Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter

Verschwindet die Jugendarbeit?

Im Jugendbereich wird seit Jahren drastisch gekürzt – Sparpakete und Schuldenbremsen verschärfen die Entwicklung

Philipp Mattern
 

Als „skandalös“ bezeichnet die Gewerkschaft ver.di die finanzielle Situation der Jugendarbeit in Berlin. Gesetzlich garantierte Gelder kämen nie bei den Einrichtungen an. Stattdessen sei bei der Jugendarbeit ein enormer Abbau von Umfang und Ausstattung zu verzeichnen. Das führe zu eingeschränkten Angeboten, schlechterer Bezahlung von Beschäftigten oder gar zur Schließung ganzer Einrichtungen.

 

„Die Kürzungen kamen aber keineswegs auf einen Schlag, sondern es ist ein schleichender Prozess, der sich in den letzten zehn Jahren auf verschiedenen Ebenen vollzog“, sagt Julia Dietz, Pädagogin im Jugendclub Linse in Lichtenberg, wo man gerade mit den Auswirkungen des letzten Bezirkshaushalts zu kämpfen hat. Der sah für die Jahre 2010 und 2011 eine Kürzung von rund 10% für die Jugendeinrichtungen vor. „Wenn man solche Sparvorgaben bekommt, sitzt man da und muss rechnen“, so Dietz. Schließlich wurde in der Linse ein Tanzlehrer entlassen, die Festangestellten reduzierten ihre Stunden, und Reparaturen und Anschaffungen sind auf Eis gelegt.
 

Skandalöser Gesetzesbruch

Dabei dürfte es solche Kürzungen eigentlich gar nicht geben. Das Berliner „Gesetz zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes“ schreibt vor, dass mindestens 10% des Gesamtbudgets der Kinder- und Jugendhilfe für die Jugendarbeit ausgegeben werden müssen – was aber nicht passiert. „Nach Recherchen von ver.di verstoßen seit Jahren alle Berliner Bezirke gegen diese gesetzliche Vorgabe. Der Gesetzesbruch wird vom Abgeordnetenhaus und dem Senat geduldet“, so Werner Roepke, Fachbereichsleiter Gemeinden bei ver.di. Eigentlich müssten es pro Jahr 150 Millionen Euro sein, es werden aber nur rund 79 Millionen ausgegeben. Der Anteil ist in den letzten Jahren immer weiter gesunken. Nach Verantwortlichen sucht man vergebens: Eigentlich wäre die Einhaltung der Vorgabe Sache der Bezirke. Diese aber meinen, vom Senat zu wenig Geld zugewiesen zu bekommen, was der Senat natürlich anders sieht. „Man gerät bei Verhandlungen schnell in eine Art Ping-Pong-Spiel, bei dem Kompetenzen hin und her gespielt werden, sodass unklar bleibt, wer überhaupt zuständig ist“, beschreibt Dietz die Situation für die Träger und Einrichtungen. Entsprechend aussichtslos bleibt der – meist vereinzelte – Protest der Betroffenen gegen die Sparmaßnahmen. Um das zu ändern und eine bezirksübergeifende Interessenvertretung zu organisieren, gründete sich im Frühjahr dieses Jahres die Initiative „Jugend verschwindet“, der inzwischen mehr als 20 Einrichtungen und über 60 Einzelpersonen angehören. Die Pädagogin ist optimistisch: „Die Kürzungen sind deshalb möglich, weil die Jugend keine Lobby hat. Das wollen wir ändern.“ Zu den zentralen Forderungen gehören neben dem Erhalt und dem Ausbau bestehender Einrichtungen die Laufzeitverlängerung der Leistungsverträge für freie Träger auf 5 Jahre, die Erarbeitung einer Rahmenvereinbarung für Kinder- und Jugendarbeit auf Senatsebene und eine Entlohnung der Beschäftigten in diesem Bereich nach den Standards des öffentlichen Dienstes.
 

Privatisierungswelle in den Bezirken

Die problematische Lage der Jugendarbeit resultiert auch aus der Privatisierung kommunaler Einrichtungen. Vor rund 4 Jahren begann man in Lichtenberg mit der Ausschreibung fast sämtlicher Einrichtungen. Weitere Bezirke wie Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg folgten dem Beispiel. Bei dem Verfahren werden die Einrichtungen nicht einfach verkauft, sondern es werden freie Träger gesucht, die das bisherige Angebot weiterführen – und zwar zu niedrigeren Kosten. Dazu werden mit den freien Trägern Leistungsverträge geschlossen. Für einen bestimmten Betrag müssen sie eine vereinbarte Leistung erbringen. Wie sie das schaffen, ist ihr Problem und nicht mehr das der Bezirke. Die freien Träger sparen vor allem bei der Bezahlung ihrer Angestellten. Während in kommunalen Einrichtungen die Tarife des öffentlichen Dienstes gelten, werden bei freien Trägern meist schlechtere Haustarife geboten oder Honorarverträge abgeschlossen.

In einigen Bezirken befinden sich inzwischen mehr als 90% der Einrichtungen in freier Trägerschaft. Ihre angeblich höhere „Effizienz“ lässt den Senat insgesamt weniger Geld für die Jugendarbeit bereitstellen und setzt andere Bezirke in Zugzwang, ebenfalls zu privatisieren. Der Trend dürfte sich deshalb in den nächsten Jahren fortsetzen und weitere Sparmaßnahmen nach sich ziehen. Die häufig nur für wenige Jahre geltenden Leistungsverträge bieten bei jeder Neuauflage die Möglichkeit, weitere Einsparungen vorzunehmen oder sie gar nicht erst zu verlängern.
 

Bei der Prävention wird gespart

Der angebliche Sparzwang bei der Jugendarbeit wird häufig mit dem Anstieg der Kosten in anderen Bereichen der Jugendhilfe begründet, allen voran bei den sogenannten „Hilfen zur Erziehung“. Dabei handelt es sich um „nachsorgende“ Leistungen der Jugendämter. Um das Wohl des Kindes sicherzustellen, besteht auf diese Leistungen ein individueller Rechtsanspruch, weshalb eine Kostenreduzierung schwierig ist. Anders ist das bei der als „präventiv“ geltenden Jugendarbeit. Auf sie gibt es keinen individuellen Rechtsanspruch und ihr „angemessener“ Umfang ist nicht definiert. Er ergibt sich vielmehr aus der Kassenlage der Bezirke. Und die sieht in den meisten Fällen nicht besonders gut aus. Da kommt es mitunter vor, dass die präventive Jugendarbeit als eine Art Pfand für Sparvorgaben in anderen Bereichen der Jugendhilfe herhalten muss. Damit nicht zu viel Geld für die Hilfen zur Erziehung ausgegeben wird, wurden beispielsweise im Neuköllner Haushalt Sperren im Bereich der Jugendarbeit gesetzt. „Erst nachdem die vorgegebenen Einsparungen nachgewiesen und akzeptiert wurden, hat das Bezirksamt diese Gelder freigegeben“, sagt Bezirksjugendstadträtin Gabriele Vonnekold. Da eine Sperre zum Halbjahr nicht rechtzeitig aufgehoben wurde, sah sie sich vor einigen Monaten gezwungen, die laufenden Leistungsverträge mit 15 freien Trägern vorübergehend zu kündigen. Bei denen herrschte helle Aufregung: Insgesamt rund 30 Angestellte und mehrere Dutzend Honorarkräfte waren von dieser Maßnahme betroffen. Inzwischen konnten alle Verträge neu aufgelegt werden – in einigen Fällen jedoch zu ungünstigeren Bedingungen für die Träger. Bei präventiven Maßnahmen zu sparen, wenn die Kosten für nachsorgende Leistungen in die Höhe gehen, ist offensichtlich absurd.

An solchen Beispielen zeige sich die katastrophale Lage der Kinder- und Jugendarbeit in den Berliner Bezirken, meint Mark Medebach, Vorsitzender des Landesjugendrings Berlin, einem Zusammenschluss von 34 Kinder- und Jugendverbänden. „Kinder- und Jugendarbeit leistet einen entscheidenden Beitrag zur Partizipation und zur Integration junger Menschen in die Gesellschaft“, so Medebach. Damit wirke sie auch präventiv. „Wer hier spart, riskiert eine steigende Jugenddelinquenz mit allen damit verbundenen Nachteilen und Kosten. Investitionen in die Kinder- und Jugendarbeit sind somit nicht nur inhaltlich sinnvoll, sondern helfen letztlich auch, Geld bei den nachsorgenden Leistungen einzusparen.“
 

Einklagbarer Rechtsanspruch

Um dem weiteren Abbau der Jugendarbeit entgegen zu wirken, schlägt der Paritätische Gesamtverband vor, einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Angebote der Jugendarbeit im Kinder- und Jugendhilfegesetz zu verankern. Außerdem sei die Kostenfreiheit für Kinder aus armen Haushalten zu garantieren. Dann könnten theoretisch Kinder und Jugendliche vor Gericht ziehen, wenn es für sie kein zureichendes Angebot gibt. „Das ist aber nicht das Ziel“, erklärt die Pressesprecherin des Verbands Gwendolyn Stilling. „Uns geht es darum, die Kommunen verstärkt in die Pflicht zu nehmen, Angebote zu machen und zu erhalten, die dem Bedarf vor Ort gerecht werden.“ Kritisch hingegen sieht sie die im Rahmen der Hartz-IV-Reform viel diskutierten Bildungschipkarten. „Pauschalisierte Gutscheine können öffentliche Infrastruktur nicht ersetzen“, so Stilling. „Außerdem ist es eine bedenkliche Kompetenzverschiebung, wenn die Zuständigkeit für Leistungen der Jugendarbeit nicht mehr bei den kommunalen Jugendämtern, sondern bei den Jobcentern liegen soll.“

Vor einer weiteren Verschlechterung der kommunalen Jugendarbeit warnt auch Gewerkschafter Roepke: „Durch Sparpakete und Schuldenbremsen werden die Kommunen in den nächsten Jahren noch stärker unterversorgt.“ Als Folge werde überproportional viel bei den sogenannten „freiwilligen Leistungen“ gespart.
 

Jugendarbeit

Jugendarbeit stellt einen Teil der Kinder- und Jugendhilfe nach dem 8. Sozialgesetzbuch (SGB VIII) dar. Sie umfasst überwiegend offene Freizeit-, Erholungs-, Bildungs- und Beratungsangebote, wie sie z. B. Jugendzentren bieten.

Jugendarbeit ist eine Aufgabe der Kommunen, diese können sie jedoch an gemeinnützige freie Träger – wie Jugend- und Wohlfahrtsverbände oder Kirchen – abtreten.

Die Jugendarbeit mit ihrem „präventiven“ Charakter ist zwar eine staatliche Pflichtaufgabe, aber es besteht kein individueller Rechtsanspruch, wie das bei den „nachsorgenden“ Leistungen der Jugendämter der Fall ist, die den Großteil der Jugendhilfe ausmachen.

Über den „angemessenen“ Umfang der Jugendarbeit entscheidet deshalb häufig die Kassenlage der Kommunen.

 

MieterEcho Nr. 344 / Dezember 2010


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