Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 396 / Juni 2018

Leichtes Spiel für Investoren

Polen im Reprivatisierungsprozess

Von Marta Madej, Grischa Dallmer und Matthias Coers

Nach dem Zweiten Weltkrieg, Warschau war nahezu komplett zerstört, vereinfachte ein Dekret die Kommunalisierung des Eigentums an Boden und Immobilien. Besitzansprüche in der nicht wiederzuerkennenden polnischen Hauptstadt wurden damit als ungültig erklärt. Während der ersten Monate nach Kriegsende konnten die Eigentümer der rund 40.000 verstaatlichten Innenstadtgrundstücke noch ihren Anspruch registrieren lassen. Rund 17.000 taten dies. Heute wird in den Medien massiv darüber gestritten, ob der Ansatz der Verstaatlichung richtig gewesen sei. Dominiert wird die Debatte von einer marktradikalen Lobby, die die Zeit des Realsozialismus als Hölle auf Erden darstellt.


Anfang der 1990er Jahre brach das realsozialistische System samt der staatlichen Infrastruktur zusammen. Fabriken und Teile der öffentlichen Infrastruktur wurden privatisiert. Mit den Privatisierungen konnte der polnische Staat Gewinne erzielen. Ohne Gewinnerzielung für die öffentliche Hand erfolgt seit den 1990er Jahren die Reprivatisierung, also die Eigentums-Rückübertragung an die 17.000 Alt-Eigentümer, vergleichbar dem Restitutionsprozess nach Auflösung der DDR. Mafiös organisierte Unternehmen haben sich darauf spezialisiert, diesen Alt-Eigentümern die Besitzdokumente zu Spottpreisen abzukaufen. Viele der Wieder-Eigentümer sind von den Sanierungskosten der oft miserablen Bausubstanz und der Verwaltung der Objekte überfordert. Oft handelt es sich um Sozialwohnungen, deren Bewohner/innen die Miete nicht bezahlen können. Das lässt den Hausverkauf bzw. die Abtretung an Immobilienfirmen attraktiv erscheinen. Auch die öffentliche Hand hat kein Interesse, solche Wohnungsbestände zu halten. Zum Problem wird das für die Mieter/innen, denn die kapitalstarken Firmen üben als Vermieter erheblichen Verdrängungsdruck aus, um die Häuser aufzuwerten. Faktisch bedeutet dies brutale Entmietung.

Absurdität der Reprivatisierung

Für die Immobilienfirmen gibt es keine wirkliche Regulation ihrer Mieterhöhungsforderungen. Zwar muss begründet werden, warum die Miete steigen wird, doch das kann auch schon mal ein neuer Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach des Mietshauses sein. Dass die Auseinandersetzungen eine hohe Dramatik haben, zeigt der international bekannt gewordene Todesfall der Mieteraktivistin Jolanta Brzeska. Sie wehrte sich gegen ihre Entmietung in einem reprivatisierten Haus und unterstützte mit dem Warschauer Mieterverein andere Mieter/innen. Im Jahr 2011 wurde sie Opfer einer Gewalttat.
Mieter/innen haben generell in der polnischen Öffentlichkeit keinen einfachen Stand. Mietzahlungsprobleme werden individualisiert. Man glaubt, wer nicht zahlen kann, habe sich nicht genug angestrengt und stelle ungerechtfertigte Forderungen. Auch für den Staat gelten Mieter/innen nicht als Gesprächspartner/innen, sondern als Problem.
Seit zwei Jahren wird jedoch inzwischen auch in der Öffentlichkeit von einer Reprivatisierungsaffäre gesprochen. Die Grenzen der Absurdität wurden überschritten, als Grundstücke, auf denen öffentliche Infrastruktur wie Schulen, Museen oder der Kulturpalast stehen, reprivatisiert werden sollten. In der Öffentlichkeit war Kritik vernehmbar. Die rechtsnationale PIS-Partei konnte daraus Kapital schlagen, indem sie eine Kommission zur Überwachung des Reprivatisierungsprozesses einrichtete. Doch gerade auch aus emanzipatorischen und linken Kreisen wird sich zunehmend mit Stadtentwicklung und der Situation der Mieter/innen beschäftigt. Bisher wurde vor allem von anarchistischen Gruppen Mietersolidarität geleistet, inzwischen beziehen aber auch linke Akademiker/innen Position und Mieterorganisationen erfahren Gehör.

Die Geschichte und Aktualität der Reprivatisierungsprozesse in Polen werden in dem 2018 im Verlag Krytyka Polityczna erschienen Buch „Reprywatyzując Polskę“ (Polen im Reprivatisierungsprozess) von Beata Siemieniako dargestellt (39,30 Złoty, ISBN 978-83-65853-23-3).

Die Reprivatisierung in Polen war Thema im MieterEcho Nr. 343 / November 2010
„Der Wohnungsmarkt in Polen – Der Blick nach Polen zeigt, was Liberalisierung anrichtet“
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MieterEcho 396 / Juni 2018

Schlüsselbegriffe: Polen, Warschau, Reprivatisierung, Investoren, Kommunalisierung, Verstaatlichung, Realsozialismus, Privatisierung, Sozialwohnung, Verdrängung,

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