MieterEcho 326/Februar 2008: Armut nicht mehr neu

MieterEcho

MieterEcho 326/Februar 2008

Quadrat SOZIALES

Armut nicht mehr neu

Neukölln weist bundesweit die meisten überschuldeten Haushalte auf

Christian Linde

Ob raufende Kinder auf dem Schulhof oder parkende Autos in zweiter Spur: Selbst wenn eine Nachricht kaum der Rede wert zu sein scheint, im Zusammenhang mit Neukölln wird ein Stichwort schnell zur Schlagzeile. Im von der Wirtschaftauskunftdatei Creditreform erstellten Schuldneratlas 2007, der 439 Kreise und kreisfreie Städte erfasst, ist der Schuldensituation in Neukölln sogar eine eigene Auswertung gewidmet. Denn, geht es ums Geld, sind die Meldungen aus diesem Stadtteil dramatisch. Das Beispiel Neukölln zeige, so die Creditreform, "dass selbst nachhaltigste Hilfestellungen die Überschuldungssituation aufgrund mangelnder ökonomischer und sozialer Ressourcen, insbesondere aufgrund fehlender Ausbildungs- und Arbeitsplätze, offensichtlich nicht alleine und nicht sofort verbessern können".

So weist Neukölln viele Probleme auf, die miteinander verknüpft Überschuldungsprozesse auslösen oder zumindest begünstigen. Neukölln, mit rund 300.000 Einwohner/innen, liegt seit Jahren mit einer Arbeitslosenquote von mehr als 25% weit über dem Berliner Durchschnitt.

Die Gruppe der von Überschuldung am meisten Bedrohten, die Alleinerziehenden, sind in Neukölln mit einem Bevölkerungsanteil von 46% vertreten. Nach Angaben des iff-Überschuldungsreports von 2007 ist das Überschuldungsrisiko Alleinerziehender fast zwölfmal so hoch wie das kinderloser Paare. Gleichzeitig verfügen Familien in Berlin über ein deutlich niedrigeres Einkommen als Familien in Städten wie Hamburg oder Bremen. Das verfügbare Einkommen eines Berliner Privathaushalts erreicht nur 64% des Niveaus an der Alster. Auf die Verschuldungssituation bis hin zur Überschuldung, also Zahlungsunfähigkeit, hat dies dramatische Auswirkungen.

Über 20% der Bevölkerung verschuldet

Die Schuldnerquote in Neukölln liegt aktuell bei 21,4%. Damit ist der Anteil in den zurückliegenden Jahren weiter angestiegen. 2006 waren es noch 21,1% und im Jahr zuvor 19,1% (Bundesdurchschnitt aktuell 10,9%). "Damit würde der Bezirk Neukölln als eigenständige Stadt betrachtet, den letzten Rang im Kreis- und Stadt-Ranking einnehmen", so das Ergebnis der Untersuchung. Insgesamt sind rund 52.000 Personen im Alter über 18 Jahren nicht nur verschuldet, sondern bereits überschuldet und weisen "nachhaltige Zahlungsstörungen auf".

Problem postindustrieller Entwicklungen

Zwar gehören insbesondere die Großstädte zu den Bühnen individuellen Statuskonsums. Die finanzielle Situation der Neuköllner Bevölkerung ist allerdings nicht allein darauf zurückzuführen, dass die Menschen über ihre Verhältnisse leben. Überhöhte Handykosten und Ratenvereinbarungen, die nicht eingehalten werden können, sind die eine Seite. Gleichzeitig gilt jedoch auch in Berlin, was Creditreform für das gesamte Bundesgebiet in immerhin der Hälfte aller Fälle als Ursache für die Schuldenkarriere festgestellt hat: Arbeitslosigkeit, Krankheit und Trennung vom Partner. Vor allem mit dem Verlust des Arbeitsplatzes waren in den zurückliegenden anderthalb Jahrzehnten viele Menschen in dem Bezirk konfrontiert. Vor der Wende 1989 war Neukölln neben Spandau der wichtigste Industriestandort in der bis dato geteilten Stadt. Der Bezirk hat den Wechsel zum Dienstleistungsstandort nach dem Niedergang zahlreicher Produktionsbetriebe seit Mitte der 90er Jahre nicht vollzogen. Die damit einhergehende Entlassungswelle hat zu einem strukturellen Kaufkraftverlust geführt, der bis in die Gegenwart nachwirkt. Die Schließung alteingessener Fachgeschäfte und die Ansiedlung zahlreicher Billigläden sind der sichtbare Ausdruck dieser Entwicklung.

Schuldnerberatungsstellen besorgt

Darüber hinaus beobachten die Mitarbeiter der Schuldnerberatungsstelle "Neue Armut", die seit über 20 Jahren ihre Hilfe anbietet, einen weiteren Trend mit Sorge. In den Wartezimmern in der Richardstraße sitzen nicht ausschließlich in der dritten Generation verschuldete Familien. Auch "Besserverdienende", die sich mit Immobilienkäufen verkalkuliert haben, gehören immer häufiger zu den Ratsuchenden. Angesichts dieser Problemballung sei selbst die effizienteste, auf Hilfestellung ausgerichtete Schuldnerberatung machtlos. Daher fordert die Landesarbeitsgemeinschaft der Schuldner- und Insolvenzberatung Berlin e.V. "einen weiteren Ausbau der präventiven Angebote, insbesondere für Jugendliche und Heranwachsende, um frühzeitig über die Gefahren und langfristigen Folgewirkungen von Überschuldung zu sensibilisieren".

Gänzlich scheint dem Senat die Entwicklung an der Schuldenfront privater Haushalte nicht entgangen zu sein, denn im Zuge der Nachbesserungen für die Bezirke im Rahmen der Haushaltsberatungen haben die Berliner Schuldnerberatungsstellen immerhin ein paar Euro oben drauf bekommen.

Zurück zum Inhalt MieterEcho Nr. 326