Mieterecho - Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft e.V.

Nr. 300   Oktober 2003

"Noch sind keine durchgreifenden Verbesserungen zu erwarten"

Interview zum Programm Soziale Stadt mit Rolf-Peter Löhr

VOLKER EICK

Dr. Rolf-Peter Löhr ist stellvertretender Institutsleiter des Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu), das im Auftrag der Bundesregierung das Bund-Länder-Programm "Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - die soziale Stadt" mit einer 15-köpfigen Arbeitsgruppe begleitet hat. Anlässlich der Veröffentlichung des Berichts der Programmbegleitung, der im Juni 2003 unter dem Titel "Strategien für die Soziale Stadt" erschienen war, führte das MieterEcho das folgende Interview mit dem Berliner Wissenschaftler.

MieterEcho (ME): Norbert Wohlfahrt und andere Sozialwissenschaftler haben in der Studie "Soziale Stadt - Sozialraumentwicklung - Quartiersmanagement" (vgl. vorangegangener Beitrag in diesem Heft, die Red.) davor gewarnt, Quartiersmanagement als 'Allzweckwaffe' zu behandeln. Wenn Sie es in wenigen Sätzen sagen sollten: Was kann Quartiersmanagement und was kann es nicht?

Rolf-Peter Löhr (Löhr): Quartiersmanagement ist keine Allzweckwaffe. Insbesondere ersetzt es keine gleichermaßen gesamtstädtisch wie quartiersbezogen angelegte, von Politik und Verwaltung aktiv betriebene Stadtentwicklungspolitik auf der Basis eines integrierten Handlungskonzepts. Quartiersmanagement ist ein komplexes, drei Ebenen umfassendes Instrument: Es ist nicht auf die Ebene des Quartiers beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf die Ebene und Arbeitsweise der Verwaltung sowie eine dazwischen gelagerte intermediäre Ebene. Es ist ein umfassendes Umsetzungs- und Entwicklungsinstrument, das einen abgestimmten Einsatz kommunaler und sonstiger Fördermittel erleichtern und die Potenziale der Bevölkerung und der Wirtschaft sowie sonstiger Institutionen des Gebiets aktivieren und sie zur konstruktiven Mitwirkung an der Gebietsentwicklung anregen und befähigen soll. Unsere Umfrage unter den Programmgebieten hat ergeben, dass es inzwischen ganz überwiegend auch so verstanden wird. Das befürchtete Abschieben von Verantwortung allein auf das Quartiersmanagement findet also in der Regel nicht statt.

ME: Der Bericht zur Programmbegleitung ist vorsichtig optimistisch in Hinblick auf das Bund-Länder-Programm. Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Erfolge, die mit der "Sozialen Stadt" bisher erzielt werden konnten? Welche Perspektiven sprechen Sie dem Programm zu?

Löhr: Angesichts der komplexen Probleme in den Gebieten der Sozialen Stadt kann man nach der kurzen Laufzeit des Programms noch keine durchgreifenden Verbesserungen erwarten. Dies gilt besonders deshalb, weil das Programm nicht auf bauliche Maßnahmen beschränkt ist, sondern vielschichtige und vielfältige soziale, kulturelle, ökologische und ökonomische Ansätze verfolgt und verfolgen muss, wenn nicht nur Kosmetik betrieben werden soll. Sogar traditionelle Sanierungen dauern 15 Jahre und länger. Aber nach unserer Umfrage in den Verwaltungen der Programmgebiete gibt es bereits jetzt in drei Vierteln der Gebiete signifikante Verbesserungen der Infrastruktur und der Atmosphäre im Gebiet. In zwei Dritteln der Gebiete konnten das Image nach außen und das Zusammenleben im Quartier verbessert werden. Fortschritte bei Beschäftigung und Ausbildung konnten dagegen nur in weniger als einem Drittel der Gebiete erzielt werden. Aber in 70 bis 85% der Gebiete wurden durch das Programm die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger, die Nähe der Verwaltung zum Stadtteil und die ämterübergreifende Kooperation verbessert, neue Bevölkerungsgruppen für die Quartiersentwicklung aktiviert und die Netzwerkbildung intensiviert. Das Quartiersmanagement wurde dabei als Motor für Aktivierung und Beteiligung wahrgenommen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass durch das Programm die Aufmerksamkeit für diese Gebiete in Politik und Verwaltung erhöht und die Menschen in ihnen mit ihren Potenzialen stärker wahr- und vor allem ernstgenommen werden.

ME: Am Helmholtzplatz im Bezirk Prenzlauer Berg sind Trinker vertrieben worden, in der High Deck-Siedlung in Neukölln werden keine Wohnungen an arabische Familien vermietet. In der bereits erwähnten Studie "Soziale Stadt - Sozialraumentwicklung - Quartiersmanagement" beschreiben die Autoren ähnliche Phänomene aus dem Ruhrgebiet. Wie stehen Sie zu der Feststellung, dass sich durch Quartiersmanagement mittelschichtsorientierte Interessen durchsetzen können - und das zum Teil auch schon getan haben -, die zur erneuten Ausgrenzung von so genannten benachteiligten Bevölkerungsgruppen führen?

Löhr: Es ist ein konstituierendes Merkmal von Demokratie, dass man nicht weiß, welche Mehrheit und Meinung sich durchsetzt und dass im Meinungsbildungsprozess die Eloquenten und Engagierten sowie die Demagogen dominieren können. Das ist kein Problem nur des Quartiersmanagements. Prof. Häußermann hat gerade für Prenzlauer Berg das Phänomen der "Segregation durch Bürgerbeteiligung" (ohne Quartiersmanagement) beschrieben. Gerade darum ist es vom Programm her Aufgabe des Quartiersmanagements, dafür zu sorgen, dass eben nicht die Starken und Selbstbewussten allein zu Wort kommen, sondern auch die Schwachen und Leisen sich beteiligen und maßgeblich mitwirken können. Dass dies nach unserer Umfrage und Ihren Beispielen nicht überall erfolgreich ist, ist sehr bedauerlich, aber menschlich. Das Programm kann weder gute Politik noch gute Menschen noch gutes Quartiersmanagement vorschreiben; es kann dies nur erleichtern und befördern. In dieser Ambivalenz des Programms - Eröffnen guter Möglichkeiten für innovatives kommunales Handeln, aber keine zwingenden Vorgaben, was sicher zu anderen Problemen führen würde - liegt auch die Stärke des Programms: Es gibt Impulse und Geld für innovatives Vorgehen, aber es überlässt weitgehend den Kommunen, hieraus etwas Gutes zu machen. Die Erfahrung nach vier Jahren Programmbegleitung zeigt, dass dieser Weg der richtige ist und zu besseren Ergebnissen führt als ein strikter Top-Down-Ansatz1. So befassen sich etwa in unserer Projektdatenbank zu Soziale Stadt 71 von 288 Projekten mit besonders benachteiligten Gruppen wie Wohnungslosen, Drogenabhängigen oder Behinderten und suchen einer Ausgrenzung dieser Personenkreise entgegenzuwirken. Als Beispiel will ich die Sanierung der Mühltal-Siedlung in Wiesbaden anführen. In dieser ehemaligen Obdachlosensiedlung wird unter intensiver Mitwirkung und Mitarbeit der Bewohnerinnen und Bewohner versucht, "mit den Traditionen sozialer Entsorgung aufzuräumen". Es wurden erstmalig Mietverträge geschlossen (unter den Preisen des Sozialen Wohnungsbaus) und das Wohnumfeld verbessert sowie ein Gemeinschaftszentrum eingerichtet; einige erhielten Arbeitsverträge. Für Berlin kann in diesem Zusammenhang auf das Projekt "mob - obdachlose machen mobil e.V." im Sanierungsgebiet Teutoburger Platz in Prenzlauer Berg hingewiesen werden, wo es auch darum geht, Obdachlosen im Quartier Arbeits- und Wohnmöglichkeiten zu schaffen.

ME: Eine Vielzahl der Quartiersmanagementgebiete basiert auf Verträgen mit einer Laufzeit von nur drei Jahren, bei der Hälfte ist die Laufzeit gar auf nur ein Jahr befristet. Das britische Programm "New Deal for Communities" (NDC) beispielsweise hat demgegenüber eine Laufzeit von zehn Jahren. Kann in den Quartieren mit besonderem Entwicklungsbedarf mit diesen geringen Laufzeiten Kontinuität aufgebaut werden?

Löhr: Das Programm Soziale Stadt basiert zwar auf jährlichen Verwaltungsvereinbarungen zwischen dem Bund und allen 16 Bundesländern wie die "klassische" Städtebauförderung seit 1971, ist aber dennoch wie auch diese auf Dauer angelegt. Da es insoweit keinen parteipolitischen Streit gibt - Hessen und Bayern betreiben die Umsetzung des Programms genauso engagiert wie Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein -, erscheint dies auch gesichert. Aber, wie bereits gesagt, die konkrete Umsetzung obliegt den Städten und Gemeinden. Von der Sache her ist ganz klar zu sagen, dass Quartiersmanagement nur dann wirklich erfolgreich sein kann, wenn es auf eine längere Sicht angelegt ist. Das notwendige Vertrauen zwischen Quartiersmanagement und Bevölkerung sowie sonstigen Akteuren im Gebiet kann nicht in kurzer Zeit aufgebaut werden, sondern braucht vielfach sicher mehrere Jahre. Umgekehrt muss die Stadt natürlich auch in der Lage sein, ein nicht richtig funktionierendes örtliches Quartiersmanagement abzulösen. Das gilt auch deswegen, weil das Anforderungsprofil für die Quartiersmanagerinnen und Quartiersmanager auf der lokalen Ebene noch keineswegs gesichert ist. Aber mehrere Fachhochschulen sowie Berufsbildungseinrichungen bieten inzwischen entsprechende Qualifizierungsstudiengänge an. Es ist daher weniger die formale Laufzeit der Verträge relevant als vielmehr die politische Beschlusslage, das Quartiersmanagement langfristig anzulegen.

ME: Angesichts von struktureller und Massenarbeitslosigkeit wird überall die Notwendigkeit betont, dem Aufbau der lokalen Ökonomie mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Wird aus Ihrer Sicht in diesem Bereich genug getan und was halten Sie für dringend erforderlich?

Löhr: Ziel des Programms ist es, nachhaltig positive Strukturen in den Gebieten zu schaffen. Dies ist ohne eine Belebung der örtlichen Wirtschaft, ohne die Förderung der Beschäftigung und der Qualifizierung der Menschen in diesen Gebieten nicht möglich. Die Entwicklung oder der Aufbau einer lokalen Ökonomie ist daher ein wichtiges Element sozialer Stadtentwicklung. Nach meiner Auffassung gibt es auf diesem Feld zwar einige gute Beispiele, die in unserer Projektdatenbank auch dokumentiert sind, insgesamt aber gibt es hier noch großen Nachholbedarf. Dies gilt insbesondere für die Wirtschaftsförderung in den Städten, die vielfach mit der hier notwendigen kleinteiligen Förderung von kleinen und kleinsten Betrieben überfordert ist. Das Quartiersmanagement kann hier durchaus eine wichtige Brückenfunktion übernehmen. Aber hier muss vielfach ein Wandel im Denken und Handeln der Wirtschaftsverwaltungen stattfinden, von der Neuansiedlung zur Bestandsförderung oder von der Großbetriebsorientierung zur Existenzgründung - und dies nicht nur im High-Tech-Bereich. Aber auch Sozialarbeit muss hier nicht selten Feindbilder abbauen und erkennen, dass viele kleine Betriebe Hilfe brauchen, etwa bei der Suche nach für die betrieblichen Belange qualifizierten Angestellten oder Auszubildenden und bei der Sicherstellung ihres regelmäßigen Erscheinens am Arbeitsplatz. In Großbritannien gibt es dazu vor allem für Jugendliche erfolgreiche Modelle, etwa das FOYER-Projekt im Rahmen des New Deal gegen Jugendarbeitslosigkeit. Aber es gibt inzwischen auch Förderprogramme der EU oder entsprechende Landesprogramme, die hier hilfreich sind.

ME: Sie haben in Ihrem Bericht angemahnt, dass "ohne ergänzende Reformen der öffentlichen Leistungssysteme auf gesamtstaatlicher Ebene" die "Umsetzungserfolge des Programms nicht nur auf räumliche, sondern auch auf inhaltliche Inseln beschränkt und langfristig in ihrer Wirkung begrenzt" bleiben müssen. Sind aus Ihrer Sicht die Hartz-Gesetze 'ergänzende Reformen' oder eher schädlich für eine positive Entwicklung auf der lokalen Ebene?

Löhr: Der Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit, eine der wichtigsten Ursachen für die Entstehung benachteiligter Quartiere in den Städten, ist in den letzten Jahren auch bei wirtschaftlichen Aufschwüngen ständig gestiegen. Ohne Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt wird daher eine nachhaltige Verbesserung der Lage nicht erfolgen und es werden gerade die Menschen in den Quartieren der Sozialen Stadt von einer wirtschaftlichen Erholung nicht oder nur unzureichend profitieren. Ob die eingeleiteten oder geplanten Reformen, die derzeit unter dem Stichwort "Hartz" oder unter Agenda 2010 gehandelt werden, hier hilfreich sind oder nicht, möchte ich nicht beurteilen. Reformen in dieser Richtung tun sicher Not, aber eine Belastung der abhängig Beschäftigten einerseits und der Erwerbslosen andererseits allein ist allerdings m. E. nach nicht zielführend. Hier ist eine Solidarität der gesamten Gesellschaft, der Schwachen wie der Starken gleichermaßen, einzufordern. In jedem Fall wird es bei allen Reformen auf die eher mittelfristige und indirekte als auf die unmittelbare Wirkung in den Gebieten ankommen. Schädlich für Ansätze zur Förderung lokaler Ökonomie sind sie meiner Ansicht nach allerdings nicht, sondern fördern im Gegenteil eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Probleme und Potenziale der Menschen in den Gebieten der Sozialen Stadt.

ME: Schon jetzt sind einige Städte wegen fehlender Komplementärmittel aus dem Bund-Länder-Programm ausgestiegen. Wie stehen Sie in diesem Zusammenhang zur geplanten Gewerbesteuerreform? Ist sie ein Schritt in die richtige Richtung?

Löhr: Die Gemeindefinanzen sind durch jahrzehntelange Missachtung des Konnexitätsprinzips2 durch Bund und Länder, das Wegbrechen der Gewerbesteuer infolge Steuersenkung des Staats und Steuervermeidung vor allem global tätiger Unternehmen sowie die schwache Konjunktur stark zerrüttet worden. Strukturelle Probleme der Einnahme- und Ausgabenverteilung zwischen Kernstädten und Umland (u.a. Abwanderung einkommensstarker Haushalte ins Umland, Verbleib und Zuwanderung sozialhilfeberechtigter Haushalte in den Städten) und weitere Aspekte kommen hinzu. Die bisher geplante Gemeindefinanzreform in der Fassung der Regierung oder der Opposition ist daher auf jeden Fall nötig, greift aber zumindest mittelfristig sicher zu kurz.

ME: Herr Löhr, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führte Volker Eick

Nachlese:
- Deutsches Institut für Urbanistik (Hrsg.): Strategien für die Soziale Stadt. Erfahrungen und Perspektiven. Berlin, 2003: Selbstverlag, vergriffen (zum download im Internet unter: http://www.sozialestadt.de).
- Krummacher, M./Kulbach, R./Waltz, V./Wohlfahrt, N.: Soziale Stadt - Sozialraumentwicklung - Quartiersmanagement. Herausforderungen für Politik, Raumplanung und soziale Arbeit. Opladen, 2003: Leske + Budrich, 279 S., 16,90 Euro.
- Coward, Clair: Das FOYER-Projekt in Manchester. In: Verein für Kommunalwissenschaften e.V. (Hrsg.): Verantwortung, Aufgaben und Möglichkeiten der Jugendhilfe zur Sicherung der Chancen junger Menschen auf Ausbildung und Arbeit. Selbstverlag: Berlin, 2000.
- Mäding, Heinrich: Standpunkt: Gemeindefinanzreform in Deutschland, in: Difu-Berichte 1/2003, S.2f.

1 "Top-Down"meint in diesem Zusammenhang einen Politikansatz, der staatlich oder kommunal, also "top"(oder oben), gefundene Lösungen gegenüber den BürgerInnen an der Basis, also "down"(oder unten), durchsetzen will. Dem stehen "Bottom-Up-Ansätze"entgegen, die umgekehrt entscheidende Impulse von den BürgerInnen ("bottom"oder Boden) für staatliche oder kommunale Politik ("up"oder nach oben) anstreben. Das Programm Soziale Stadt favorisiert neben kooperativem Vorgehen den "Bottom-Up-Ansatz“.An der Börse bzw. beim Investment bezeichnet "Top-Down"die Analyse "von oben nach unten“: Von der gesamtwirtschaftlichen Lage oder der wirtschaftlichen Lage einer Branche wird auf die Entwicklung eines einzelnen Unternehmens geschlossen. Das Gegenteil ist der "Bottom-Up-Ansatz“. Anm. d. Red.

2 Konnexitätsprinzip bedeutet, dass derjenige Gesetzgeber, der den Städten, Gemeinden und Kreisen kostenintensive Aufgaben überträgt, auch für deren Finanzierung gerade stehen muss ("Wer bestellt, soll auch bezahlen“). Amn.d. Red.