Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 387 / April 2018

Wohnraum ist keine Ware

Der lange Weg zur Mietpreisregulierung in Lille

Vom Atelier populaire d’urbanisme de Lille Moulins/APU    

 

Anfang der 1990er Jahre führten im ehemaligen Industrieviertel Moulins in Lille umfassende wirtschaftliche und soziale Veränderungen zum starken Anstieg der Wohnungsmieten. Dieser zwang die Bewohner/innen des Viertels, vor allem Arbeiter/innen und Einkommensschwache, sich zu organisieren, um ihr Recht auf Verbleib in ihren Wohnungen zu verteidigen. Der Verein Atelier populaire d’urbanisme de Lille Moulins/APU (Offene Werkstatt für Stadtentwicklung) wurde 1993 auf Initiative einiger Bewohner/innen des Viertels Moulins gegründet. „Wir haben beschlossen, uns zu organisieren, um gemeinsam unser Recht auf Wohnraum geltend zu machen. “      


Die Krise des Mietwohnungsmarkts trifft vor allem die arme Bevölkerung Lilles. Die Deindustrialisierung der französischen Wirtschaft traf die Stadt hart und führte zu einer hohen Arbeitslosigkeit. Teile der Bevölkerung sind nahezu vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen und konzentrieren sich auf wenige Stadtteile. Die Armutsquote ist eine der höchsten in Frankreich. In den Départements Nord und Pas-de-Calais liegt das durchschnittliche Haushaltseinkommen bei etwa 1.200 Euro pro Monat gegenüber rund 1.700 Euro in ganz Frankreich. Eine 3-Zimmer-Wohnung kostet in Lille auf dem privaten Mietwohnungsmarkt durchschnittlich 850 Euro pro Monat. Familienzuwachs wird angesichts dieser Mietpreise zu einer Kostenfrage, da größere Wohnungen für viele ärmere Haushalte unbezahlbar sind. Der Zugang zu Wohnungen ist für arme Mieter/innen zusätzlich erschwert, weil beispielsweise Bürgschaften gefordert werden oder ein Haushaltseinkommen, das dem Dreifachen der Miethöhe entspricht. Für eine  durchschnittliche 3-Zimmer-Wohnung müsste ein Haushalt über ein Einkommen in Höhe von 2.255 Euro verfügen. Für viele Mieter/innen in Lille ist das fernab ihrer Realität.
Immobilienspekulation, die Verteuerung der Grundstückspreise und steigende Mieten sind in der ganzen Stadt Lille ein Problem. Die Folge ist ein enormer Anstieg der Mietpreise in den letzten Jahren. Der Stadtteil Moulins ist besonders von Mietsteigerungen betroffen. Einkommensschwächere Haushalte können sich nur noch im Sozialwohnungssektor mit Wohnraum versorgen und ihre sowieso schon schlechten Wohnbedingungen verschlechtern sich zusehends. Viele Haushalte müssen überteuerte Mieten bezahlen, da sie keine andere Wohnung finden. Wohnstandards werden unterschritten und die Überbelegung von Wohnungen nimmt zu. Wohnkonflikte und Mietschulden sind die Folgen der steigenden Preise. Mittlerweile warten in Lille 17.000 Haushalte auf eine Sozialwohnung. Die durchschnittliche Wartezeit beträgt etwa 18 Monate. Dabei unterschlägt dieser Durchschnittswert, dass Haushalte mit sehr niedrigen Einkommen und Großfamilien häufig mehr als sechs Jahre auf eine Sozialwohnung warten müssen. Laut einer Studie von 2008 ist Lille nach Paris und Nizza die drittteuerste Stadt Frankreichs.

 

Aktionen der APU

Zur öffentlichen Beratung der APU erscheinen hauptsächlich Sozialhilfebeziehende und prekär Beschäftige mit Problemen wie Überbelegung der Wohnung oder Mietschulden. Diese Kategorie von Haushalten stellt in Lille laut offizieller Statistik mehr als 60% der Anträge auf das droit au logement opposable/DALO, das gesetzlich verankerte Recht auf Wohnraum. Nicht erfasst werden diejenigen Haushalte, die aufgrund langer Wartezeiten oder der Zurückweisung des Wohnungsgesuchs (etwa aufgrund eines unpassenden Aufenthaltstitels) keine Anträge stellen.
Unter der Parole „Wohnraum ist ein Recht, keine Ware!“ organisierte die APU eine politische Kampagne als Reaktion auf die Krise des Wohnungsmarkts. Die Kampagne richtete zwei wesentlich Forderungen an die Politik: Einerseits eine frankreichweite erhebliche Steigerung des Neubaus von Sozialwohnungen insbesondere für arme Haushalte. Andererseits eine gesetzlich geregelte Mietpreisregulierung des privaten Wohnungsmarkts, da der soziale Wohnungsneubau allein nicht ausreicht, um die akute Unterversorgung ärmerer Haushalte mit bezahlbaren Wohnungen in absehbarer Zeit zu beenden.

 

Gesetze zur Marktregulierung    

Als Reaktion auf die verschärfte Situation auf dem Wohnungsmarkt wurde 2014 frankreichweit ein neues Gesetz erlassen, das loi pour l’accès au logement et un urbanisme rénové/ALUR (Gesetz für den Zugang zu Wohnraum und einer erneuerten Stadt). Das Gesetz soll das Marktversagen regulieren und das Wohnungsangebot besser an die Einkommensstruktur der Bevölkerung einzelner Stadtgebiete anpassen. In Gebieten mit angespannten Wohnungsmärkten soll die Mietpreisexplosion auf dem privaten Wohnungsmarkt durch die Einführung einer Mietpreisregulierung und einer behördlichen Kontrollinstanz, der Observatoire de loyers (Beobachtungsstelle für Mieten), beschränkt werden. Nach heftiger Kritik der privaten Immobilienlobby, die in dem Gesetz eine Gefahr für ihre Gewinnmargen sah, schreckte die Politik zurück und beschränkte die verbindliche Umsetzung des Gesetzes auf Paris. In allen anderen Städten Frankreichs bleibt die Umsetzung dieser Reform dem politischen Willen der örtlichen Behörden überlassen. Auch das ALUR-Gesetz selbst wurde auf Druck der Immobilienlobby um mehrere Regelungen, die den Zugang zu Wohnraum verbessern sollten, beschnitten.
Die Stadtregierung Lille ebenso wie die Regierungen von Grenoble und Rennes haben ihrerseits einen Vorstoß gewagt, um dem Gesetz auch in ihren Städten Geltung zu verleihen. Mittelfristig will die Regierung Lilles das Gesetz auf den gesamten Gemeindeverband Métropole Européenne Lilloise ausweiten. Als ersten Schritt schuf die Stadtregierung im Jahr 2015 eine öffentliche Kontrollbehörde, als Grundvoraussetzung für die Durchsetzung des Mietpreisregulierungsgesetzes. Die Behörde errechnet eine durchschnittliche Vergleichsmiete, die um maximal 20% überschritten werden darf. Angelehnt ist das Modell an das deutsche Vergleichsmietensystem. Mitte Dezember 2016 richtete die Bürgermeisterin von Lille, Martine Aubry, einen Brief an die privaten Vermieter der Stadt: „Angesichts des angespannten privaten Mietwohnungsmarkts und der Notwendigkeit, die Mieten an die finanziellen Ressourcen der Mieter/innen anzupassen, haben wir uns seit einigen Jahren in Lille eine gesetzliche Regulierung des privaten Mietwohnungsmarkts gewünscht. Damit wollen wir nicht nur die Mietentwicklung, sondern auch die Mietpreise kontrollieren. Die März 2015 eingesetzte Observatoire des loyers hat in den letzten zwei Jahren zahlreiche Daten erhoben, die bestätigen, dass die privaten Mieten in Lille die Miethöhen der meisten anderen Großstädten Frankreichs übersteigen und für die Mehrheit der Einwohner/innen unserer Stadt nicht bezahlbar sind. Die Mietpreiskontrolle wurde im Interesse der Liller/innen unter Berücksichtigung eines Ausgleichs von privater Rentabilität und Gemeinnützigkeit beschlossen. Ich zweifle nicht daran, dass Sie unseren Schritt verstehen und uns in unserem Vorhaben unterstützen werden, indem Sie das Gesetz einhalten und zu seiner bestmöglichen Umsetzung beitragen.“

 

Dämpfung der Mietsteigerungen

Das Dekret trat am 1. Februar 2017 in Kraft und wurde von der APU Moulins begrüßt. Die bisherigen Erfahrungen von Partnerorganisationen des Vereins aus Paris zeigen, dass die vor einigen Monaten eingeführten Kontrollen bereits erste positive Effekte im Sinne einer Selbstregulierung der Mieten hatten. Ein Problem ergibt sich jedoch aus der Berechnung der Vergleichsmiete. Diese werden aus den Marktmieten der letzten zwei Jahre berechnet. Zu diesem Zeitpunkt waren die Mieten aber bereits sehr hoch und für viele ärmere Haushalte nicht tragbar. Es ist daher davon auszugehen, dass das Gesetz zwar mittel- bis langfristig eine Dämpfung der Mietentwicklung zur Folge haben wird, aber diese Abschwächung der Mietpreisentwicklung erfolgt auf einem bereits sehr hohen Niveau der Vergleichsmieten. Kurzfristig verändert das Gesetz nichts an der prekären Situation der ärmeren Haushalte. Die Hürden beim gesetzlich verankerten Zugang zu Wohnraum bleiben unangetastet. Ein derart marktkonformes Gesetz kann angesichts einer neoliberalen Wohnungspolitik kein Instrument sein, um die sozialen Rechte der Mieter/innen zu verteidigen. Vielmehr verlangt die anhaltende Krise des Wohnungsmarkts grundsätzliche politische Veränderungen. Das System, das zugunsten des ökonomischen Profits einiger weniger Armut und Ausgrenzung von vielen in Kauf nimmt, muss ein Ende haben.


Übersetzung aus dem Französischen von Eleonore Willems, Mitglied bei APU Moulins.



MieterEcho 387 / April 2018

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