Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 392 / Dezember 2017

Zur Miete in einem Land des Wohneigentums

Eine Reportage über Wohnungsmarktprobleme und Mieteraktivitäten aus Madrid

Von Matthias Coers und Grischa Dallmer

In Madrid findet jährlich das soziale Filmfestival „16 Kilómetros de Cañada Real“ statt, zu dem 2017 der Berliner Dokumentarfilm „Mietrebellen – Widerstand gegen den Ausverkauf der Stadt“ eingeladen wurde. Nach der Filmvorführung standen eine Diskussion zu Stadtpolitik auf dem Programm und am folgenden Tag Zusammenkünfte von Aktiven, die sich für Mieterrechte und für das Recht auf Wohnen einsetzen.


Der Name des Festivals nimmt Bezug auf eine 16 Kilometer lange Straße am südlichen Rande Madrids, in der Menschen mit niedrigem Einkommen abgeschnitten von städtischer Infrastruktur leben. Das Festival wurde 2011 von der Stiftung Voces (Stimmen) als Sozialarbeitsprojekt gestartet, um mit dort wohnenden Kindern Kurzfilme zu erstellen, und präsentiert mittlerweile auch im Zentrum Madrids internationale Filme, die soziale Fragen thematisieren.

Nach der Filmvorführung entspannt sich eine Debatte über Stadtpolitik. Daran beteiligen sich unter anderem ein Rechtsprofessor von der Universität Cordoba, eine Sozialpsychologin, die in Cañada Real arbeitet, eine Stadtplanungsprofessorin aus Alcalá, ein Vertreter von Arquitectura sin fronteras (Architektur ohne Grenzen) sowie ein Aktivist, der zu den Favelas Brasiliens arbeitet. Bei den Diskutant/innen herrscht Einigkeit darüber, dass die derzeitige Stadtpolitik sich nicht genügend um die drängenden Fragen des Wohnens in der spanischen Hauptstadt kümmert. Man müsse an Sozialwohnungsprojekte anknüpfen, die es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch gab, bevor sich Francos Eigentumsförderung und Mietrechtsbeschränkungen durchsetzen konnten. Die Menschen in Cañada Real sind vom Wohnungsmarkt und von der städtischen Infrastruktur wie dem Personennahverkehr abgeschnitten. Eine Politik, die die Situation der Menschen dort verbessern will, müsse die mit der Segregation einhergehende Stigmatisierung angehen, so die Diskutant/innen. Zugleich brauche es einen positiven Umgang mit den lebensnotwendigen informellen Netzwerken der Communities.

 

Wohnungsmarkt den Banken überlassen

Dass die Wohnproblematik bis weit in die Mittelschicht hineinreicht, berichten Aktive am Tag nach der Filmvorführung. So meint Diego Sanz, ein Aktiver der PAH Vallekas, dass derzeit zwar Wirtschaftswachstum vorherrsche, viele internationale Investitionen, auch im Immobiliensektor, erfolgten und insgesamt die Arbeitslosigkeit gesunken sei. Aber dennoch lägen die Löhne um einiges niedriger als vor der Krise von 2008. Zudem habe 2012 eine von der Europäischen Union als Bedingung für das Auszahlen der Rettungspakete auferlegte Arbeitsmarktreform Arbeitnehmerrechte und Verhandlungsmöglichkeiten von Gewerkschaften stark eingeschränkt. Der Staat kürzte außerdem bei den Sozialleistungen.

Ähnliches berichtet Gomer Nuez, Mitglied der neugegründeten Mieterorganisation Inquilinato, betont jedoch ein weiteres Problem. Mit der Krise habe es eine enorme soziale Polarisierung gegeben, bei der die Eigentümer und Wohlhabenden reicher geworden sind und der Großteil der Bevölkerung inklusive Mittelschicht um einiges ärmer. Dies habe auch katastrophale Auswirkungen auf die Wohnsituation in Madrid und in ganz Spanien. Seit Jahren fehle eine Politik der Wohnungsvorsorge, denn das Thema wurde komplett den Banken überlassen. Deren hypothekenbasierte Konzepte kamen jedoch mit der Krise selbst in eine Krise und so entstanden die Probleme der zahllosen Zwangsräumungen und der lebenslangen Verschuldung der Zwangsgeräumten. Nuez zufolge sehen sich viele Familien gezwungen, leerstehende Wohnungen zu besetzen, weil sie sonst obdachlos wären. Allein in Madrid stehen ungefähr 200.000 Wohnungen leer. Zudem weist Madrid eine hohe Mobilitätsrate auf, was Zu- und Wegzüge angeht. Hinzu kommt der Besuch von 9 Millionen Tourist/innen pro Jahr. Das ist zwar noch nicht vergleichbar mit Barcelona mit mehr als 30 Millionen, doch beides verschärft den Preisanstieg bei den Wohn- und Lebenshaltungskosten.

Seit den 1950er Jahren ging es in Spanien darum, basierend auf den Stabilisierungsplänen Francos, Wohneigentum gegenüber dem Wohnen zur Miete zu stärken. Dadurch sollte eine Mittelschicht entstehen, die sich aus Angst vor Verlusten nicht sozialen Protesten anschließen würde. Im Zuge dessen wurden die Rechte von Mieter/innen stark abgebaut. Bis heute ist das die gängige Praxis. Zuletzt wurde 2013 die aus den 50ern stammende Mietgesetzgebung (LAU) zuungunsten der Mieter/innen verschärft. Eine der Neuerungen war, dass Mietverträge statt zuvor für fünf Jahre nun nur noch für drei Jahre abgeschlossen werden können. Zugleich ist in Spanien die Nachfrage nach Mietwohnungen groß, aber das Angebot äußerst klein. Der verschwindend geringe öffentliche Bestand an Sozialwohnungen beträgt nur 1% des Wohnungsmarkts. Das führt dazu, dass sich viele Menschen Wohnungen ungewollt teilen müssen, da sie weder die Möglichkeit haben, per Kredit eine Wohnung zu kaufen, noch die Miete zu bezahlen. Außerdem sind die Kosten für Gas, Strom und Wasser stark angestiegen. So kommt es selbst bei Familien der unteren Mittelschicht zu Energiearmut. Besonders in den letzten zwei Jahren sind die Mieten in Madrid enorm angestiegen, vor allem im Zentrum, aber auch in den Außenbezirken. Dass Mietshäuser für Investoren interessant sind, ist in Spanien noch recht neu. Das ökonomische Modell, das die Eigentumswohnung favorisiert, erzeugt auch ein kulturelles Modell, Sozialwohnungen ausschließlich für Randgruppen zur Verfügung zu stellen. Dies ermöglicht wiederum einen Diskurs, der die Notwendigkeit von Sozialwohnungen überhaupt negiert. Die Verantwortung für die Wohnsituation wird dann vermeintlichen individuellen Verfehlungen angelastet.

 

Mietergewerkschaft und PAH

Der Großteil der Zwangsräumungen, in Barcelona sogar über 90%, findet heute bei Mieter/innen statt und nicht mehr bei Hypothekenbetroffenen. Angesichts der brisanten Lage der Mieter/innen hat sich in Madrid eine Gruppe aus verschiedenen sozialen Bewegungen für das Recht auf Wohnraum und Einzelpersonen zusammengefunden. Sie nennt sich Mietergewerkschaft, da sie ihre Auseinandersetzungen in die Geschichte der Arbeitskämpfe stellt und auf die Praxis gewerkschaftlicher Arbeit Bezug nimmt. Formell ist sie keine Gewerkschaft, sondern eine Initiative, die sich über Versammlungen und verschiedene Kommissionen organisiert. Derzeit wird eine Satzung erarbeitet, die als Grundlage der Arbeit dienen soll. In der Mietergewerkschaft sind drei Kommissionen aktiv. Die Kommission für Kommunikation ist für Pressearbeit und Zusammenarbeit mit anderen Gruppen zuständig. Um die aktuelle Situation zu analysieren, eigene Positionen zu entwickeln und diese in die öffentliche Debatte zu bringen, hat sich die Kommission für Argumentation gebildet. Die dritte Kommission organisiert die Beratungsarbeit und wechselseitige Unterstützung vor Ort. Die Mietergewerkschaft arbeitet eng zusammen mit den PAHs, die sich bisher am aktivsten um Probleme von Mieter/innen gekümmert hatten, doch dies bei der Komplexität der Lage nicht mehr allein bewältigen können.

In einem angeeigneten ehemaligen Bankgebäude findet eine Versammlung der PAH Centro statt. Hier wird eine aktuelle Gesetzesinitiative von unten (ILP) thematisiert, an der die Madrider PAHs zusammen mit dem Bündnis der Nachbarschaftsversammlungen (FRAVM) und weiteren Gruppen arbeiten. Das Gesetz soll das Recht auf würdevollen und sozialen Wohnraum für alle Menschen in Madrid garantieren. Fast zwei Jahre hat es gedauert, den Gesetzestext zu entwickeln. Innerhalb von drei Monaten wurden über 77.000 Unterschriften gesammelt. Die ILP ist laut der Aktivist/innen der PAH zwar ein Instrument direkter Demokratie, doch letztlich entscheiden die Parteien, ob sie den Entwurf überhaupt bearbeiten. Aktuell wird Druck ausgeübt, damit sich die Abgeordneten verpflichtet fühlen. Ende Oktober lehnten die konservative Volkspartei (PP) und die Ciudadanos-Partei es ab, sich dem Entwurf zu widmen. Zur nächsten Abgeordnetenversammlung mobilisieren nun die Initiativen. Das Gesetz wäre ein großer Schritt. Denn es sieht die Schaffung sozialer Mietwohnungen vor und die Kopplung der Mieten an die Höhe der Einkommen.

 

 

FRAVM: Federación Regional de Asociaciones de Vecinos de Madrid

ILP: Iniciativa Legislativa Popular

LAU: Ley de Arrendamientos Urbanos

PAH: Plataforma de los Afectados por la Hipoteca

PP: Partido Popular

 

 

Weitere Informationen zu Wohnungsmarkt und Mieteraktivitäten in Spanien siehe MieterEcho Nrn. 361/ Juli 2013 und 376/ September 2015.

 

 


MieterEcho 392 / Dezember 2017

Schlüsselbegriffe: Wohneigentum, Wohnungsmarktprobleme, Mieteraktivitäten, Madrid, Mietrebellen – Widerstand gegen den Ausverkauf der Stadt, Sozialwohnungsprojekte, Franco, Eigentumsförderung, Mietrechtsbeschränkungen, Banken, Mietergewerkschaft, PAH

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