MieterEcho 329/August 2008: Konzentration der Armut

MieterEcho

MieterEcho 329/August 2008

Quadrat TITEL

Konzentration der Armut

Enge Grenzen der „Angemessenheit“ und ein sich ständig verringerndes Angebot machen eine sozial gerechte Wohnungsversorgung unmöglich

Joachim Oellerich

Empfänger von Arbeitslosengeld II erhalten neben dem Regelsatz – über dessen Verwendung unlängst der von Steuergeldern lebende Finanzsenator Sarrazin hohntriefend seine Verfügungen traf – Geld für die Kosten der Wohnung. Über die Höhe der Unterkunftskosten, die Grenzen der sogenannten „Angemessenheit“ sowie die Ausnahmeregelungen entscheiden im Rahmen des II. Sozialgesetzbuchs die Kommunen. Das hat gute Gründe, denn zum einen tragen die Länder ca. 70% der finanziellen Aufwendungen und zum anderen sind die Durchführungsbestimmungen auf die örtlichen Bedingungen abzustellen, die nur von den Kommunen selbst beurteilt werden können.

Die in Berlin geltende Ausführungsvorschrift (AV-Wohnen) geriet im Dezember 2007 in die Kritik des Landesrechnungshofs (siehe hierzu auch nachfolgenden Beitrag). Als sei Sarrazins Geist leibhaftig in den Landesrechnungshof gefahren und habe ihn zum obersten Richter über das Sozialrecht erhöht, begann der Landesrechnungshof in einem bemerkenswert inkompetenten Gutachten Rechtswidrigkeiten aufzulisten, die er der AV-Wohnen anlasten zu können meinte und von denen er behauptete, sie erzeugten Millionenkosten in zweistelliger Höhe. Was zunächst nur Verwunderung hervorrief, zeigte sich im März dieses Jahres als Teil einer Methode. Der Bundesrechnungshof griff – wenn auch wesentlich qualifizierter – die Kritik auf und der Bundeshaltsausschuss transformierte sie auf eine politische Ebene. Ein weiterer Angriff neoliberaler Kräfte – auch Sarrazins Hetze steht in diesem Zusammenhang – gegen den übrig gebliebenen Sozialstaat kündigte sich an. Diesmal wird er allerdings nicht frontal, sondern auf Nebenschauplätzen wie dem Bereich der Kosten für die Unterkunft geführt.

Die sachliche Haltlosigkeit des Vorgehens verdeutlicht ein Blick auf die Entwicklung des Berliner Wohnungsmarkts. Die aktuell noch gültige AV-Wohnen trat am 1. Januar 2006 in Kraft, wurde aber bereits Mitte 2005 beschlossen. Sie konnte sich nur auf Wohnungsmarktdaten stützen, die bereits 2004 ermittelt wurden, in den Mietspiegel von 2005 eingeflossen sind und heute weitgehend als veraltet angesehen werden müssen. Zwar erfasst der Mietspiegel mit rund 1,2 Millionen Wohnungen nur ca. zwei Drittel der 1,88 Millionen Berliner Wohnungen, doch trifft die an ihm ablesbare Entwicklung auch auf die anderen Wohnungen zu. Außerdem liegen die meisten jenseits der Verfügbarkeit von ALG-II-Beziehenden und können allein deshalb unberücksichtigt bleiben.

Anstieg der Mieten ungleichmäßig

Der Berliner Mietspiegel 2007 weist gegenüber seinem Vorgänger von 2005 eine durchschnittliche Mietsteigerung von 5,8% aus. Absolut stieg die Durchschnittsmiete von 4,49 Euro/qm auf 4,75 Euro/qm. Diese nivellierende Betrachtung verbirgt aber, dass die Mieten in den bisher für Hartz-IV-Beziehende besonders geeigneten Marktsegmenten nicht nur durchschnittlich, sondern wesentlich stärker gestiegen sind. So hat sich z. B. für kleine Wohnungen unter 40 qm die Miete um 10,2% auf 5,14 Euro/qm erhöht. Ebenso überdurchschnittlich gestiegen – mit 9,9% – sind die Mieten für Wohnungen aller Größen und Lagen der bisher preisgünstigen und daher „ALG-II-tauglichen“ Baualtersklassen „1956 bis 1964“ und „1919 bis 1949“. Auch der Ostberliner Plattenbau von „1973 bis 1990“ wurde teurer und liegt aktuell mit 4,79 Euro/qm bereits um 4 Cent über dem Durchschnitt. Die Mieten kleiner Wohnungen der Baualtersklasse „1956 bis 1964“, die besonderem Nachfragedruck ausgesetzt sind, stiegen sogar um 11,7%.

Verringerte Anzahl „angemessener Wohnungen“

Noch liegen bei ca. 850.000 Wohnungen die Mieten innerhalb der durch die Unterkunftssätze gezogenen Grenzen. Das sind ca. 70% der im Mietspiegel erfassten Wohnungen und 48% des Berliner Gesamtbestands. Die Senatsverwaltung hatte bei Einführung der AV-Wohnen wiederholt 80% aller Berliner Wohnungen für verfügbar erklärt, aber nie die Datengrundlage ihrer optimistischen Einschätzung enthüllt. Der Landesrechnungshof stützte später seine Beanstandungen gerade auf diese geschönten Angaben. Doch selbst diese 850.000 Wohnungen stehen längst nicht allen der 320.000 Berliner Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften zur Verfügung.

Für 190.000 ALG-II-Single-Haushalte kommen nur 275.000 Wohnungen mit einer Miete von bis zu 360 Euro bruttowarm in Betracht. Um diese Wohnungen konkurrieren sie aber mit zahlreichen anderen kleinen Haushalten in der Stadt, von denen 400.000 als geringverdienend eingeschätzt werden. Das bedeutet, dass jede kleine preiswerte Wohnung von zwei Single-Haushalten nachgefragt wird.

In ähnlicher Lage befinden sich die 60.000 2-Personen-Bedarfsgemeinschaften. Ihnen stehen 180.000 „angemessene Wohnungen“ gegenüber, um die sie mit 510.000 Haushalten (die o. g. 290.000 unversorgten 1-Personen-Haushalte sowie 220.000 2-Personen-Haushalte) konkurrieren. Entsprechend hoch ist die Nachfragequote für diese Wohnungen. Die Situation entspannt sich erst für die größeren Bedarfsgemeinschaften, denn ihnen entsprechen die meisten der Berliner Wohnungen.

Ein Vergleich der Anzahl der Wohnungen, die 2005 zu den Sätzen der immer noch geltenden AV-Wohnen anzumieten gewesen wären, mit der Anzahl der „angemessenen“ Wohnungen 2007 zeigt ein stark reduziertes Angebot (siehe Tabelle). Allein von 2005 bis 2007 haben sich die Mieten der mit ALG II bezahlbaren Bestände für Single-Haushalte um 10% erhöht und ihre Anzahl ist in diesem Zeitraum um 10% zurückgegangen.

Die zukünftige Nachfrage auf dem Berliner Wohnungsmarkt ...

Die Zukunft des Wohnungsmarkts wird von der Entwicklung von Nachfrage und Angebot bestimmt. Der Trend der Bevölkerungsverringerung scheint, so prognostizieren viele Experten, beendet. 2006 lebten 3.404.037 Menschen in Berlin, das waren 8848 mehr als im Jahr zuvor. Doch nicht allein die Bevölkerungsgröße ist für den Wohnungsmarkt maßgeblich. Ebenso wichtig ist die Zahl der Haushalte. Die Tendenz zur Haushaltsverkleinerung setzt sich ungebrochen weiter fort und das bedeutet, dass sich die Anzahl der Haushalte entsprechend vergrößert. Dem Wohnungsmarktbericht 2007 der IBB ist zu entnehmen: „Insgesamt stieg die Zahl der Haushalte im Jahr 2006 um 32.400 (+1,7%), nach einem Zuwachs von 3900 im Vorjahr. Anders ausgedrückt: Annähernd die gleiche Bevölkerungszahl wie 1997 verteilt sich 2006 auf 7% mehr Haushalte.“ Die Bevölkerungs- bzw. Haushaltszunahme wird allerdings nicht von einer Steigerung der Einkommen, d.h. entsprechend erhöhter Mietzahlungsfähigkeit, begleitet. Zwar stieg das Pro-Kopf-Einkommen in Berlin seit 1996 um 4,5%, doch blieb es hinter der Steigerung im Bundesgebiet von 20% im gleichen Zeitraum weit zurück. Ein Vergleich mit Hamburg verdeutlicht die krasse Lage: 1996 betrug das Berliner Durchschnittseinkommen 80% des Werts von Hamburg, 2006 waren es nur noch 65%. Aber selbst die bescheidene Einkommenssteigerung von 4,5% kommt nicht allen Berlinern gleichermaßen zugute. Es sind nur die Besserverdienenden, deren Einkommen gestiegen ist, denn der Median (der Grenzwert zwischen der oberen und der unteren Hälfte) liegt seit zehn Jahren unverändert bei 1475 Euro pro Monat. Eine zunehmend verarmende Berliner Bevölkerung ist in immer stärkerem Maß auf preiswerten Wohnraum angewiesen. Doch zeigt der Mietspiegelvergleich: Gerade durch den Nachfragedruck steigen die Mieten in den kostengünstigeren Beständen überdurchschnittlich stark.

... und das zu erwartende Wohnungsangebot

Die Bautätigkeit ist beängstigend gering. In den letzten Jahren wurden nur noch ca. 3500 – teilweise auch weniger – Fertigstellungen von Wohnungen jährlich registriert und davon sind 75% Wohnungen in 1- und 2-Familien-Häusern. Gleichzeitig schrumpft der Wohnungsbestand durch Umwidmung in Gewerbe, Unbenutzbarkeit, Unvermietbarkeit und Abriss ständig. Konnte noch vor wenigen Jahren von einer Quote von 103 Wohnungen für 100 Haushalte ausgegangen werden, so standen 2007 nur noch 98,5 Wohnungen für 100 Haushalte zur Verfügung. „Der Verzicht auf die weitere Förderung von Sozialbauwohnungen und die zunehmende Aufwertung und Sanierung vorhandenen Wohnraums führen zu einer Abnahme des Angebots in den unteren Preisklassen“, kommentiert der IBB-Wohnungsmarktbericht.

Tatsächliche Angebotsmiete 20% über Mietspiegel

Eine solche Entwicklung spiegelt sich zwar auch in den Mieten des Bestands, aber noch mehr in den Angebotsmieten wider. Über sie gibt der von der GSW und dem Immobiliendienstleistungsunternehmen Jones Lang LaSalle erarbeitete Wohnungsmarktreport Auskunft. Diesem Bericht liegen 172.000 Mietangebote des Jahres 2007 zugrunde. Jeweils 25% der teuren und 25% der billigen Angebote blieben unberücksichtigt, die ausgewerteten restlichen 86.000 Angebote variierten von 4,6 Euro/qm bis 7,2 Euro/qm und bildeten einen gesamtstädtischen Durchschnitt von 5,8 bis 5,9 Euro/qm. Die auf diese Weise repräsentativ ermittelten Angebotsmieten liegen also um mehr als 20% über dem Mittelwert des Mietspiegels von 4,75 Euro. Für ALG-II-Berechtigte, die jetzt zur Senkung der Unterkunftskosten gezwungen werden, verringern sich entsprechend die Chancen, eine Wohnung im Rahmen der vorgegebenen „Angemessenheit“ zu finden.

Ausschluss und Konzentration von Hartz IV

Diese Situation beginnt das Bild der Stadt zu prägen. War bisher festzustellen, dass in bestimmten Lagen der Stadt, vorwiegend in den Altbaugebieten in Prenzlauer Berg, Friedrichshain und sogar auch Teilen von Kreuzberg, zunehmend über Neuvermietung eine Exklusion von ALG-II-Beziehenden stattfand, sich also vereinzelte „ALG-II-freie Zonen“ bildeten, so werden in Zukunft ALG-II-Konzentrationen in einer mehr und mehr sozial entmischten Stadt entstehen.

Es ist Zeit, dass die Politik gegensteuert. Ein notwendiger erster Schritt ist die Anpassung der „Angemessenheitssätze“ an die gestiegenen Wohnkosten. Ein noch viel wichtigerer Schritt ist, die öffentlichen Wohnungsbauunternehmen endlich wieder von der engen Fessel der Betriebswirtschaftlichkeit zu befreien und ihnen zurückzugeben, was sie ins Leben rief: den Auftrag sozialer Wohnungsversorgung.

AV-Wohnen

In den Ausführungsvorschriften Wohnen (AV-Wohnen) sind Höchstgrenzen für die „Angemessenheit“ der Wohn- und Unterkunftskosten in Abhängigkeit von der Größe der Bedarfsgemeinschaften festgelegt. Bedarfsgemeinschaften mit zwei oder drei Personen dürfen entsprechend mehr Geld für eine Wohnung ausgeben als Bedarfsgemeinschaften, die nur aus einer Person bestehen.

Zurück zum Inhalt MieterEcho Nr. 329