Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter

Urban 2000

Good governance und die städtische Frage

Über den Umgang mit den Widersprüchen des Neoliberalismus

Bob Jessop


Der für die Weltkonferenz URBAN 21 in Berlin angefertigte Bericht "Reinventing the City" stellt ein interessantes Beispiel für die gegenwärtig weltweit lancierte Neuauflage des Neoliberalismus dar - diesmal mit menschlichem Antlitz. Der Kampf um die weltweite Verbreitung des neoliberalen Wirtschaftsprojektes erfuhr in den letzten Jahren mehrere gravierende Rückschläge - in Form unerwarteter Krisen (z. B. in Ostasien), unerwarteter gesellschaftlicher Kosten mit ernsten politischen Auswirkungen (zum Beispiel wachsender ökonomischer Polarisierung und sozialer Ausgrenzung anstelle der lange erhofften "trickle-down"-Effekte1 freigesetzter Marktkräfte) oder neuen Widerstands im globalen Maßstab (z.B. gegen den MAI und in Seattle/WTO). Bisher haben diese Rückschläge nicht zu einer ernstzunehmenden Umgestaltung des neoliberalen Projektes geführt, sondern im Gegenzug viele seiner Hauptprotagonisten zu generellen Neubewertung ihrer Strategien und Taktiken veranlasst.
Zu den interessantesten Aspekten dieser Neubewertung gehören die wachsenden Sorgen:
- um die Darstellung des neoliberalen Projektes,
- um die bestmögliche Koordination der Aktivitäten zur Förderung und Festigung des neoliberalen Projektes auf unterschiedlichen geographischen Ebenen, - um seine sozialen und ökologischen Kosten und ihre negativen politischen Auswirkungen und
- um die Identifizierung und Umsetzung flankierender Maßnahmen zur Wiedereinbettung der jüngst freigesetzten Marktkräfte in eine gut funktionierende Marktgesellschaft.

In diesem Sinne können der Diskurs, die Argumente und die politischen Maßnahmen, die im Bericht "Reinventing the City" entwickelt werden, als Ausdruck eines allgemeinen Wandels gelten, entweder der Strategie oder zumindest des politischen Klimas, innerhalb dessen der Neoliberalismus verwirklicht wird. Sie veranschaulichen den jüngst wahrgenommenen Bedarf, den Neoliberalismus wieder in die Gesellschaft einzubetten, ihn sozial und politisch akzeptabler zu machen sowie seine ökologische Nachhaltigkeit zu gewähren. Gleichzeitig werden jedoch nur minimale Zugeständnisse an diejenigen Kräfte gemacht, die in der aktuellen Welle kapitalistischer Erneuerung gegen das Programm, die Protagonisten und die Antriebskräfte des Neoliberalismus angehen. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Autoren des "Reinventing the City"-Berichts, oder ihre professionellen, akademischen und laienhaften Berater selbst Agenten des Neoliberalismus sind – ob in seiner anfänglich "blutrünstigen" Version oder in seiner aktuellen Variante des "Dritten Weges". Allerdings agieren sie im Zuge einer bestimmten, vom Neoliberalismus dominierten, ökonomischen und politischen Konjunktur, die sie anscheinend für selbstverständlich halten, und ihre Politikempfehlungen zielen offenbar darauf ab, den fortgesetzten neoliberalen Umbau akzeptabel und nachhaltig zu machen, statt ihn in Frage zu stellen oder gar herauszufordern.

Diese Art der Anpassung, Mäßigung oder Humanisierung des Liberalismus ist nicht neu. Karl Polanyi beispielsweise vermerkte vor über 50 Jahren, wie die Entwurzelung liberaler Marktkräfte von ihren traditionellen gesellschaftlichen Bindungen im 19. Jahrhundert Probleme in den Bereichen Boden (oder allgemeiner: Natur), Arbeitskraft und Geld erzeugt hat. Polanyi war der Auffassung, jeder dieser nur scheinbar technischen "Produktionsfaktoren" sei in Wirklichkeit "fiktive Ware", deren Reproduktion auf lange Sicht nicht durch Marktkräfte garantiert werden könne und deren Zerstörung bzw. Destabilisierung durch diese Marktkräfte das bloße Überleben des Kapitalismus gefährdet. Während jede dieser fiktiven Waren wegen der Dominanz des Laissez-faire-Kapitalismus Krisen durchlief, so Polanyi, setzte sich ein breites Spektrum gesellschaftlicher Kräfte individuell und kollektiv zur Wehr, um den Markt wieder einzubetten und neu zu regulieren. Die schließlich erreichte Kompromisslösung war eine Marktwirtschaft, die in eine Marktgesellschaft eingebettet war und durch diese aufrechterhalten wurde. Kurzum, der Kapitalismus überlebte - aber in einer stärker regulierten Form. Der Neoliberalismus bewegt sich weitgehend auf derselben Bahn. Während der 80er und 90er Jahre rissen seine Protagonisten in einer neu entstehenden transnationalen Klassenallianz zuerst den Nachkriegskapitalismus aus seinen vorherrschenden Strukturen gesellschaftlicher und politischer Regulation - sei es aus - dem quasi-sozialdemokratischen Rahmen der nationalen keynesianischen Wohlfahrtsstaaten, die wir mit dem Atlantischen Fordismus verbinden, - den sich entwickelnden nationalen Sicherheitsstaaten, die wir mit den ostasiatischen Kapitalismen assoziieren, - den klientelistischen bzw. populistischen politischen Regimes und/oder Militärdiktaturen, die wir mit den Entwicklungsökonomien in Lateinamerika, Afrika und Südasien in Verbindung bringen.

Sie begannen alsbald, die Grenzen des Marktes als Steuerungsmechanismus und als Grundlage gesellschaftlichen Zusammenhalts wiederzuentdecken. Und in jüngster Zeit haben sie versucht den Kapitalismus in eine räumlich neu dimensionierte2 Form einer Marktgesellschaft mit einer neuen Architektur von Institutionen einzubetten. Auf dem Feld städtischer governance3 ist der Bericht "Reinventing the City" ein interessanter Ausdruck dieses Versuchs.

Das globale neoliberale Projekt

Bevor ich meine Kritik an diesem Bericht "Reinventig the City" entwickle, möchte ich ihn im Kontext des globalen neoliberalen Projektes betrachten. Dieses hat zwei zusammenhängende Charakteristika. Das erste Merkmal betrifft das Bestreben, eine neue Akkumulationsstrategie durchzusetzen, die auf Privatisierung, Liberalisierung, Deregulierung, der Einführung von Marktindices und benchmarking4 im öffentlichen Sektor, Steuererleichterungen und Internationalisierung bzw. Globalisierung ruht. Das zweite Merkmal betrifft die Suche nach neuen gesellschaftlichen Regulationsformen, um eine vielschichtige Marktgesellschaft zu schaffen, die die globalisierende Marktwirtschaft ergänzt. Mehrere Kommentatoren haben diese im Entstehen begriffene Regulationsweise als "Nationalen Wettbewerbsstaat" beschrieben. Damit werden allerdings die sich ereignenden Veränderungen nur teilweise eingefangen. Die von mir favorisierte Beschreibung für die neue Regulationsweise in Nordamerika, Europa und im Austral-Asiatischen Raum ist die des postnationale schumpeterianischen workfare5-Regimes. Dieses hat vier Hauptmerkmale, die es vom nationalen keynesianischen Wohlfahrtsstaat, seinem Vorgänger im Raum des Atlantischen Fordismus, unterscheiden:

1) Es versucht, internationale Wettbewerbsfähigkeit und sozio-technische Innovation durch Angebotspolitik in relativ offenen Ökonomien zu fördern. Mit der symbolischen Entthronung John Maynard Keynes wird Joseph Schumpeter, der Theoretiker der Innovation, des unternehmerischen Geistes und der langen Wellen technologischen Wandels zum emblematischen Ökonom der Gegenwart. Die Akzentsetzung der Wirtschaftspolitik liegt jetzt auf Innovation und Wettbewerbsfähigkeit statt auf Vollbeschäftigung und Planung.
2) Die Sozialpolitik wird der Wirtschaftspolitik untergeordnet, um Arbeitsmärkte zu flexibilisieren und um die Kürzungsschraube bei den Lohnnebenkosten anzuziehen. Sie werden heute statt als Mittel zur Umverteilung und zur Förderung des sozialen Zusammenhalts als Produktionskosten angesehen. Die neoliberale Thatcher/Reagan-Strategie stellt nur eine mögliche Form von workfare6 dar, andere sind weniger diziplinarisch und ausschließend. Auf jeden Fall liegt die Betonung aber darauf, die Leute aus dem Sozialleistungsbezug auf Arbeitsplätze zu transferieren und aus ihnen unternehmerische Subjekte zu schaffen, statt auf nicht-nachhaltige Sozialausgaben und die Verschanzung in eine Abhängigkeitskultur zu bauen.
3) Die Wichtigkeit nationalstaatlicher Politikformulierung und -umsetzung hat in dem Maße abgenommen, während lokale, regionale und übernationale Regierungsebenen und Sozialpartnerschaften neue Macht gewonnen haben. In diesem Sinne kann das neue Regime als postnational beschrieben werden. Ein verbreitetes Anliegen besteht darin, kreative "postnationale" Lösungen für die aktuellen ökonomischen, politischen, sozialen und ökologischen Probleme zu finden, statt sich in erster Linie auf die nationalen Institutionen und Netzwerke zu verlassen.
4) Es gibt wachsendes Vertrauen in Partnerschaften, Netzwerke, Beratung, Verhandlung und andere Formen reflexiver Selbstorganisation. Gleichzeitig aber verliert man den Glauben an die Kombination anarchischer Marktkräfte mit hierarchischer Planung, wie wir sie etwa mit der "mixed economy" der Nachkriegszeit verbinden, oder an das alte korporatistische Dreieck, das auf einer Produzentenallianz zwischen Großkapital, der Arbeiterschaft und dem Nationalstaat beruht.

Tabelle 1:

Strategien der Förderung des oder der Anpassung an den globalen Neoliberalismus

Neoliberalismus
1. Liberalisierung - den freien Wettbewerb fördern
2. Deregulierung - die Rolle von Recht und Staat einschränken
3. Privatisierung - den öffentlichen Sektor abstoßen
4. Vermarktungsrechte im verbliebenen öffentlichen Sektor
5. Internationalisierung - freie Kapitalströme ins In- und Ausland
6. Direkte Steuern senken - die Wahlmöglichkeiten von Konsumenten erhöhen

Neoetatismus
1. Regierung als Stichwortgeber statt als Planungsinstanz
2. Führung der nationalen Wirtschaftsstrategie
3. Leistungsprüfung des privaten und des öffentlichen Sektors
4. Öffentlich-private Partnerschaften unter staatlicher Führung
5. Neomerkantilistischer Schutz der Kernökonomie
6. Wachsende Rolle neuer kollektiver Ressourcen

Neokorporatismus
1. Wettbewerb und Kooperation neu ausbalancieren
2. Dezentralisierte "regulierte Selbstregulierung"
3. Spektrum privater, öffentlicher und anderer Teilhaber ("stakeholders") vergrößern
4. Rolle von öffentlich-privaten Partnerschaften ausdehnen
5. Schutz zentraler Wirtschaftssektoren in einer offenen Ökonomie
6. Hohe Besteuerung zur Finanzierung sozialer Investitionen

Neokommunitarismus
1. Entliberalisierung - den freien Wettbewerb begrenzen
2. Empowerment - die Rolle des dritten Sektors stärken
3. Vergesellschaftung - die soziale Ökonomie ausbauen
4. Betonung des gesellschaftlichen Gebrauchswerts und des sozialen Zusammenhalts
5. Fairer Handel statt freier Handel; global denken, lokal handeln
6. Steuern umverteilen - Bürgergeld, Pflegegeld

Es ist wichtig anzumerken, dass diese Veränderungen, obwohl sie weit verbreitet wenngleich sie nicht universell sind, mehrere mögliche Formen annehmen können (siehe Tabelle 1). Typischerweise werden sie kombiniert, so dass sie durchaus mehrere andersartige Gesamtmuster ergeben und verschiedene nationale oder regionale Traditionen sowie unterschiedliche Kräftebündnisse reflektieren. Sogar der Bericht "Reinventing the City" selbst unterscheidet deutlich zwischen verschiedenen Strategien, die das neoliberale Projekt in verschiedenen Regionen und/oder Städtetypen unterstützen und ergänzen. Seine Vorschläge, die er an die informellen, schwach regulierten und verletzlichen, übermäßig wachsenden Städte der "Entwicklungsländer" richtet, kombinieren daher den Neoliberalismus mit einer starken Betonung auf die Tatkraft der Bevölkerung mit informeller oder sozialer Ökonomie und kommunitären Werten. Im Gegensatz dazu liegt die Hauptbetonung bei den ausgewachsenen, aber im Niedergang befindlichen Städte des Atlantischen Fordismus primär auf dem Neoliberalismus selbst. Für die dynamisch wachsenden Städte Ost-Asiens schließlich scheint das Rezept eine Mischung aus Neoliberalismus und public-private-partnerships zu sein, um die Infrastruktur und das politische Klima für internationales und lokales Kapital günstiger zu gestalten. Die Weisheit des "angehäuften Wissens", dass Marktkräfte das beste Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und Begierden darstellen, wird genauso wenig angefochten, wie die, dass Märkte außerdem die dringlichsten Probleme, denen die Menschheit im neuen Jahrhundert gegenübersteht, lösen können - vorausgesetzt dass sie durch good governance in die richtige Richtung gelenkt werden.

Alle der vier neuen Merkmale des postnationalen schumpeterianischen workfare-Regimes sind im Bericht "Reinventing the City" ganz deutlich präsent, wenn auch normalerweise ungeprüft.

Erstens werden Städte deutlich als Motoren wirtschaftlichen Wachstums, als die wichtigsten Zentren ökonomischer, politischer und sozialer Innovation und als Schlüsselfiguren bei der Förderung und Festigung internationaler Wettbewerbsfähigkeit gesehen. Weiterhin werden Städte seit dem Wandel von der industriellen zur postindustriellen Ära, dem Aufstieg der wissensbasierten Ökonomie und der zunehmenden Wichtigkeit der Informationsgesellschaft mit ihrer Anforderung an lebenslangem Lernen sogar als noch wichtigere Triebkräfte für Innovation und Wettbewerbsfähigkeit angesehen als dies früher der Fall war. Zugegeben, die Autoren unterscheiden unterschiedliche Städtetypen – zum einen auf der Grundlage informellen, übermäßigen Wachstums, zum anderen basierend auf der Grundlage dynamischer Innovation und dynamischen Lernens und drittens die Städte im Niedergang auf der Grundlage eines überholten fordistischen Wachstumsmodells - und empfehlen verschiedene Antworten für jeden Typus. Aber diese stellen nur unterschiedliche Anpassungsformen an dasselbe Bündel von Herausforderungen dar.

Zweitens werden - im Gleichklang mit der bekannten neoliberalen Kritik - Wohlfahrtsstaaten als kostspielig, überbürdet, ineffizient, unfähig zur Beseitigung von Armut (und seine Bürger als übermäßig an Anrechten auf Bargeld statt an empowerment orientiert) und so weiter angesehen. Der Bericht vertritt die Auffassung, dass der Sozialstaat, da wo er überhaupt existiert, zugunsten solcher politischer Programme abgebaut werden soll, die Wert darauf legen, Menschen aus der Wohlfahrt in die Arbeit zu bringen, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zu verzahnen und Anreize zum Lernen und/oder zur Vorbereitung auf einen neuen Job zu schaffen. Desgleichen soll die Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten, wo sie noch nicht stattgefunden hat, standhaft verhindert werden. Statt dessen sollen Programme eingerichtet werden, die Lösungen für die Probleme sozialer Reproduktion auf der Ebene von Familien bzw. Nachbarschaften oder auf informeller, marktbasierter oder markterhaltender Ebene anregen können. Staaten sollen nicht versuchen, Dienstleistungen monopolistisch zu erbringen, sondern sie auslagern oder mindestens internen Wettbewerb einführen. In übermäßig wachsenden Städten übersetzt sich dies beispielsweise in den Ruf nach einer neuen Inwertsetzung der informellen bzw. der sozialen Ökonomie und der nachbarschaftlichen Unterstützungsmechanismen zur Bearbeitung sozialer Ausgrenzung. Zur Erzeugung "aktiver und produktiver Bürger", die den Staat weder belasten noch Rechte verlangen, ohne entsprechende Pflichten zu übernehmen, schlägt der Bericht den eher dynamisch wachsenden und den ausgewachsenen Städten andere Projekte vor. Bildung und informelle Selbsthilfe sind der Schlüssel für Überleben und Nachhaltigkeit und prinzipiell soll Bildung allen zugänglich gemacht werden. Städte sollen ihren Bestand von ansässigem "Humankapital" und ihre lokalen Arbeitsmärkte entwickeln, um das lokale Wohlergehen sowie die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu fördern.

Drittens erkennt der "Reinventing the City"- Bericht deutlich die sich entwickelnde Krise der nationalen Ebene ökonomischer, politischer und sozialer Organisation, die zunehmende Wichtigkeit der globalen Ebene (besonders in Form eines nach wie vor im Werden begriffenen "einzelnen globalen Städtenetzwerkes", welches nationale Grenzen überschreitet) und das Wiederaufleben lokaler und regionaler Ebenen. Seine Antwort besteht darin, für die Prinzipien der Subsidiarität und der Solidarität zu werben. Probleme sollen auf der niedrigstmöglichen Ebene gelöst werden, allerdings einschließlich der Befähigung und finanziellen Unterstützung durch die nationale Verwaltung. Das setzt integriertes Handeln unterschiedlicher Regierungsebenen und eine angemessene Zuweisung von Verantwortlichkeiten und Ressourcen voraus. Wenig überraschend sieht der Bericht eine Schlüsselrolle für die Städte beim Schnittstellenmanagement zwischen
- lokaler Wirtschaft und globalen Kapitalströmen,
- den möglicherweise konfliktbeladenen Ansprüchen lokaler Nachhaltigkeit und Wohlbefindens auf der einen Seite und internationaler Wettbewerbsfähigkeit auf der anderen Seite,
- den Herausforderungen durch soziale Ausgrenzung/ globale Polarisierung zum einen und den anhaltenden Forderungen nach Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung zum anderen usw.
Und viertens wird sehr viel mehr Wert auf Partnerschaft und Netzwerke als auf hierarchische Nationalregierungen gelegt. Zusätzlich zu Subsidiarität und Solidarität zwischen verschiedenen Ebenen ökonomischer, politischer und sozialer Organisation fordert der Bericht also auch die Partnerschaft zwischen öffentlichen und privaten Sektoren und zwischen Regierung und Zivilgesellschaft ein. Öffentlich-private Partnerschaften sollen allerdings mit den Marktkräften statt gegen sie arbeiten. Außerdem sollen Partnerschaften nicht nur Akteure des privatwirtschaftlichen Sektors, sondern auch NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen), religiöse Gruppen, Community Action Groups oder Netzwerke aus Individuen beteiligen. Um Partnerschaften zu fördern, muss sich der Staat zurückziehen (vor allem auf nationaler Ebene), damit er das gut tun kann, was nur er alleine kann. Darin spiegelt sich das Paradox wieder, dass ein interventionistischer Staat die Machtlosigkeit riskiert, wohingegen der begrenzte Staat ein starker Staat sein kann. In zweierlei Hinsicht gibt es für den Staat aber eine wichtige Rolle, nämlich Partnerschaften zu steuern und sie im Interesse der "maximalen Wohlfahrt für alle" zu moderieren. Dies drückt sich im Ruf des Berichts nach good governance aus, verstanden als "miteinander verzahnte Anstrengungen von Seiten der lokalen Regierung, der Zivilgesellschaft und des Privatsektors".

Die Naturalisierung des Neoliberalismus

Ich hoffe gezeigt zu haben, dass der Bericht "Reinventing the City" mit der im Werden begriffenen neoliberalen Weltordnung übereinstimmt. Nirgendwo befürwortet er allerdings explizit das globale neoliberale Projekt - oder fordert es gar heraus. Statt dessen billigt er es implizit durch die Art und Weise, auf die er die jüngsten ökonomischen und politischen Veränderungen beschreibt, Verantwortung dafür zurechnet und Lösungen für die dadurch entstehenden Probleme verschreibt. In diesem Sinne ist der Bericht ein zutiefst ideologisches Dokument. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, Norman Fairclough, Professor für Sprache im gesellschaftlichen Leben an der Universität Lancaster, zu zitieren, der schreibt:

"Ideologie ist dann am effektivsten, wenn ihre Funktionsweise am wenigsten sichtbar ist ... Und Unsichtbarkeit erreicht man dadurch, dass Ideologien nicht als explizite Elemente des Textes, sondern als Hintergrundannahmen in den Diskurs eingebracht werden, welche auf der einen Seite den Textproduzenten dazu bringen, die Welt auf eine spezifische Weise zu "vertexten", und auf der anderen Seite den Interpreten dazu bringen, den Text auf eine spezifische Weise zu interpretieren (Fairclough 1989:85).

In diesem Sinne trägt der Bericht "Reinventing the City" zur "Neuen Weltordnung" durch eine "neue Wortordnung" bei, denn er beteiligt sich daran, für neue Repräsentationsformen der Welt, neue Diskurse und neue Subjektivitäten zu werben. Die Sprache, die seine Autoren verwenden, neigt zur Naturalisierung des globalen neoliberalen Projektes. Die mit diesem Projekt verbundenen Veränderungen, die durch die konzertierte Aktion von Wirtschaft und Politik im globalen Maßstab vorangetrieben wurden und an denen internationale Agenturen, Nationalstaaten und Wirtschaftsführer maßgeblich beteiligt sind, werden wahlweise als natürlich, spontan, unvermeidbar, technologisch und demographisch bezeichnet. Das Dokument setzt technologischen Wandel und Globalisierung als gegeben voraus, entpersonalisiert sie, fetischisiert Marktkräfte und stellt keinen Bezug zu den ökonomischen, politischen und sozialen Kräften her, die diese Prozesse forcieren. Außerdem sollen genau dieselben Prozesse, welche die im Bericht identifizierten Probleme verursachen, diese auch lösen - technologischer Wandel wird Lösungen für auftauchende Probleme bieten, die Demokratisierung stattfinden, das Bevölkerungswachstum abnehmen, das Wirtschaftswachstum andauern und der informelle Sektor zur Bearbeitung sozialer Probleme expandieren. Niemand könnte aus dem Bericht folgern, dass technologischer Wandel und Globalisierung zutiefst politisierte Prozesse und Gegenstand von Auseinandersetzungen innerhalb der herrschenden Klassen, innerhalb von Staaten und in der Zivilgesellschaft sind. Statt dessen unterstellt er hinsichtlich dieser Veränderungen eine universelle Gleichheit der Ausgangspositionen: jene sind objektiv und unvermeidbar, wir müssen uns diesen anpassen. Während also Globalisierung, technologischer Wandel und Wettbewerb entpersonalisiert werden, kommt menschliches Handeln lediglich durch das Bedürfnis nach Überleben und nach Nachhaltigkeit ins Spiel. Vor allem lokale Gemeinschaften, Frauen und Arbeiter müssen sich diesen unpersönlichen Kräften anpassen. Sie müssen flexibel sein, sich selbst in Kraft setzen (empower), die Kontrolle über ihre Renten durch Eigenfinanzierung übernehmen, lebenslang lernen, demokratischen Druck auf städtische Verwaltungen ausüben, um ihre informellen Initiativen zu unterstützen, etc. Genauso können diejenigen Städte wettbewerbsfähig werden, die die Kontrolle über ihr wirtschaftliches Schicksal übernehmen, ihre lokalen Märkte (insbesondere ihre lokalisierten Arbeitsmärkte), ihre lokale Infrastruktur und ihren Wohnungsbestand entwickeln, good governance ausbilden und attraktive Orte zum Arbeiten und Leben werden. Außerdem werden die Schuldigen an den wirtschaftlichen und sozialen Problemen in den seltenen Fällen, in denen die Schuldfrage überhaupt gestellt wird, üblicherweise auf der lokalen Ebene gesucht. Städtische Armut gilt also nicht so sehr als Produkt des Kapitalismus, sondern vielmehr als Resultat einer ineffektiven lokalen Verwaltung - welche durch eine umsichtige Kombination aus einer Bewegung von unten und neu zugestandenen Kompetenzen von oben geradegerückt werden kann.
Der Bericht "Reinventing the City" enthält keine Analyse des Kapitalismus und seiner Agenten. Die Dynamik einer wissensbasierten Ökonomie (oder des informationellen Kapitalismus, wie ihn Castells nennt) wird in objektiven, sachlichen Begriffen beschrieben. Es gibt nur einen (vagen) Hinweis an "das gegenwärtige Wirtschaftsystem" und dort wird zugestanden, dass es vollkommen suboptimal arbeitet und ineffizient ist. Dennoch wird nicht innegehalten, um zu fragen warum. Die einzigen ökonomische Akteure, die im Report identifiziert werden, sind lokale städtische Netzwerke von Kleinproduzenten, -dienstleistern und -betrieben, Privatfirmen und (deutlich gutartigen) "Weltklasse-Unternehmen". Das einzige Kapital, das identifiziert wird, ist Humankapital. Die einzigen gesellschaftlichen Akteure sind: Leute rund um den Globus mit geteilten oder gemeinsamen Bestrebungen, die Schwachen, die Alten und die Jungen, die Reichen und die Armen, Frauen, Familien, informelle Netzwerke der Nachbarschaftshilfe und Mitglieder der Zivilgesellschaft. Die einzigen benannten politischen Akteure sind Lokalpolitiker, Bürger und Stadtverwaltungen. Es gibt überhaupt keine Bezugnahme auf die wirtschaftliche, politische oder ideologische Rolle multinationaler Konzerne, transnationaler Banken, strategischer Allianzen gigantischer Unternehmen, des militärisch-industriellen Komplexes, der auftauchenden transnationalen Klasse, des Weltwirtschaftsforums oder der Gesamtdynamik des Kapitalismus im Gegensatz zu den Marktkräften. Es gibt keine Bezugnahme auf populäre Bewegungen, neue soziale Bewegungen, Graswurzelkämpfe, Gewerkschaften oder politische Parteien - good governance schwebt scheinbar über der Parteipolitik. Es gibt auch weder eine Referenz an die entscheidende Rolle des IWF, der Weltbank, der OECD, der WTO oder anderer internationaler Wirtschaftsagenturen noch auf die zentrale Rolle der USA und ihrer Verbündeten bei der Globalisierung oder bei der Umgestaltung politischer und sozialer Institutionen zur Unterstützung und Ergänzung des Neoliberalismus. Vermutlich müssen diese Institutionen oberhalb der nationalen Ebene (wo die endgültige Verantwortung für soziale Gerechtigkeit und Umverteilung offenbar angesiedelt werden muss) operieren und (technokratisch) den Rahmen für nachhaltige städtische Entwicklung definieren dürfen. Umweltverschmutzung und -zerstörung scheinen eher Naturgegebenheiten als Produkte spezifischer Kombinationen von sozialen Verhältnissen zu sein. Die in Macht Setzung (empowerment) von Frauen scheint ein Schlüsselmechanismus bei der gesellschaftlichen Transformation zu sein, aber das Patriarchat firmiert nirgends als ein Mechanismus der Beherrschung oder Unterdrückung - und weder Staaten noch Firmen, weder politische noch Wirtschaftseliten scheinen handfeste Interessen an der Aufrechterhaltung des Patriarchats zu haben.
Kurzum haben wir hier einen Text mit einem simulierten Egalitarismus (der eines "wir", einem Kollektiv von Individuen, Familien und Gemeinschaften, die alle gleichermaßen mit objektiven, unvermeidbaren Veränderungen und Herausforderungen konfrontiert sind): Dem Bericht "Reinventing the City" mangelt es an jedwedem expliziten Bezug zu Macht und Autorität, Ausbeutung und Beherrschung. Folglich überrascht es kaum, dass diese Herausforderungen scheinbar in einer Weise überwunden werden können, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit mit lokaler Autonomie, Wirtschaftswachstum mit Nachhaltigkeit, Marktkräfte mit Lebensqualität, die Bedürfnisse der Hochqualifizierten mit der Wirtschaftsentwicklung der Gesamtstadt und so weiter in Einklang bringen. Diese Harmonisierung von Widersprüchen und Antagonismen soll durch die Versammlung der Guten und der Großen, der Männer und der Frauen, der Reichen und der Armen, der Machthaber und der Meinungsmacher, der Barackenbewohner und der Bodenbesitzer, unter dem Banner der good governance erreicht werden. Dass sie sich versammeln werden, scheint durch die "angehäuftes Wissen" und "Erfahrung" gesichert, die beide die Vorzüge einer mehrdimensionalen nachhaltigen Entwicklung erkannt hätten.

Über governance und governance-Versagen

Angesichts seiner unausgesprochenen Akzeptanz des globalen neoliberalen Vorhabens überrascht es kaum, dass der "Reinventing the City"-Bericht" als Lösung des Dritten Wegs zum Versagen von Markt und Staat good governance auf die Tagesordnung setzt. Aus der Sicht der internationalen Agenturen, die für diese good governance-Agenda werben, ist dies im wesentlichen eine technokratische Notlösung, die sich auf die harmonisierenden Kräfte des Dialogs in angemessen strukturierten und organisierten Foren verlässt. Dabei wird unterstellt, dass weder Widersprüche noch Antagonismen oder durch Gespräche unlösbare Konflikte existieren, sondern es wird einfach auf den guten Willen gebaut, sich über böse Absichten hinwegzusetzen. Unter der Voraussetzung, dass für die Lenkung des Marktes und der Zivilgesellschaft eine neue institutionelle Architektur ausgehandelt werden kann und dass die an der Vernetzungsarbeit und an den Verhandlungen Beteiligten sich für ihren Erfolg einsetzen, soll good governance und nachhaltige Entwicklung bald schon verwirklicht sein.
Bequemerweise ignorieren solche Rezepte aber zwei Punkte:
1) Eine neue Architektur von Institutionen verhält sich gegenüber den gesellschaftlichen Kräften nicht neutral, so dass ihr Design notwendigerweise das Ergebnis eines höchst politischen Prozesses sein muss.
2) Governance neigt genauso zum Versagen wie der Markt oder der Staat.

Befürworter von good governance scheinen zu glauben, dass nur Märkte oder Staaten versagen können und dass governance irgendwie zum Erfolg bestimmt ist. Aber sogar der "Reinventing the City"-Bericht gesteht ein, dass der "bedeutende Übergang" - von traditioneller, zentralisierter, vorschriftsgemäßer Verwaltung zu guter, verantwortlicher, flexibler, dezentralisierter governance - nicht über Nacht zustande kommen wird. Die ungeheuren jüngsten Anstrengungen und die bisher begrenzten Erfolge zeigen, wie schwierig sich dieser Prozess gestalten wird. Unterdessen wächst der Bedarf an unabhängiger Lokalpolitik, die auf die Anforderungen der lokalen Situation und Bürgerschaft zugeschnitten ist, weiter. Zeigt sich daran lediglich der fehlende gute Willen oder gibt es grundsätzlichere Hindernisse für die Tagesordnung der good governance? Was den Bericht "Reinventing the City" anbelangt: In ihm lässt sich jedenfalls keine Antwort darauf finden.


1 - "Trickle-down"-Effekte sind vermeintliche indirekte Verteilungswirkungen, die die Liberalisierung und Deregulierung der Märkte laut neoliberaler Ideologie mit sich bringen soll. Bildlich gesprochen muss der Tisch der Reichen so voll geladen werden, dass er überläuft und Krumen für die Armen abfallen (Anmerkung des Übersetzers).
2 - Jessop spricht im englischen Original von der "new, re-scaled form of market society". Der Terminus scale kann dabei am ehesten mit dem Begriff der räumlichen (lokalen, regionalen, nationalen, globalen) Ebene wiedergegeben werden. In dem der Ausdruck als Verb (scaling) verwendet wird, weist Jessop darauf hin, dass diese Ebenen selbst Produkte räumlicher Produktionsprozesse sind und nicht einfach als überhistorisch vorausgesetzt werden können. (Anmerkung des Übersetzers).
3 - (Good)Governance wird in der deutschen Version des Weltberichtes verkürzt mit "(gute) Selbstverwaltung" wiedergegeben. Dabei geht die spezifische Bedeutung des Governance-Begriffes verloren. Governance bezeichnet in erster Linie die Erweiterung des Spektrums politischer Entscheidungsträger um nicht-staatliche Akteure aus der Wirtschaft und zum Teil aus der Zivilgesellschaft. Der Wandel von Government (Regierung) zu Governance weist also auf eine selektive Öffnung des Staates zur Gesellschaft hin. Governance ist aber keineswegs einfach mit Demokratisierung gleichzusetzen, sondern kann je nach institutionellem Design auch auf die Privatisierung politischer Entscheidungen hinauslaufen (Anmerkung des Übersetzers).
4 - Benchmarking ist neudeutsch für die Definition eines Richtwertes, auf den sich ein Entwicklungsprozess hinentwickeln soll und an dem er sich messen lassen muss. Die Rede - gerade im UN-Kontext - von Best Practices oder besten Beispielen bezieht sich implizit auf solche per Benchmarking definierten Richtwerte (Anmerkung des Übersetzers).
5 - Workfare bezeichnet die Verkoppelung von Sozialleistungen und Arbeitszwang: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." Hierzulande haben workfare-Elemente Eingang in die sozialpolitische Praxis gefunden, wenn etwa SozialhilfebezieherInnen bei Androhung der Leistungskürzung um zunächst 25 Prozent sog. gemeinnützige zusätzliche Arbeit (gzA) für Stunden"löhne" zwischen DM 1,-- und DM 3,-- ableisten müssen oder wenn bei ArbeitslosenhilfeempfängerInnen systematisch die Grenzen zumutbarer Arbeit gesenkt werden, während gleichzeitig im Fall der Verweigerung einer nunmehr als zumutbar definierten Arbeit Leistungsentzug angedroht wird (Anmerkung des Übersetzers).
6 - Vgl. Fussnote 5

Übersetzung aus dem Englischen: Erwin Riedmann, Jens Sambale, Renate Berg


Weiterführende Literatur

N. Fairclough 1989: Language and Power. London

B. Jessop 1997: "Die Zukunft des Nationalstaats: Erosion oder Reorganisation? Grundsätzliche Überlegungen zu Westeuropa". In: S. Becker, T. Sablowski und W. Schumm (Hrsg.): Jenseits der Nationalökonomie? Weltwirtschaft und Nationalstaat zwischen Globalisierung und Regionalisierung. Berlin

B. Jessop 1999: "Globalisierung und Nationalstaat. Imperialismus und Staat bei Nicos Poulantzas - 20 Jahre später". In: Prokla. Nr. 116

K. Polanyi 1944: The Great Transformation: The Political and Economic Origins of our Time. New York


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