MieterEcho
Nr. 270 - August/September 1998

Herr Strieder weiß, wo's lang geht

Das von dem Referenten auf der 18. Veranstaltung der "Stadtprojekte" gezeichnete Bild der Gegenwart der Stadt war noch düsterer als Ton und Ausdruckslage. "Berlin ist eine Stadt mit immer mehr armen Menschen," entrang es sich ihm. Und gequält von seinen Erkenntnissen führte er weiter aus: "Allein im Jahr 1997 stieg die Zahl der Sozialhilfeempfänger um über 15%. Mehr als eine Viertelmillion Menschen sind in Berlin auf Sozialhilfe angewiesen. Bei der Jugendarbeitslosigkeit, bei Arbeitsfördermaßnahmen, Sozialhilfe, Flüchtlingsbetreuung sowie Stadterneuerung und sozialen Wohnungsbau sind die Aufgaben in Berlin gewachsen, aber die Einnahmen wachsen leider nicht mit."

Die "Ergebnisse der Politik der Bundesregierung" - verwundert nahmen die Zuhörer zur Kenntnis, wie gering der Referent den Einfluss der Landesregierung aus CDU und SPD auf die Geschicke Berlins einschätzt - "führen bei den benachteiligten Gruppen in dreifacher Hinsicht zu zusätzlichen Belastungen:

  1. Wir verzeichnen einen erheblichen Einnahmeverlust des Staates, der sich im Abbau staatlich verantworteter Infrastruktur äußert.
  2. Stellen wir sinkende Reallöhne bei den Arbeitnehmereinkommen fest, also auch eine Einkommensumverteilung von unten nach oben.
  3. Die soziale Gefährdung immer breiterer Schichten durch mangelnde Qualifizierung wächst."

Monoton ging es weiter:
"Diese gesellschaftliche Dynamisierung spiegelt sich in der Struktur der Stadt wieder. In der Stadt bilden sich zunehmend arme und reiche Quartiere heraus, sie existieren nebeneinander und häufig in unmittelbarer Nachbarschaft. In den vergangenen Jahren haben sich die in den Gebieten jeweils vorhandenen Strukturen verstetigt. Sozial stabile Gebiete haben sich häufig weiter gefestigt, arme Quartiere wurden ärmer. In West- und Ostberlin aufgrund der jeweiligen politischen Situation auf sozialen Ausgleich ausgerichtete Lebensbedingungen differenzieren sich zusehends. War es in beiden Stadthälften während der Teilung politisches Ziel, soziale Stabilität zu gewährleisten und über hohe Transferleistungen Massenarbeitslosigkeit zu verhindern, ist das wiedervereinigte Berlin plötzlich und nachholend der Zweidrittelgesellschaft ausgesetzt."

Und die Gefühlslage der Zuhörerschaft sank noch tiefer durch nicht weniger eindringlich beschriebene Folgen für die Bezirke: "Die Innenstadtbezirke Wedding, Tiergarten, Schöneberg, Kreuzberg und Neukölln weisen die höchste Sozialhilfedichte auf. Die größte Zunahme von Sozialhilfebeziehern spielt sich in den Bezirken Wedding, Charlottenburg und Kreuzberg ab. Wobei sichtbar ist, dass ein deutlicher Anstieg auch in eher bürgerlichen Bezirken wie Reinickendorf, Spandau, Tempelhof, sowie in den Ostbezirken Hohenschönhausen und Hellersdorf zu verzeichnen ist. Damit korreliert die Veränderung des Arbeitslosenanteils. Besonders deutlich gestiegen ist er in Teilen von Tiergarten, Charlottenburg, Kreuzberg und Neukölln, aber auch Spandau sowie in dem Märkischen Viertel sowie in den Altbauquartieren Prenzlauer Berg und Friedrichshain sowie in den Plattenbausiedlungen."

Die Luft im Raum wurde jetzt drückend. Und während immer bedrohlichere Szenarien den Saal füllten, flüchtete sich der Zuhörer in Erinnerungen an das Wirken des seinerzeitigen Bezirksbürgermeisters von Kreuzberg und jetzigen Stadtentwicklungssenators Peter Strieder - denn kein anderer war der Referent. Strahlend war der sozialdemokratische Hoffnungsträger der Zukunft zugewandt: "Kreuzberg liegt in der neuen Mitte und wird deshalb besondere Innenstadtfunktionen wahrnehmen," prophezeite er 1993 - also vor fünf Jahren. Die Stadt Berlin wird einen Beschäftigungszuwachs erleben, der "sich vor allem im Dienstleistungsbereich und im Handel einstellen wird. Im verarbeitenden Gewerbe wird es in Berlin einen ausgeglichenen Saldo geben." An der Entwicklung sollte vor allem auch Kreuzberg teilhaben. Denen, die zweifelten, dass die Kreuzberger Bewohner von der Realisierung dieser Visionen profitieren würden, denen, die eher einen brutalen Verdrängungsprozes befürchteten, hielt er damals nebulös entgegen: "Die Weinerlichkeit, deutsche und nichtdeutsche KreuzbergerInnen seien nun einmal nicht für Dienstleistungsberufe geeignet, ist falsch und diskriminierend, vor allem aber unehrlich, weil sie suggeriert, die alte Struktur der Arbeitsplätze sei erhaltenswert. Die Dienstleistungsstadt Berlin wird ein höheres Qualifikationsniveau verlangen."

Und was er von den KreuzbergerInnen verlangte, färbte er seinerzeit so ein: "Die Bevölkerung Kreuzbergs wird sich in diesem Prozess verändern. In dem Maß, in dem industrielle Arbeitsplätze mehr und mehr ins Umland verlagert werden, fragen sich viele, ob es sinnvoll ist, dass sie Tag für Tag weite Wege aus der Innenstadt zu ihren Arbeitsplätzen am Stadtrand zurücklegen müssen. Für viele wird es reizvoll sein - zumal mit Kindern -, das steinerne Kreuzberg gegen dörfliche Strukturen in der Nähe des Arbeitsplatzes und bei zudem billigeren Mieten einzutauschen."

Bei allem Zynismus eine fast lieblich-idyllische Beschreibung für eine Politik, die rücksichtslos auf Gentrifizierung setzt und die auch gleich den Ort weiß, wohin sich, bittschön, die sozial niedriger bewertete Bevölkerung verdrängen zu lassen habe. Kreuzberg sollte frei gemacht werden für die erwarteten Dienstleister. Folgerichtig hat der Kreuzberger Bürgermeister Strieder vor fünf Jahren die Ausweisung jedes der sozialen Stabilisierung dienenden Sanierungs- bzw. Sanierungserwartungsgebiets abgelehnt und nie den Hinweis vergessen, dass die unterschiedlichen, d.h. höheren Mieten eine wunderbare Entwicklung signalisierten und Sanierungsgebiete nur Investitionshemmnisse darstellten.

Vor drei Jahren, erinnerte sich der Zuhörer weiter, 1995 fand eine Konferenz, diesmal über die soziale Entwicklung in Kreuzberg, statt. Auch zu diesem Anlass stellte sich Herr Strieder engagiert der Diskussion. Die Mieterberatungsgesellschaft SPAS-Süd hatte eine Kurzfassung der von ihr durchgeführten Untersuchung über zu vermutende Mietentwicklung vorgetragen. Die dort prognostizierten und tatsächlich auch realisierten 25% Mieterhöhungen, bzw. die Entwicklung dahin, fand der karrierebewusste Bezirkspolitiker nicht bedenklich. Man dürfe über das Elend in Kreuzberg nicht mehr reden, es gelte den Mittelstand zu fördern, die Mieterberatungsgesellschaften und Stadtteilausschüsse lebten nur von dem Elendsimage, war alles, was er zu sagen wusste. Und wie es sich bei vielen anderen Gelegenheiten in Kreuzberg wiederholen sollte: Er warb für die Idee eines Quartiermanagements, während er gleichzeitig den Abbau der sozialen Gemeinwesenarbeit betrieb. Die Argumentation des Herrn Strieder war, dass der Zweidrittel-Gesellschaft und der sozialen Polarisierung als deren Ausdruck politisch Tribut zu zollen sei.

Als der Zuhörer nun aus der dunklen Tiefe seiner Erinnerungen emportauchte, hatte sich der Referent von der Schilderung der sozialen Verelendungen entfernt. Seine Stimme belebte den Raum, als er sich den Lösungen zuwandte. 'Würde er angesichts des Katastrophenszenarios tatsächlich die Weltrevolution ausrufen?', fragte sich verängstigt der Zuhörer. Doch sogleich konnte er mit Beruhigung festzustellen: Ob die Lage rosig oder dornig - Herr Strieder empfiehlt immer als bewährtes Mittel DAS QUARTIERSMANAGEMENT.

Joachim Oellerich

MieterEcho-Archiv | Inhaltsverzeichnis Nr. 270