MieterEcho 322/Juni 2007: Ein stumpfes Schwert

MieterEcho

MieterEcho 322/Juni 2007

Quadrat WOHNUNGSMARKT

Ein stumpfes Schwert

Das "Geschützte Marktsegment" hat sich als wirksames wohnungspolitisches Instrument verabschiedet

Christian Linde

Wer sich am Berliner Wohnungsmarkt nicht selbst mit Wohnraum versorgen kann oder wem der Wohnungsverlust droht, soll nach Absicht des Senats Unterstützung erhalten, um diesen existenziellen Mangel zu beheben. Eines der dafür vorgesehenen Instrumente ist das Programm des sogenannten "Geschützten Marktsegments", das vor nunmehr 15 Jahren ins Leben gerufen wurde.

Der Hintergrund für das "Geschützte Marktsegment" liegt in den 80er Jahren. Damals hatte das Land Berlin den Wohnungsunternehmen Wohnungen, an denen es kommunale Besetzungsrechte für Dringlichkeitsfälle besaß, zur eigenverantwortlichen Belegung überlassen. Als dann Ende der 80er Jahre die massive Wohnungsnot einsetzte und die Wohnungsnotfälle nicht mehr untergebracht werden konnten, kam es zum Abschluss eines Kooperationsvertrags zwischen dem Land Berlin und den städtischen Wohnungsunternehmen. In diesem Vertrag stellte Berlin die Besetzungsrechtswohnungen zwar weiterhin frei, verlangte im Gegenzug jedoch die Unterbringung von jährlich 3500 Dringlichkeitsfällen im Bestand der Wohnungsunternehmen. Dabei blieb es den Gesellschaften überlassen, welche Wohnungen - gebundene oder ungebundene - sie zur Verfügung stellten. Der "Kooperationsvertrag Dringlichkeit" wurde 1991 durch eine Zusatzvereinbarung ergänzt. So wurde die bisherige Vereinbarung um Wohnungsbestände aus dem Ostteil der Stadt erweitert. 1993 löste der Kooperationsvertrag "Geschütztes Marktsegment" zwischen städtischen Wohnungsgesellschaften, den Bezirksämtern und dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) diesen "Feuerwehrfonds" ab. Eine zentrale Koordinierungsstelle des "Geschützten Marktsegments" beim LAGeSo koordiniert inzwischen die Wohnungsvermittlung zwischen Bezirksämtern und Wohnungsunternehmen.

Kontingent nie erfüllt

Der Kooperationsvertrag "Geschütztes Marktsegment" verpflichtete die städtischen Wohnungsunternehmen, zunächst pro Jahr 2000 Wohnungen, später 1350 zur Verfügung zu stellen. Mittlerweile hat sich die Zahl wieder geringfügig auf 1367 erhöht. Von diesen sollen 1100 Wohnungen an 1-Personen-Haushalte vermietet werden. In den Bezirksämtern sind dazu Fachstellen in der Abteilung Sozialwesen angesiedelt, die betroffene Menschen beraten und ggf. eine Wohnung vermitteln. Die vertraglich vereinbarte Zahl ist zu keinem Zeitpunkt seit 1993 von den Wohnungsbaugesellschaften erfüllt worden. Wurde das Kontingent in den ersten drei Jahren noch zu rund 80% bedient, sank die Quote in den Folgejahren immer weiter. Insbesondere in den zurückliegenden drei Jahren ist die Zahl drastisch gesunken. Von 921 im Jahre 2004 auf nur noch 742 im Jahre 2006 (siehe Tabelle 1). Nach Auskunft des LAGeSo hat sich dieser Trend auch im ersten Quartal 2007 fortgesetzt. Treten Veränderungen beim Wohnungsbestand eines Unternehmens auf, werden auf dessen Verlangen die Anteile sogar verringert und erst mit Beginn des darauffolgenden Jahres neu festgesetzt.

"Die Nichterfüllung des Kontingents wiegt um so schwerer, als die vereinbarten Kontingente gemessen am Bedarf von vornherein als zu niedrig angesehen werden müssen. Insofern erweist sich das zur Verfügung gestellte Wohnungsangebot in quantitativer Hinsicht als nicht bedarfsgerecht. Das zu niedrig angesetzte und zudem nicht erfüllte Kontingent führt dazu, dass die Zielgruppen des ‚Geschützten Marktsegments' letztlich stärker außerhalb des Programms mit Wohnraum versorgt werden müssen. Was die Bedeutung dieses wohnungspolitischen Instruments entscheidend schwächt." So lautet die Kritik der Autoren einer Studie mit dem Titel "Geschütztes Marktsegment in Berlin - Konzeption, Umsetzung, Ergebnisse und Erfahrungen", die vom Institut Wohnen und Umwelt in Darmstadt vorgelegt worden ist. "Mit Ausnahme der Gewobag hat keine der städtischen Wohnungsbaugesellschaften ihre selbst gesteckte Quote im vergangenen Jahr erfüllt", heißt es aus dem LAGeSo. Nach Angaben von Freien Trägern der Wohlfahrtspflege kommen hilfesuchende Mieter/innen inzwischen leichter mit privaten als mit städtischen Wohnungseigentümern zu einer mietvertraglichen Vereinbarung.

Vermittlung von nichtmarktfähigen Wohnungen

Eine berlinweit gleichmäßige Verteilung der Wohnungen des "Geschützten Marktsegments" sieht der Kooperationsvertrag zwischen dem Land Berlin und der Wohnungswirtschaft nicht vor. Die Wohnungsunternehmen erklären lediglich ihre Bereitschaft, im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine Konzentration des Wohnungsangebots auf bestimmte Bezirke zu vermeiden und dazu alle ihre Wohnungsbestände angemessen einzubeziehen. Umgesetzt wird diese Absichtserklärung allerdings nicht. Im Gegenteil: "Die Wohnungsunternehmen bieten verstärkt Wohnraum an, der auf dem allgemeinen Wohnungsmarkt kaum noch vermietet werden kann. Hierbei handelt es sich überwiegend um Wohnraum in wenig attraktiver Lage, sozial belastete Quartiere und Plattenbauten in den ehemaligen Ostbezirken, die auch bei der Klientel des 'Geschützten Marktsegments' wenig Anklang findet", heißt es in der 2005 vorgelegten Studie weiter.

Standard der vermittelten Wohnungen

Die Wohnungen selbst "müssen in gebrauchsfähigem Zustand sein", Wohnraum "ohne ausreichende sanitäre Ausstattung - fehlende Innentoilette, Dusch- oder Badewanne - werden nicht angeboten", so der Wortlaut in dem im November 2006 neu geschlossenen Kooperationsvertrag - nach mehr als zehnjähriger gegenteiliger Praxis. Ein Großteil der angebotenen Wohnungen liegt jedoch nach wie vor unter dem allgemeinen Standard. So waren die in den Jahren 1994 bis 2003 zur Verfügung gestellten Wohnungen zu rund einem Drittel lediglich mit Ofenheizung ausgestattet (siehe Tabelle 2). Selbst nach eigenen Angaben der Wohnungswirtschaft werden dem "Geschützten Marktsegment" auf einer Skala der Wohnungsbestände nach Qualität - von sehr schlecht bis sehr gut - vorrangig Wohneinheiten "aus der unteren Hälfte" angeboten. Im Übrigen könnten sich "problematische" Mieter, d. h. Mieter, "die aus einer schwierigen Situation kommen" und denen eine "nicht so gute Wohneinheit" vermittelt wird, "einwohnen" und bei "Bewährung" zu einem späteren Zeitpunkt in eine bessere Wohnung im Bestand des betreffenden Unternehmens wechseln, so die Wohnungsunternehmen lapidar. Experten außerhalb der Wohnungswirtschaft beurteilen die Qualität der Wohnungen wesentlich kritischer. Danach handele es sich bei den Wohneinheiten - wenn auch nicht durchgehend, so doch tendenziell - um eher "schwer vermietbare, qualitativ schlechte Wohneinheiten" mit einem einfachen Standard, die darüber hinaus in einem renovierungsbedürftigen Zustand sind. "So gut wie nie" würden Sozialwohnungen dem "Geschützten Marktsegment" angeboten. Bei den im Westteil Berlins vermittelten Wohnungen handele es sich überwiegend um Wohnungen aus der Nachkriegszeit und die im Ostteil angebotenen Wohnungen lägen vor allem in den Plattenbausiedlungen. "In Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte ist keine Wohnung mehr zu haben. Fast ausschließlich in Spandau, Hellersdorf-Marzahn und Lichtenberg stellen unsere Vertragspartner Wohnungen zur Verfügung", berichtet Gabriele Thiel vom LAGeSo.

Klientenprofil als Zugangsbedingung

Zugangsberechtigt zum "Geschützten Marktsegment" sind Personen, die sich nicht ohne Hilfe mit Wohnraum versorgen können. Hier sind sämtliche sozialhilferechtlichen Möglichkeiten zum Erhalt des bestehenden Mietverhältnisses erfolglos ausgeschöpft. Auch gehören zur Zielgruppe Menschen, deren Aufenthalt in betreuten Einrichtungen inkl. Haftanstalten endet und denen eine Entlassung in die Wohnungslosigkeit unmittelbar bevorsteht. Unterschieden wird in dem Programm zwischen einer A- und B-Berechtigung für den vorgehaltenen Wohnraum. Danach hat der Wohnungserhalt bei drohendem Wohnungsverlust Vorrang vor der Wohnungserlangung durch bereits von Wohnungslosigkeit betroffene Personen.

Bedingungslos erfolgt eine Wohnungsvermittlung aber nicht. Die Voraussetzungen hierfür sind - auf Druck der Wohnungswirtschaft - nicht nur eine "sozialpädagogische Prognose", dass die Bewerber/innen trotz der Notlage zu einer eigenständigen und eigenverantwortlichen Lebens- und Haushaltsführung in einem Wohnhaus fähig sind, sondern der Vermieter fertigt darüber hinaus eine "Bewerberverfahrensbestätigung" an. Diese weist eine Beurteilung des Wohnungsinteressenten aus. Dazu gehören u.a. Angaben über das "Erscheinungsbild und Auftreten des Bewerbers" und der Vermieter bewertet auch die "Eignung" des Wohnungskandidaten hinsichtlich des "Wohnumfelds". Eine Interventionsmöglichkeit bei Ablehnung durch den Vermieter ist für das Land Berlin (als Eigentümer der städtischen Wohnungsunternehmen) nicht vorgesehen.

Mangelware 1-Zimmer-Wohnungen

Die mangelnde Vertragstreue der Wohnungswirtschaft im Hinblick auf den Umfang der zur Verfügung gestellten Wohnungen verteidigt der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) in erster Linie mit der Nachfrageentwicklung auf dem Wohnungsmarkt. Nachdem die Wohnungsunternehmen in den zurückliegenden Jahren von einem sinkenden Bedarf bei 1-Zimmer-Wohnungen ausgegangen seien, diagnostiziere der Verband inzwischen wieder eine rasante Nachfrage. Dabei würde der Kampf um preiswerten Wohnraum bei 1- und 2-Zimmer-Wohnungen inzwischen von drei konkurrierenden Gruppen geführt: Neben Niedriglohnempfänger/innen und Langzeiterwerbslosen (ALG-II-Beziehenden), drängten auch zahlungskräftige Haushalte zunehmend auf diesen Markt. Während die gültige Fassung der AV-Wohnen* des Berliner Senats für die Übernahme der Kosten der Unterkunft für 1-Personen-Haushalte maximal 360 Euro bruttowarm vorsieht, weisen vor allem Wohnungen aus dem ehemaligen sozialen Wohnungsbau eine höhere Miete auf. Bei rund der Hälfte aller knapp 200.000 noch gebundenen Sozialwohnungen in Berlin, liegen die Mieten nettokalt bereits deutlich über fünf Euro/qm. Damit ist dieser Bestand der sozialen Wohnraumversorgung, insbesondere den Hartz-IV-Haushalten und damit auch dem Klientel des "Geschützten Marktsegments", de facto entzogen.

Laut Kooperationsvertrag müssen die von den Wohnungsunternehmen angebotenen Wohnungen den sozialhilferechtlichen Bestimmungen bzw. der AV-Wohnen in der jeweils gültigen Fassung im Land Berlin entsprechen. Gleichzeitig verpflichtet sich das Land, die in den AV-Wohnen geregelten Mietobergrenzen der jeweils aktuellen Fassung des Mietspiegels anzupassen. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung widerspricht deshalb der Darstellung der Wohnungswirtschaft. "Es ist nicht nachvollziehbar, dass die aus dem Berliner Mietspiegel abgeleiteten Mietobergrenzen in der AV-Wohnen-Unterkunft eine Hauptursache dafür sind, dass im Rahmen des ,Geschützten Marktsegments' Wohnungen nur unzureichend angeboten werden". Derzeit verfügt der Berliner Wohnungsmarkt über rund 285.000 1-Zimmer-Wohnungen. Dies entspricht etwa einem Anteil von 15% am Gesamtbestand.

Perspektive für Wohnungssuchende

"Das 'Geschützte Marktsegment' hat sich bewährt", verkündete die Senatssozialverwaltung anlässlich der Verlängerung des Vertrags vor Kurzem. Während Kritiker - vor allem aufgrund fehlender Sanktionsmöglichkeiten gegenüber der Wohnungswirtschaft bei Vertragsverstößen - das Papier für wirkungslos halten, warnen die Macher der oben genannten Fallstudie vor Forderungen, das Instrument tatsächlich aufzugeben. Um Personen mit besonderen Zugangsproblemen zum Wohnungsmarkt sowohl eine Wohnung zu verschaffen als auch anschließend den Erhalt des Wohnraums zu sichern, seien verbindliche Kooperationen zwischen Kommunen, Wohnungsunternehmen und freien Trägern der Wohlfahrtspflege weiterhin unverzichtbar. Es wäre fatal, das "Geschützte Marktsegment" etwa mit Hinweis auf einen "entspannten" Berliner Wohnungsmarkt aufzugeben. "Der begonnene Wohnraumrückbau sowie der praktisch zum Erliegen gekommene Wohnungsneubau lässt in absehbarer Zeit wieder eine Verengung des Berliner Wohnungsmarkts erwarten, sodass dann das Instrument des 'Geschützten Marktsegments' wieder eine größere Bedeutung erhält." Aus der Sicht der Wohnungswirtschaft dürfte der Vertrag zumindest kein Verlustgeschäft sein. Immerhin sichert das Instrument des "Geschützten Marktsegments" den Wohnungsunternehmen kontinuierliche Mieteinnahmen für praktisch nichtmarktfähige Wohnungen. Mehr noch: "Wir stehen zu dem Vertrag, denn er beinhaltet durchaus auch Regelungen, die die Vertragserfüllung durch die Wohnungsunternehmen erleichtern. Zum Beispiel gibt es einen Schadensersatz, wenn den Gesellschaften wirtschaftliche Schäden aus dem Mietverhältnis mit einem Marktsegment-Mieter entstehen", erklärte Wolfgang Bohleber, BBU-Vorstandsmitglied, in einem Rundbrief des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes im März 2007.

Appell an Stadtentwicklungssenatorin

In einem Brief an Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer will das LAGeSo im kommenden Monat Bericht erstatten. Vor allem die Zunahme von Mietschuldnern mit Hartz-IV-Bezug, die ins "Geschützte Marktsegment" drängen und der kontinuierliche Rückgang des Wohnungsangebots brennt den Mitarbeitern unter den Nägeln. "Die Wohnungsunternehmen sollten an ihre soziale Verantwortung erinnert werden. Ohne Druck seitens der Senatorin auf die Wohnungswirtschaft würde es ansonsten keine Veränderungen geben."

In der Senatsozialverwaltung hat man im Rahmen der angekündigten Überarbeitung der AV-Wohnen nach interner Prüfung von einer Anhebung der Mietobergrenzen für Hartz-IV-Beziehende bereits Abstand genommen.

Wirkungsloses "Geschütztes Marktsegment"

Heute muss festgestellt werden, dass das bundesweit einmalige Programm "Geschütztes Marktsegment" sein Ziel weitestgehend verfehlt hat. Dies ist auf mehrere Ursachen zurückzuführen:

Zurück zum Inhalt MieterEcho Nr. 322