt, waren die 90er Jahre, wie Stephen Gill argumentiert, ein Jahrzehnt, in dem eine Anzahl völlig rechenschaftsfreie globale Institutionen und Organisationen - wie Weltbank, IMF (International Monetary Fund), WTO (World Trade Organization) und WEF (World Economic Forum), um nur einige zu nennen - versucht haben, neue Formen von Marktdisziplin und kapitalistischer Macht auf globaler Ebene fest zu verankern. Zum großen Teil geschah das durch die Durchsetzung von Maßnahmen zur Rekonfiguration der Staatsmacht selbst. Die großmaßstäblichen, hochbürokratisierten, demokratisch verfassten Nationalstaaten, die sich während des letzten Jahrhunderts verfestigten, werden heute zunehmend als ein Hindernis für Wirtschaftswachstum betrachtet: Staatsinstitutionen müssen daher auf allen räumlichen Ebenen, durch alle möglichen Methoden neu organisiert werden, entsprechend den von Gill benannten "drei Cs" der Macht des Kapitals:
"... öffentliche Politik ist umdefiniert worden, so dass Regierungen versuchen, ihre Glaubwürdigkeit (credibilitiy) und die Konsistenz (consistency) ihrer Politik entsprechend den Kriterien des Vertrauens (confidence) der Investoren zu belegen."6
In diesem Kontext werden Staaten neu konfiguriert zur Förderung von Warenförmigkeit und Marktdisziplin nicht nur innerhalb lokaler (s.o.) Zivilgesellschaften, sondern auch direkt innerhalb des Staatsapparats: Gegründet auf der Ideologie bester Praktiken ("best practice") und mit dem Ziel der Ausweitung warenförmiger Beziehungen überall in der zivilen und politischen Gesellschaft, sollen hierarchische Staatsbürokratien in "flexible" (und zunehmend rechenschaftsfreie) Agenturen zur Gewährleistung schnellen Transfers politischer Maßnahmen und öffentlich-private Zusammenarbeit umgeformt werden. Kurz gesagt, der in den 80er Jahren vorherrschende radikal antistaatliche Neoliberalismus, der kurz- und mittelfristige Ziele wie die Liberalisierung der Handelsbeziehungen, die Deregulierung der Kapitalmärkte und das Zerschlagen des Klassenkompromisses der Nachkriegszeit privilegierte, wird heute anscheinend von einem potenziell gefährlicheren und bedrohlicheren "Disziplinar-Neoliberalismus" abgelöst, der "langfristig versucht, einen politischen Ankerplatz für die Herrschaft des Kapitals zu bieten"7So gesehen, erscheint good governance als ein ideologischer Schlüsselmechanismus, diese Reifung und Rekonstituierung des Neoliberalismus gegenwärtig auf globaler Ebene in Gang zu setzen.

Vor diesem Hintergrund der andauernden geoökonomischen und geopolitischen Gegenrevolution - der globalen Rekonstituierung eines disziplinarischen Neoliberalismus - beginnen wir, die verworrene und verwirrende politische Agenda des "Reinventing the City"-Berichts zu entziffern. Wie der Bericht darlegt, wird für das Projekt einer good governance - mit seinem kaum verhüllten Subtext von Einsparungen im nationalen und lokalen Wohlfahrtsstaat - jetzt auch auf städtischer Ebene mobil gemacht. Auch hier ist es hilfreich, good governance ins Verhältnis zu den früheren relativ antistaatlichen governance-Projekten zu setzen, die während des letzten Jahrzehnts vorherrschten. Weltwirtschaftlich betrachtet dominierten während der 80er Jahre in der kommunalen Wirtschaftspolitik bedeutender Städte und Regionen verschiedene Formen von Kostensekungsmaßnahmen, z. B. Steuernachlässe, Verkauf von Grundstücken zu Vorzugspreisen, Kürzungen öffentlicher Dienstleistungen, Privatisierung von Infrastruktureinrichtungen usw. Dergestalt haben Kommunen versucht, die Kosten von Verwaltung, Produktion und Reproduktion innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs zu senken und dadurch Investitionen von externem Kapital zu beschleunigen. Weitläufig wurde die Meinung vertreten, dass erweiterte Verwaltungseffizienz kombiniert mit direkten und indirekten Staatssubventionen an große Konzerne und einer wachsenden Privatisierung sozialer Reproduktionsfunktionen, die besten Praktiken ("best practice") zur Förderung eines "freundlichen Wirtschaftsklimas" in größeren Städten sei. Die Widersprüche dieses Nullsummen-, Kostensenkungsverfahrens urbanen Unternehmertums sind mittlerweile allzu bekannt: Zusätzlich zur Polarisierung großer Gruppen der lokalen, regionalen und nationalen Bevölkerung, hat sich gezeigt, dass die relative Effektivität solcher Strategien ganz dramatisch abnimmt, sobald sie überall im globalen System verbreitet sind.8

Unter diesen Umständen scheinen wir seit Mitte der 90er Jahre eine bedeutsame Rekonstituierung der neoliberalen ökonomischen Strategie auf urbaner Ebene mitzuerleben. Auf der einen Seite bleibt der grundlegende neoliberale Imperativ, die Mobilisierung ökonomischen Raums - in diesem Fall der städtische Raum - als gesäuberte Arena für kapitalistisches Wachstum, Warenförmigkeit und Marktdisziplin, das dominierende politische Projekt kommunaler Regierungen überall in der Weltwirtschaft. Auf der anderen Seite werden jedoch jetzt die Bedingungen zur Förderung und Bewahrung wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit durch die städtischen politischen und ökonomischen Eliten neu definiert, um die unterschiedlichen sozialen und ökologischen Kriterien einzubeziehen, so wie sie im Bericht "Reinventing the City" diskutiert werden.9

Im Kontext von good governance aber bringen Ziele wie "Nachhaltigkeit" tatsächlich eine Strategie städtischer struktureller Wettbewerbsfähigkeit mit sich, in der alle Aspekte städtischen Raums - von dessen sozialer Infrastruktur, politischer Kultur bis hin zu den ökologischen Grundlagen - in lokale ökonomische Vermögenswerte und "endogene Wachstumspotenziale" transformiert werden sollen, um weitere Kapitalinvestitionen anzuziehen. Das ideologische Werkzeug good governance dient folgendem Zweck: Durch die Einordnung der neoliberalen Politik, des aggressiven Produktivismus, der intensivierten Konkurrenz zwischen Städten und der gesteigerten kapitalistischen Macht unter die anscheinend harmlosere Agenda der good governance versuchen neoliberale Kräfte derzeit, die "reale Subsumierung von Raum unter Kapital" als die Lösung oder den Waschzettel für lokale Steuerungsprobleme von Deindustrialisierung, übermässigem Wachstum und sozialer Ungleichheit bis zu Wohnungsnot, Zerfall der Infrastruktur und ökologischer Verschlechterung darzustellen. Diese wirklich perverse Repräsentation eines der Hauptgründe der derzeitigen städtischen Krise - ungehinderter Warenförmigkeit und Marktkonkurrenz - suggeriert, dass die explizite Intention von governance zur neuesten fetischisierten Artikulation neoliberaler Ideologie geworden ist. Mit anderen Worten, sowohl auf globaler als auch auf städtischer Ebene wird der Fetisch von good governance jetzt offenbar auf die klassische liberale Ideologie des freien Marktes aufgepfropft, um die weitere Verschanzung und langfristige Institutionalisierung des neoliberalen Produktivismus zu rechtfertigen.

Die Stadt als Arena

Unter diesen Umständen stellt sich eine weitere Frage von selbst: Warum sind Städte solch wichtige Arenen für diesen Typus des neoliberalen politischen Projekts geworden? Die Antwort liegt, glaube ich, weniger in der Natur der urbanen Agglomerationsökonomien oder städtischen Zivilgesellschaften an sich, als in den wechselnden Positionen kommunaler Regierungen innerhalb des umstrukturierten Nationalstaates im post-keynesianischen Zeitalter. Einer der übergeordneten Punkte auf der Tagesordnung des "Reinventing the City"-Berichts ist die Forderung nach einem neuen Ansatz subnationaler politischer Organisation. Zuerst auf den Subsidiaritätsgedanken verweisend, befürwortet der Bericht eine radikale Dezentralisierung von Kompetenz- und Zuständigkeitsbereichen der nationalen, regionalen und lokalen Ebenen des Staates: Es wird angeführt, dass Städte zunehmend selbstständig werden sollten, anstatt von Finanzsubventionen und Transfers übergeordneter Staatsebenen abhängig zu sein. Zweitens empfiehlt der Report verstärkte Kooperationen zwischen dem lokalen Staat und privatem Kapital in der Formulierung und Durchführung kommunaler Politik. Während der Bericht einräumt, dass verschiedene Aufgaben weiterhin von nationalen Regierungen erfüllt werden, soll angeblich die maximale fiskalische und administrative Dezentralisierung eine optimale Basis für die erfolgreiche und wirksame Kommunalpolitik liefern.

Mit Recht könnte behauptet werden, dass wir nun zum zentralen Punkt der politischen Agenda des "Reinventing the City"-Berichts kommen: Es soll nämlich eine neue Form des nationalen politischen Regimes gefördert werden, in der die intensive Konkurrenz zwischen Städten um externe Kapitalanlagen permanent institutionalisiert wird. Der Bericht schlägt den Aufbau eines radikal neuen Rahmens von Beziehungen zwischen den verschiedenen Regierungsebenen vor, in welchem Gemeinden die städtischen Einnahmen für kommunale Ausgaben nur durch Besteuerung von lokalen ökonomischen Aktivitäten gewährleisten (ob in der Form von Gewerbesteuern, Vermögenssteuer, Verkaufssteuern usw.). Solch ein nationalpolitischer Rahmen würde kommunale Verwaltungen dazu zwingen, ständig gegeneinander zu konkurrieren, um sowohl Kapital als auch Arbeitskraft in ihre territorialen Zuständigkeiten zu locken - insbesondere jene, die auf eine hohe wertschöpfende Aktivität und überdurchschnittlich hohe Bodenrente hoffen lassen. In Deutschland fördern neoliberale Politiker aus einigen der reichsten Bundesländern derzeit aggressiv eine solche Richtung unter der Überschrift eines sogenannten Wettbewerbsföderalismus. Dieser soll finanzpolitisch einen angeblich wirksameren Rahmen zwischen den Bundesländern bieten als der vorhandene Länderfinanzausgleich mit seiner kunstvollen Maschinerie von horizontalen Finanztransfers. Die intensive Konkurrenz unter den Kommunen um Körperschafts- und Vermögenssteuern ist in den USA an Nimby-motivierte11 Sezessionsbewegungen der Vororte gekoppelt, die unter dem Prinzip der "Selbstbestimmung" operieren. Konkurrenz sowie Abspaltung sind seit langem institutionalisiert und unter Reagans "New Federalism" weiter intensiviert worden.12 Der Bericht "Reinventing the City" kann so als ein Manifest zugunsten neuer, stark polarisierter, nationaler, politischer Geographien betrachtet werden, in denen alle Städte gezwungen werden, sich vor allem auf ihre eigenen sozioökonomischen Vermögenswerte zu verlassen, um Einnahmen für die Gewährleistung von öffentlicher Dienstleistung zu sichern.

Ob diese erweiterte Ebene urbaner politischer Autonomie einen Segen oder Fluch darstellt, ist Gegenstand einer politischen Debatte, welche vom technokratischen Dogmatismus des Berichts fast völlig aufgekündigt wird. Diese Angelegenheit zeigt im Gegenteil auf einen der zentralen Widersprüche innerhalb der vorgeschlagenen Agenda von good governance: Auf der einen Seite sind Werte wie lokale soziale Solidarität und lokale Demokratie eingeschlossen; zugleich jedoch enthält der Bericht - durch seine aggressive Werbung für endogene Wachstumspotentiale und Konkurrenz zwischen verschiedenen Kommunen - einen kaum verschleierten Angriff auf alle Formen von über die lokale Ebene hinausgehender Solidarität und nationaler Umverteilungspolitik, die mit dem keynesianischen Wohlfahrtsstaatskompromiss assoziiert werden. In diesem Sinne ist die Agenda des good governance auf einer ausgesprochen geographischen Ontologie von Innen versus Außen aufgebaut: Kooperation, Solidarität und Demokratie können innerhalb eines städtischen Gebiets erlaubt sein; jenseits hiervon jedoch regiert völlig unumstritten und ultimativ eine Logik von Marktanarchie, Gewinnmaximierung und unbarmherziger, zwischenräumlicher Konkurrenz. Während die Autoren des "Reinventing the City"-Berichts mit Begeisterung beteuern, dass Konkurrenz zwischen Städten ein gutes Mittel sei, um Ressourcen effizient aufzuteilen, wirkt dieser Wettbewerb in der Praxis primär als ein politischer Umverteilungsmechanismus, durch den Kommunen einander gegenseitig dazu zwingen, örtliche Überschüsse durch Investitionsanreize und weitere Subventionen dem transnationalem Kapital zu übertragen.13

Das Ergebnis ist eine stark zerstückelte Vision des globalen und nationalen politischen Raums, die charakterisiert wird durch eine dramatisch intensivierte ungleichmäßige Entwicklung, Ungleichheit, Polarisierung und Konkurrenz zwischen subnationalen Entitäten sowie regionalen und lokalen Regierungen diesseits wie jenseits nationaler Staatsgrenzen.

Ich bezweifele darum entschieden, dass der Diskurs über good governance, wie er im Bericht "Reinventing the City" geführt wird, weichere, sanftere oder gemäßigtere Form städtischer Wirtschaftspolitik in heutigen Städten signalisiert. Diese Veröffentlichung dient der Konstruktion dessen, was Joachim Hirsch vor kurzem als "nachhaltigen Neoliberalismus" bezeichnet hat, d.h. als eine Form neoliberaler Politik, die ihre internen sozialen Widersprüche über die (engen) kurzen Zeithorizonte des frühen Neoliberalismus hinaus wirksam verwalten oder verdecken kann. Wie Hirsch anmerkt, richtet sich das sozialdemokratische mainstream-Projekt des sogenannten "Dritten Wegs" vor allem darauf, "den nationalen Wettbewerbsstaat gründlicher und in einer langfristigeren Perspektive fitzumachen für die globale Konkurrenz".14 Innerhalb dieser "reformistischen" Vision bleibt die neoliberale Politik von Produktivismus, Arbeitsdisziplin und Marktfetischismus im Grunde genommen unangefochten. Die wichtigste qualitative Änderung des "nachhaltigen Neoliberalismus" besteht in der Anstrengung, mit neuen politisch vermittelten Mechanismen der Krisenverschiebung den traditionellen, neoliberalen Cocktail von ungebändigten Märkten, gesteigerter Warenförmigkeit und intensivierter zwischenräumlicher Konkurrenz zu überlagern. Good governance läuft auf nichts anderes als auf diese ideologische Überlebensstrategie hinaus.

Es bleibt abzuwarten, ob die diesem modifizierten neoliberalen Produktivitätsprojekt innewohnenden scharfen Widersprüche neue Möglichkeiten für eine progressivere, radikal-demokratische Wiederaneignung von urbanem Raum eröffnen oder ob sich im Gegenteil die neoliberale Agenda nur noch direkter in die institutionelle Struktur nationaler wie lokaler Regierungstätigkeit integrieren lässt. Sollte das Letztere eintreten, haben wir allen Grund, die Herauskristallisierung von noch magereren und gemeineren politischen Geographien zu erwarten, innerhalb derer Städte gezwungen sind, mit aggressiver Ellenbogenmentalität externe Investitionen anzuziehen. Diese neu zu entwickelnden Politiken werden es transnationalen Kapitalfraktionen einerseits erlauben, sich aus der Unterstützung lokaler, sozialer Reproduktion zu verabschieden15 und andererseits den Einwohnern zunehmend die Macht entziehen, die grundlegenden Bedingungen ihres Alltagslebens in den Städten zu beeinflussen. Wenn wir über dieses Szenario eines neuen urbanen Autoritarismus nachdenken, dann wird der schon über zehn Jahre alte Vorschlag von David Harvey wichtiger denn je - hinsichtlich einer alternativen städtischen Zukunft, die auf radikaldemokratischen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit, Gleichheit, Partizipation und empowerment basiert:

"Das Problem besteht darin, eine geopolitische Strategie von Verknüpfungen zwischen den Städten zu entwerfen, um die Konkurrenz zwischen den Städten zu lindern und um die politischen Horizonte weg von der Lokalität und hin zu einer verallgemeinerbaren Herausforderung gegen die ungleichmäßige kapitalistische Entwicklung zu verschieben [...] ein kritischer Blick auf urbanes Unternehmertum zeigt nicht nur seine negativen Einflüsse, sondern sein Potenzial für eine Veränderung hin zu einem progressiven urbanen Korporatismus: Mit einem scharfen geopolitischen Verständnis bewaffnet, wie Allianzen und Verbindungen über den Raum hinweg in einer Art und Weise zu schmieden sind, lindert er - wenn er es nicht gar herausfordert - die hegemoniale Dynamik kapitalistischer Akkumulation, die die historische Geographie des sozialen Lebens dominiert."16

1 - Vgl. S. 24, Weltbericht für die Zukunft der Städte
2 - Vgl. Marco Revelli, Die gesellschaftliche Linke. Münster: Westfälisches Dampfboot 1997, S. 114
3 - race beschreibt im amerikanischen Kontext eine soziale Konstruktion, kein biologisches Schicksal wie das deutsche: Rasse. Trotzdem ist race in der Genozid- und Sklavenhaltertradition der USA deutlich von Ethnizität zu trennen; daher schlagen wir vor, es bei race zu belassen (Anm. der Hg.)
4 - zit. nach. Leo Panitch, „The new imperial state,” New Left Review, 2, März/ April 2000, S. 7
5 - Ray Kiely, „Neoliberalism revised? A critical account of World Bank concepts of good governance and market friendly intervention,” Capital & Class, 64, Frühjahr 1998, S. 63-88.
6 - Stephen Gill, The constitution of global capitalism, in: Department of Political Science, York University, Manuskript, S. 3
7 - Stephen Gill, The new constitutionalism, S. 2
8 - Vgl. Loic Wacquant, Urban marginality in the coming millenium, In: Urban Studies, 36, 10/1999; Helga Leitner und Eric Sheppart, Economic uncertainity, inter-urban competition and the efficacy of urban entrepreneurialism, In: Tim Hall und Phil Hubbard (Hrsg.), The Entrepre-neurial City, New York, Wiley, 1997
9 - Sogar die fortschrittlicheren Stränge innerhalb des sogenannten „new regionalist” Diskurses in Bezug auf „lernende Wirtschaftssysteme” und „ungehandelte Interdependezen” haben bestimmte Affinitäten zu der zynischeren, neoliberalen Versionen dieses Arguments. Für eine neue Po-lemik zu diesem Thema, vgl. John Lovering, Theory led by policy: the inadequancies of the „new regionalism“. In: International Journal of Ur-ban and Regional Research, Nr. 23, 2. Juni 1999
10 - Vgl. S. 24 Weltbericht für die Zukunft der Städte
11 - NIMBY, Akronym für: Not In My Back Yard: Nicht in meinem Hinterhof. Nimby beschreibt den Prozeß der Abwehr gegen die Ansiedlung techni-scher und sozialer Infrastruktur von Eigentümern mit Immobilienbesitz. Diese Konflikte werden mit einer Rhetorik der „Lebensqualität„ (keine Kläranlagen, keine Obdachlosenheime) unterfüttert, dienen in der Praxis jedoch dem Erhalt und der Steigerung der Bodenwerte (Anmerkung der Hg.).
12 - Dieser institutionelle Rahmen wird häufig als einer der herausragenden Gründe gesehen, die dem hohen Grad an rassistischer Segregation und sozial-räumlicher Polarisation zugrunde liegen, die in Städten in den USA vorherrschen.
13 - Vgl. Leitner und Sheppard, „Economic uncertainty, inter-urban competition and the efficacy of urban entrepreneurialism” zit. n. a.a.O.
14 - Joachim Hirsch, „Tote leben manchmal länger. Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Neoliberalismus,” in Joachim Bischoff et. al, (Hrsg.), Das Ende des Neoliberalismus?, Hamburg: VSA, 1998, S. 218
15 - Einerseits wie gehabt durch Steuererleichterungen usw., andererseits aber stellen in Nordamerika Konzerne und ihre Angestellten regelmäßig das unzureichende Äquivalent zum bundesdeutschen Wohlfahrtsstaat auf lokaler Basis. Der magere lokale Sozialstaat in den Metropolen der USA wird ohne das finanzielle und soziale Engagement der Konzerne völlig zerrüttet werden. Die anhaltende Fusions- und Konzentrationswelle beraubt die Metropolen ihrer sozial engagierten Lokalbourgeoisie (Anm. der Hg.)
16 - David Harvey, „From managerialism to entrepreneurialism: the transformation of urban governance in late capitalism“, Geografiska Annaler, B, 71,1,1989, S. 16

Zwischenüberschriften durch die Redaktion.

Aus dem US-Amerikanischen von Steffen Emrich, Jens Sambale und Renate Berg


© 2000-2003 Berliner MieterGemeinschaft e.V.

 

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