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Urban 2000

empirica hat Walter Rostow neu entdeckt

Alter Wein in neuen Schläuchen?
Susan Ruddick

 

1962, d.h. vor fast 40 Jahren, veröffentlichte Walter W. Rostow seine Theorie vom ökologischen Wachstum. Obwohl sein Werk eindeutig den Nationalstaat – und nicht die Städte – zum Gegenstand hatte, finden wir im analytischen Zugang von empirica heute ähnliche Grundannahmen, die sich diesmal jedoch auf die lokale Ebene, d.h. auf die wirtschaftliche Entwicklung von Städten, beziehen.

Rostows Ausführungen, die in den folgenden Jahrzehnten breit rezitiert wurden, zeichneten ein Bild von autonomen Nationalstaaten, die – vergleichbar mit Biokulturen in Petrischalen – jeweils Subjekte einer singulären und internen Entwicklungslogik sind. Unter normalen Bedingungen – so Rostows Theorie – durchliefen alle intelligenten Nationalökonomien bestimmte Stadien des Wachstums, der Entwicklung und des "take offs", so dass am Ende alle den Status blühender und entwickelter Industrienationen erreichen könnten.

In Anlehnung an Rostow präsentiert empirica heute die Vision von selbstbewussten und unabhängigen Stadtstaaten, die – orientiert am Wohlergehen ihrer EinwohnerInnen – nur genügend kollektive Anstrengungen zu unternehmen hätten, um diesmal auf der lokalen Ebene einen Zustand zu erreichen, der den Menschen all das bietet, was sie sich überall auf der Welt am meisten wünschen: sichere Arbeitsplätze, preiswerten Wohnraum, eine gute Infrastruktur und alle Annehmlichkeiten, die mit einem hohen Lebensstandard verbunden sind.

Für Rostow hatten die sehr unterschiedlichen Ausprägungen der sozio-ökonomischen Entwicklungen in den einzelnen Ländern und Kontinenten – die enorme Konzentration von Reichtum im Norden einerseits und die extreme Armut im Süden andererseits – "nichts zu tun mit der gegenseitigen Abhängigkeit von Entwicklungsprozessen und Unterentwicklung", bei denen das Wachstum bestimmter Nationen auf der systematischen und brutalen Ausbeutung der menschlichen und natürlichen Ressourcen in anderen Regionen beruht. Folgte man Rostow in seiner Argumentation, so bliebe nichts anderes zu tun, als sich in aller Ruhe zurücklehnen und darauf zu warten, dass sich das über all gleichmäßig in der Welt verteilte Potenzial – fast schon wie von selbst – entfaltet. Und sollte das wider Erwarten nicht passieren, so gibt es immerhin noch die Möglichkeit, die Schuld den Verlierern des weltweiten Wettlaus selbst in die Schuhe zu schieben.

Wachsende Gräben zwischen Arm und Reich

Das Unternehmen empirica wäre gut beraten, sich noch einmal genauer anzuschauen, was Rostows optimistische Voraussagen mit der traurigen Realität der globalen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten zu tun hatten, bevor versucht wird, seine These von den nationalökonomischen Wachstumschancen umstandslos auf die Ebene der Städte und die Zukunft ihrer BewohnerInnen zu übertragen. Es sieht nämlich ganz danach aus, als wäre seit den 60er Jahren etwas Entscheidendes schief gelaufen.

In den 38 Jahren, die seit der Erstveröffentlichung von Rostows "Theory of Economic Growth" vergangen sind, haben sich die "unterentwickelten" wie aber auch die "entwickelten" Staaten weitgehend von einem industriellen Wachstumspfad verabschieden müssen, der mehr Wohlstand und Lebensqualität für alle verspricht. Die "Aufholjagd" der so genannten Entwicklungsländer musste vielerorts mit einem hohen Preis bezahlt werden. Wenn es überhaupt eine Entwicklung zu verzeichnen gibt, dann ist es die eines immer größer werdenden Grabens zwischen Reichtums- und Armutsnationen, und das erhöhte Tempo, mit dem sich seit den 80er Jahren die Lebenserwartungen und -chancen in diesen Ländern auseinander entwickelt haben. Heute können wir die Resultate einer ungebrochenen Wachstumsideologie und der "neuen Globalisierungsrunde" bewundern: den Ausschluss von zwei Dritteln der Weltbevölkerung. Während überall die Verelendung zunimmt, konzentriert sich der weltweite Reichtum in den Händen einiger kleiner Eliten (14% der Weltbevölkerung), vornehmlich in den westlichen Industrienationen und einer Handvoll von "Satellitenstaaten" (Hirst/Thompson).

Inseln der "Ersten Welt"

Wollten wir versuchen, die "globalen Entwicklungslinien", wie sie sich in den letzten 20 Jahren herausgebildet haben, grob nachzuzeichnen, so ergäbe sich heute das Bild von einer dreigeteilten Welt, auch wenn die Folgen des globalen Kapitalismus – wachsende Migrationsbewegungen und zunehmende "Desintegration" auch der westlichen Nationalökonomien – die Grenzen zwischen diesen Teilen immer wieder verwischen. In der ersten Staatengruppe (westliche und "westlich orientierte" Nationen) haben sich die sozialen und ökonomischen Arrangements verstärkt, ausgeweitet und intensiviert, vorangetrieben von einem enormen Wachstum der Informationstechnologien, neuen Formen der Arbeitsteilung und der Entwicklung von supranationalen Handels- und Wirtschaftsblöcken, die – in unterschiedlichem Ausmaß â€“ neue governance-Modelle erfordern. In der zweiten Gruppe ließe sich eine kleine Anzahl von "Entwicklungsländern", die man hin und wieder auch den "Convergence Club" nennt, zusammenfassen. D.h., dass sich das Bruttoinlandsprodukt per Kopf (angepasst an die aktuellen Wechselkurse) überall dort dem Niveau der "entwickelten" Industrienationen angenähert hat, wo ausreichend Kapital und humane Ressourcen zur Verfügung stehen, um vom "technologischen Fortschritt" zu profitieren (Baumol u.a. 1994, Woodward 1998). Aber selbst in diesen Ländern zeigen sich große regionale Ungleichheiten und eine Verschärfung der Armut, so dass ihr Entwicklungsmodell auch unter der Bezeichnung "Wachstum ohne Dividende" firmiert (Perez-Bustillo/Cervantes). Darüber hinaus finden wir in Ländern wie Indien, das zu einem der ärmsten Länder der Welt gerechnet wird, auch Inseln von "First-World-Ökonomie" (Agnew/Corbridge 1995) vor. Zahlreiche Stadtregionen können gleichzeitig als Teil einer internationalisierten "Ersten Welt" wie auch als Teil der vormals sogenannten "Dritten Welt" bezeichnet werden /Agnew/Corbridge 1995, King 1990).

Schließlich gibt es eine dritte Gruppen von Staaten – ein Großteil davon in Afrika und Südamerika – mit einem extrem niedrigen Pro-Kopf-Einkommen und wenig Ausbildungschancen für die Bevölkerung. Viele dieser Länder sehen sich in einer Armutsfalle gefangen, aus der sie sich selbst kaum mehr befreien können. In einem Zeitraum von nur 20 Jahren hat sich z.B. das Bruttosozialprodukt der südlich der Sahara gelegenen afrikanischen Staaten um die Hälfte verringert, in Südamerika ist es um 30% gesunken (Woodward 1998).

Neue Methoden der Exklusion

Diese Beschreibung zeigt verdächtig große Ähnlichkeit mit Modellen der Vergangenheit, die die Welt in "entwickelte Nationen", "Schwellenländer" und "unterentwickelte Staaten aufzuteilen versuchten. Neu an der globalen Armuts- und Reichtumsverteilung sind jedoch die zum Einsatz gebrachten Mittel der Exklusion und Ausgrenzung von immer größeren Teilen der Weltbevölkerung. Die aktuelle Phase globaler ökonomischer Restrukturierung ist stärker als je durch starke Einwanderungskontrollen in den reichen Staaten gekennzeichnet, mit denen versucht wird, "niedrig qualifizierte" Arbeitskräfte oder "Armutsflüchtlinge" in ihren Heimatländern zu halten, während gleichzeitig der Druck auf diese Länder zunimmt, ihre Ausgaben für Gesundheits- und Bildungssystem und die gesamte soziale Infrastruktur zurückzuschrauben. Gleichzeitig werden sie dazu angehalten oder in "Macht gesetzt werden" ("empowered") – so die perverse Sprachregelung unserer Tage – eigene Strategien oder Modelle von besten Praktiken (best practice) zu entwickeln, um ihre Bevölkerung weiterhin mit Kleidung, Ausbildungsmöglichkeiten und Nahrung zu versorgen.

Wie fügt sich das von empirica vorgeschlagene Modell für Stadtstaaten – die jeder für sich mehr Verantwortung übernehmen sollen für das Wohlergehen ihrer eigenen "BürgerInnen" – in dieses oben entworfene Bild? Wenn überhaupt ein Signal von ihm ausgeht und es eine Bedeutung für die weitere Entwicklung hat, dann besteht sie darin, mit "guten Worten" dazu beizutragen, den Graben zwischen Arm und Reich noch weiter zu vertiefen. In dem Maße, wie es z.B. einigen "unterentwickelten" Ländern gelungen ist, Teile ihrer Ökonomie in den Weltmarkt zu integrieren, oder in anderen Worten "Inseln der Ersten Welt in der Dritten Welt" zu schaffen, haben gleichzeitig Armut und die regionale Ungleichheiten in diesen Ländern zugenommen. Das "Abfeiern" von urbanen Regionen als neue und entscheidende Akteure, die unabhängig von den Rahmenbedingungen nachhaltiges ökonomisches Wachstum hervorbringen können, bereitet nur den Weg für weitere Spaltungen und Polarisierungen. Es stellt eine neue "Ideologie" zur Verfügung, mit der Muter und Strategien der Exklusion an die heutigen Bedingungen angepasst und somit verfeinert werden können.

Ein weiterer Angriff mit guten Worten

Wenn wir eine Lehre aus der Vergangenheit ziehen können, dann zeigen uns die historischen Erfahrungen, dass Städte gerade nicht dazu in der Lage sind, sich ökonomischen Umbruchs- und Krisensituationen deren Ursachen jenseits der lokalen Ebene zu finden sind – aus eigener Kraft heraus zu entziehen. Während der Großen Depression in den 30er Jahren führten die sozialen Kosten der ökonomischen Umstrukturierungen und eine massive Akkumulations-, Konsumtions- und Produktionskrise zahlreiche westliche Städte direkt in den Bankrott. In Folge von Fabrik- und Unternehmensschließungen landeten zahllose selbst hervorragend ausgebildete, fähige junge Männer und Frauen einfach auf der Straße. Wenn es viele Städte damals nicht schafften, den durch die kapitalistische Reorganisation der Nationalökonomien ausgelösten Angriff zu überleben, woher sollen wir dann den begründeten Glauben nehmen, dass sie der aktuellen globalen Restrukturierung der kapitalistischen Märkte und ihren fatalen Folgen aus eigenen Anstrengungen heraus etwas entgegenzusetzen hätten? Und wie steht es mit der Hoffnung, dass eine bessere Ausbildung der Bevölkerung ausreicht, um sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen und ökonomische Unabhängigkeit zu erreichen?

Die Vision empiricas von den Entwicklungsmöglichkeiten der Städte erscheint auf den ersten Blick verführerisch, weil sie viele Elemente und Forderungen enthält, die von den sozialen Bewegungen in den letzten Jahren auf die Tagesordnung gesetzt wurden, sich jedoch gleichzeitig von ihnen entfernt. Wer könnte gegen die formulierte Zielsetzung einer nachhaltigen städtischen Entwicklung mithilfe demokratisierter lokaler Strukturen tatsächlich etwas einzuwenden haben? "Empowerment", Emanzipation und Nachhaltigkeit sind Begriffe, die im Dokument an prominenter Stelle Erwähnung finden.

Aber der von empirica vorgestellte Ansatz ist nicht der einer "sozialen Utopie" sondern der einer "sozialen Begrenzung" (vgl. Castells). Das hängt weniger mit der formulierten Zielsetzung als mit der Notwendigkeit zusammen, auf übergeordneten Ebenen alternative Entwicklungs- und Wachstumsmodelle zu entwerfen, um ihrer Vision überhaupt einen Schritt näher zu kommen. Ohne effektive Institutionen und Regulierungen auf der globalen Ebene, die faire und gerechte Handelsbeziehungen zwischen Menschen, Regionen und Nationen garantieren, ohne eine gerechte Arbeitsteilung auf der internationalen und nationalen Ebene, die sich gegen Ausbeutung und Verelendung richtet, ohne eine globale Vision von Emanzipation, haben urbane Regionen – insbesondere diejenigen, die heute schon vom Weltmarkt "vergessen" worden sind – von der Zukunft nur wenig Gutes zu erwarten. Dagegen erscheinen die Entwicklungen der letzen 40 Jahre, die Rostows optimistischen Prognosen und seiner "Theory of Economic Growth" folgten, fast schon in rosigem Licht.

Zwischenüberschriften von der Redaktion.

Aus dem US-amerikanischen von Britta Grell


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