Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 300   Oktober 2003

Anwohnerinitiative entdeckt neues 'Investitionshemmnis'

Investoren, Hauseigentümer und Architekten machen Front gegen die Ansiedlung eines Obdachlosenwohnheims

Christian Linde

Obwohl formal-juristisch der Weg für den Umzug eines Obdachlosenwohnheims von Friedrichshain nach Kreuzberg seit Ende August frei ist, steht die Ansiedlung des Sozialprojekts weiter auf der Kippe. Zwar waren in dem Gebäude in der Vergangenheit bereits Obdachlose untergebracht, doch nachdem das Bezirksparlament sich im Februar diesen Jahres dafür ausgesprochen hatte, die für den landeseigenen Liegenschaftsfonds nachgemeldete Immobilie am Legiendamm 30a/Ecke Waldemarstraße 12 nicht wie ursprünglich beabsichtigt für ein Jugendhotel, sondern erneut für eine Obdachloseneinrichtung zur Verfügung zu stellen, will eine so genannte Anwohnerinitiative das Vorhaben mit allen Mitteln verhindern.

Erforderlich wird der Umzug der Obdachlosenstätte, weil sich der derzeitige Standort im Ortsteil Friedrichshain in einem Planungsgebiet befindet, das städtebaulich neu entwickelt werden soll. Die Investorengruppe Anschutz Entertainment Group Development GmbH hat dort Grundstücke von der Deutschen Bahn AG erworben, um diese mit einem Stadtquartier und einer Mehrzweckveranstaltungshalle zu bebauen. Auf dem 21 Hektar großen Gelände des ehemaligen Ostgüterbahnhofs vis-a-vis der East-Side-Gallery sollen in den kommenden Jahren eine Multifunktionsarena sowie Büro-, Einzelhandels-, Wohn- und Freizeitflächen entstehen. Die dort ansässigen Gewerbebetriebe müssen dafür in den kommenden Jahren das Feld räumen. Mit den Abrissarbeiten an der Mühlenstraße 11, auf dem sich das Wohn- und Sozialprojekt der "Sozialen Integrativen Einrichtung Für Obdachlose in der Stadt GmbH" (Siefos) seit 1993 befindet, wird nach Angaben von Michael Kötter, Projekt Control Manager der Anschutz Entertainment Group, am 01.04.2004 begonnen.

Seit Ende Juli versucht die "Anwohnerinitiative Engelbecken" Mieter und Gewerbetreibende gegen das Obdachlosenheim zu mobilisieren. In einer Petition bezeichnen die Aktivisten die bevorstehende Ansiedlung als "eine große Gefahr für die weitere Entwicklung des gesamten Gebiets. Mit dieser Entscheidung wird die gesamte, bis jetzt positive Entwicklung des Gebiets gefährdet und der Sinn der vielen hier getätigten Investitionen der öffentlichen Hand und von privater Seite in Frage gestellt." Die Initiative wirft dem Bezirksamt vor, hinter dem Rücken der Anwohner gehandelt und alternative Standorte nicht geprüft zu haben wie z.B. das mögliche Ausweichobjekt an der Schlesischen Straße 27a. Zu eigen machen sich die Kritiker dabei den Finanzskandal um das ehemalige städtische Obdach. Das Haus diente früher als Übernachtungsmöglichkeit für Wohnungslose und wurde noch 1996 für rund 6,7 Mio. Euro aufwendig saniert. Trotzdem hat der Bezirk die Einrichtung Ende 2002 wegen mangelnder Auslastung geschlossen. Gleichzeitig sollte die Immobilie in den Liegenschaftsfonds überführt und zu Gunsten der leeren Bezirkskasse veräußert werden. Abstand davon nahm das Bezirksamt erst, als Kritik an dem zu erwartenden geringen Erlös laut wurde. Doch anstatt wie von der Anwohnerinitiative jetzt verlangt, den Betreiber der Friedrichshainer Obdachloseneinrichtung dort einzuquartieren, soll das Gebäude zukünftig als Bürger- und Standesamt genutzt werden.

"Wir haben die Petition nicht unterschrieben", stellt der Pastoralreferent der St. Michael-Gemeinde Hans-Joachim Ditz klar. "Mit den früher im Haus untergebrachten Obdachlosen hat es nie Probleme gegeben. Natürlich muss auf die Qualität der neuen Einrichtung geachtet werden. Doch Obdachlose verhindern nicht die Entwicklung eines Stadtteils", sagt Ditz. Insgesamt 143 Betroffene sollen in dem Gebäude betreut werden. Davon allein 60 im Rahmen von "Beheimatung" und Pflege. Das heißt Aufenthalt bis an das Lebensende. Empört zeigt sich Barbara Weichler-Wolfgram über die Aufforderung die Petition zu unterschreiben. "Hier schwingen sich überwiegend Menschen auf, die glauben, es in dieser Gesellschaft jetzt geschafft zu haben", sagt die Ärztin mit Blick auf die Hauptakteure der Initiative. "Eine illustre Runde aus Kreuzberger Aufsteigern, Hinzugezogenen aus dem Nachbarbezirk Mitte und potenziellen Investoren von überall her."

Architekten wittern Aufträge

Bei einem "Anwohnertreffen" war denn auch kaum von bedrohter Wohnqualität die Rede. Vielmehr beklagten sich die Teilnehmer über drohende Investitionshemmnisse. "Für uns Investoren ist das eine Katastrophe", so ein eigens aus Bielefeld angereister 'Professor'. "Wir müssen für die Amerikaner das Land frei machen und der ganze Dreck wird an die Grenze von Westberlin gekehrt", polterte ein Teilnehmer. "Ganz in der Nähe am Oranienplatz treffen sich die Alkoholiker, am Kottbusser Tor die Drogenabhängigen", sagt der Architekt Ralph Rönsch. Da brauche man nicht auch noch das Obdachlosenheim.

Einer der Wortführer ist der SPD-Politiker Michael Rädler, der langjähriges Mitglied im Bau- und Planungsausschuss der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) ist. Rädler verlangt, "nicht nur Anschutz soll sich entwickeln, sondern auch das Gebiet hier." Seinen ehemaligen Kollegen unterstellt er, "vor Anschutz den Kotau gemacht zu haben, damit der milliardenschwere Investitionen tätigt." Ihm ist aber nicht nur das Obdachlosenheim ein Dorn im Auge. "Es existiert eine Problemkette, die vom Tommy-Weißbecker-Haus, den Wagenburgen über die Drogenszene am Kottbusser Tor bis hin zum Legiendamm reicht. Nachdem wir die Probleme mit den Ausländern einigermaßen im Griff haben, belastet man den Bezirk erneut." Die Ironie des Schicksals will es, das Rädler, der von 1959 bis Anfang diesen Jahres in der Schlesischen Straße wohnte und somit lange Jahre Nachbar der Obdachloseneinrichtung war, kürzlich an den Legiendamm gezogen ist. "Rädler hat in der Vergangenheit im Zusammenhang mit stadtplanerischen Projekten im Auftrag des Bezirksamts Ausstellungen organisiert", erinnert sich Gerhard Stahl, Mitglied des Bauausschusses im Bezirk. Jedoch nicht nur Rädler werden berufliche Ambitionen im Zusammenhang mit dem Grünstreifen und der Entwicklung der Freiflächen unweit zum Regierungsbezirk nach-gesagt. Auch bei dem Architekten Helmuth Hanle überschneiden sich offenbar die Interessenlagen. In einem Brief an die "Anlieger des Engelbeckens" sorgt sich der Diplom-Ingenieur nicht nur "um den Zustand und die Zukunft eines innerstädtischen Viertels", sondern auch, dass die "Rekonstruktion der Parkanlage am Engelbecken sich weiter hinauszögert." Das Areal erstreckt sich vom Oranienplatz bis zur Michaelkirche in Mitte. Hanle müht sich vor Ort auch als Vermittler von Gewerberäumen.

Unter dem Firmenschild "Anwohnerinitiative" gruppieren sich weitere Architekten und Investoren. "Der Investor Hofmeister hat sich bereits mit dem ,Opel-Haus‘ am Oranienplatz und zwei weiteren Objekten am Legiendamm in Kreuzberg eingekauft", heißt es aus dem Bezirksamt. Die Visitenkarte des potenten Kaufinteressenten für die umkämpfte Immobilie macht in Kreuzberg derzeit die Runde. Auch Herbert Müller wollte die Immobilie erwerben. Er ist ebenfalls Architekt und Miteigentümer des Nachbarhauses Legiendamm 34, das zur Zeit saniert wird. Müller kämpft an allen Fronten. Wohl um den Kaufpreis in die Höhe zu treiben, kündigte der Architekt nach der Ausschreibung im Zuge des Bieterverfahrens an, die Freifläche des Heimgeländes zur Waldemarstraße mit einem siebengeschossigen Wohnhaus bebauen zu wollen. Während er der Siefos ein komplettsaniertes Ausweichobjekt in der Friedrichshainer Pufendorfstraße offerierte, dient sich der freie Architekt gleichzeitig der Siefos als Geschäftspartner an. "Regelmäßig erhalten wir Anrufe mit der Nachfrage, ob bereits ein Architekt für die notwendigen Umbaumaßnahmen am Legiendamm bestimmt ist", sagt Siefos-Geschäftsführerin Cornelia Leibholz.

Die Investoren und Bauherren schielen vor allem auf das gegenüberliegende Grundstück an der Waldemarstraße 1-17, das sich im Eigentum des Bundes befindet. Seitdem die Bundesregierung Mitte der 1990er Jahre das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung bei den Grundstücken am ehemaligen Mauerstreifen außer Kraft gesetzt hat, ist auch die Brache unweit des Obdachlosenheims für den Zugriff des Markts frei. "Es sind Anfragen von Kaufinteressenten erfolgt", bestätigt Dorothee Dubrau, Baustadträtin von Mitte. Konkrete Planungen existierten jedoch nicht. Bauvorhaben hält die Bündnisgrüne nicht aufgrund des Obdachlosenheims, sondern allerdings angesichts der Situation auf dem Wohnungsmarkt dort in absehbarer Zeit für "unrealistisch".

"Diese Leute legen die Fackel"

In den Chor der Protestierenden hat sich inzwischen auch der Verleger Wieland Giebel eingereiht. Der Liebhaber des gedruckten Worts verlangt, das die Siefos aus Kreuzberg verschwindet. "Die Spur zu ihnen ist gekennzeichnet durch Uringeruch und durch torkelnde Männer, durch Menschen, die sich aufgegeben haben. Erst dies riechend und das beobachtend habe ich sie gefunden. Ich fordere sie auf, sich anderswo anzusiedeln. Es wird hier Ärger geben, bis sie sich zurückziehen", kündigt Giebel, der am Leuschnerdamm wohnt, in einem Schreiben an. Der Eigentümer des Giebel-Verlags und Betreiber der Buchhandlung Berlinstory, mit Sitz an der Nobeladresse "Unter den Linden", kann auf eine glorreiche politische Vergangenheit zurückblicken. Anfang der 1970er Jahre war er Mitbegründer des linken Elefanten-Press-Verlags und Initiator eines Kindertheaters. Laut Liegenschaftsfonds wollte der Schöngeist in einer Blitzaktion sogar selbst noch die Immobilie erwerben. Das Engagement für die Obdachloseneinrichtung durch Bezirksbürgermeisterin Cornelia Reinauer bezeichnet der ehemalige Kriegsdienstverweigerer als "fragwürdige politische Unterstützung". Reinauer bekräftigt unterdessen ihre Haltung, "überall, nur nicht bei uns. Nach diesem Motto kann es nicht gehen." In Anspielung auf eine von der Senatsbauverwaltung kürzlich veröffentlichten Statistik, wonach die Immobilienpreise in der Hauptstadt im Jahr 2002 bis zu 20% im Vergleich zum übrigen Bundesgebiet gefallen sind, fordert die PDS-Politikerin von den Investoren konkrete Angaben über mögliche Vermögensverluste. Ohne Reaktion.

Mit im Boot gegen "die massive Konzentration von Obdachlosen" sitzt auch der Bürgerverein Luisenstadt e.V. aus Mitte. "Deren Vertreter haben schon gegen den im Bezirk geplanten Drogenkonsumraum Front gemacht", sagt Barbara Seid, sozialpolitische Sprecherin der PDS in der BVV. Auf Betreiben des Vereins hat sich auch der Bezirksbürgermeister von Mitte Joachim Zeller (CDU) in den Konflikt eingeschaltet. In einem Schreiben fordert er von Reinauer "die Entscheidung zu überprüfen." Das Bezirksamt rechnet nun bezüglich des gültigen Bauordnungsgesetzes mit einer Klage vor dem Verwaltungsgericht.

Unterdessen macht die Anwohnerinitiative weiter Stimmung gegen die Obdachlosen. Nachdem diese beim zuständigen Polizeiabschnitt mit Anfragen über Lebenslauf und mögliche ,Vorstrafen‘ der Betroffenen vorstellig geworden ist, hat die Behörde die Geschäftsführung der Siefos zu einer Stellungnahme aufgefordert. Deren Anwalt hat daraufhin gegenüber dem Polizeipräsidenten rechtliche Schritte angekündigt.

Siefos hat nun ein Wachschutzunternehmen beauftragt, um das Gebäude am Legiendamm zu schützen. "Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass nichts passiert", sagt Cornelia Leibholz.

Siefos: Soziale Integrative Einrichtung Für Obdachlose in der Stadt GmbH
Das seit 1993 im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg betriebene Wohn- und Sozialprojekt ist vorrangig auf die Personengruppe der chronisch mehrfach beeinträchtigten Abhängigkeitskranken ausgerichtet.
Aufgenommen werden wohnungslose Menschen mit Einfach- und Mehrfachdiagnosen, Alkoholkranke und andere (Drogen-)Abhängige, Menschen mit sozialen Beeinträchtigungen und/oder körperlichen oder psychischen Erkrankungen.
Weitere Informationen unter www.siefos.de (Website nicht mehr online)