MieterEcho
Nr. 269 - Juni/Juli 1998

Literaturempfehlung: Polarisierung mittels Standortdebatte

"Immer wieder gilt der Verweis auf das zu sichernde ökonomische Überleben der Stadt als Rechtfertigung einer weltweit einzigartigen beschleunigten Zusammenballung von Großprojekten, deren ökonomischer, städtebaulicher und sozialer Nutzen bis auf weiteres ungeklärt bleiben wird." Karin Lehnhardt ist eine der Autorinnen der aktuellen Ausgabe von prokla - der Zeitschrift für kritische Sozialforschung. Unter dem Titel "S(t)andOrt Berlin" zeigt sie mit sechs weiteren Wissenschaftlern auf, wie Vertreter des Traumes vom "Berlin am Ende der Geschichte" den Paradigmenwechsel von der Mieter- zur Eigentümerstadt, von der sozial integrativen zur polarisierten Metropole vorantreiben.

Dabei spannen die Autoren den Bogen von der "unternehmerischen Stadt" - Susanne Heeg - über die "Wirksamkeit von Investitionsförderung" - Günter Seiler - bis zum Trugschluß der "bubble-politics", dem sich selbst verstärkendenn auf spekulative Erwartungshaltung fußenden Aufschwung - Karin Lehnhardt. Sie beschreiben die systematische Ausgrenzung und Polarisierung von sozial Benachteiligten oder gesellschaftlich nicht konformen Randgruppen - Jens Sambale, Dominik Veith -, die Wechselwirkung von "Warehousing" und "Warhousing" - Volker Eick - und untersuchen die Ursachen und Ausprägungen von Jugendkriminalität - Uli Jähner. Gemeinsam skizzieren sie das Bild einer sozial entkoppelten Bürgerstadt. Jeder einzelne Bericht verdeutlicht die komplexen Folgen neoliberaler Stadtpolitik und erhellt die Absichten der Akteure und Nutznießer, sich Berlin unter dem Deckmantel des Fortschritts wirtschaftlich und sozial anzueignen.

"Durch ... (den) Rückbezug auf eine kleine städtische Gesellschaft des wilhelminischen Berlins bzw. der Weimarer Republik... wird in dieser selektiven Geschichtsaneignung die Industrie- und Arbeitergeschichte Berlins ausgeklammert" (S.13). Susanne Heeg qualifiziert "als Leitlinie städtischer Politik die Begünstigung bestimmter Bevölkerungsgruppen durch Eigentumsförderung oder Sonderabschreibung-Ost" (S.19). Allein im Zuge dieser Steuervorteile fielen nämlich "die städtischen Einnahmen (...) von 600 Mio. DM 1992 auf 141 Mio. 1996" (S.9) und kamen den sogenannten 'Leistungsträgern' zugute.

An die aberwitzige Vision von einer neuen Gründerzeit (Nagel 1990) erinnernd, untersucht Karin Lehnhardt, wie die "diensthabenden Politiker ... einen Büro- und Wohnflächenbedarf im gehobenen Bereich allein für das Gebiet innerhalb des S-Bahnringes auf bis zu

4 Mio Quadratmeter Bruttogeschoßfläche bis zum Jahr 2005" planten. Sie verdeutlicht, wie der KOAI (Koordinierungsausschuß für Innerstädtische Investitionen) Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bezirke aushebelte, als schon längst klar wurde, daß aus der erträumten "Global-City" eher ein "Regionalzentrum Ost" zu werden würde. "Im Grunde tat der KOAI nichts anders als in beschleunigter Art und Weise, in 'konzentrierter Aktion' eben, westlich-kapitalistische Bedingungen für die Grundstücksnutzung herzustellen... Die Gestaltungschance, die darin lag, daß die öffentliche Hand Eigentümerin bzw. Verfügungsberechtigte über den Großteil der Grundstücke war, wurde vertan." (S.57). Statt dessen diskutierten die Verantwortlichen im Stadtforum "über guten und schlechten Geschmack" (S. 59) und sahen "geflissentlich darüber hinweg, daß viele Großprojekte nicht in erster Linie aufgrund des Eigenbedarfs der Investoren entstanden, was (...) in der Bankenmetropole Frankfurt am Main die Regel ist, sondern daß es sich häufig um rein spekulative Projekte von austauschbaren Projektentwicklern handelte" (S. 62).

Die undemokratische Entwicklung, die Selbstermächtigung durch den Senat wird dann folgerichtig am Beispiel der Verdrängung von Wagenburgen beschrieben. Wagenburgen, die noch bis in die frühen 90er Jahre als Symbol für die Liberaltiät Berlins werbewirksam auf Hochglanz erschienen, werden im Zuge des "Bedeutungswandels urbaner Räume" (S.71) zu Keimzellen von Kriminalität und der Gefährdung der öffentlichen Ordnung erklärt. Jens Sambale und Dominik Veith untersuchen, was aus den BewohnerInnen der East-Side-Gallery wurde, nachdem die verantwortlichen Volksvertreter ihren Stellplatz "für ein Projekt des Chicagoer Stararchitekten Helmut Jahn" freigeschlagen hatten. Sie kritisieren, wie die Umsetzungspolitik des Senats für neue Fronten sorgte: "Der entmachtete Bezirk Spandau und die AnwohnerInnen (die die Wagenburgler aufnehmen sollten) wehren sich gegen diese Arroganz der Macht, die aus ihrer Perspektive metropolitane Armut in ihren Vorgärten entsorgt" (S.80).

Volker Eick thematisiert im Anschluß daran die Sicherheitsstrukturen des 'neuen' Berlins, deren "intensivierte, privatwirtschaftliche Nutzung (...) öffentliche Räume in durch Hausrecht eingehegte private, umsatzorientierte Archipele (Warehousing)" (S.97) verwandelt. Er veranschaulicht, wie die daraus resultierenden 'Nutzungskonflikte' heute "kaum mehr zu 'territorialen Kompromissen' kleingearbeitet, sondern mit dem Ziel endgültiger Vertreibung ausgefochten [werden] (Warhousing)". So hat Berlin "mit rund 30.000 Polizisten (...) im Bundesvergleich die höchste Polizeidichte" (S.101). Darüber hinaus konkurrieren allein "in Berlin heute 330 Sicherheitsdienste mit knapp 15.000 Beschäftigten um Aufträge" (S.102). Das hochstilisierte subjektive Sicherheitsbedürfnis und dessen Kategorisierung als Standortfaktor lassen den Umsatz dieser Unternehmen in die Höhe schnellen. Marktführend ist ein Tochterunternehmen der Veba AG, die Raab Karcher Sicherheit (RKS) "mit 10.500 Beschäftigen (Berlin 2.200 Vollzeitkräfte)". Volker Eick legt hier eine weitere außerordentlich kompetente, detaillierte Recherche über Privatisierung von Sicherheit vor: "Sicherheit als Oligopol im Kondominium. Die Struktur privater Sicherheitsdienste ist (…) durch Profitinteressen und Partikularnormen charakterisiert (und nicht an Gleichheitsvorstellungen und universellen Normen orientiert)" (S.109).

Sämtliche Artikel überzeugen durch ihre inhaltlich fundierte wie kritische Haltung. Sie belegen anschaulich, wohin der Paradigmenwechsel führt, nämlich zu einer entdemokratisierten Gesellschaft und vom Sozialraum Stadt zur Ware Stadt. Nach acht Jahren Wiedervereinigung demaskieren sie die Gewinner des Paradigmenwechsels.

Dieses Buch ist für jeden empfehlenswert, der eine gute wie sinnreiche Zusammenfassung der Diskurse über postmoderne oder postfordistische Stadtentwicklung sucht und sei allen ans Herz gelegt, die schon immer mehr von den Themen lesen wollten, die auch das Mieter Echo beschäftigen.

Es ist im Verlag Westfälisches Dampfboot erschienen, kostet DM 20,- als Einzelheft und ist in jeder guten Buchandlung, wie z.B. den Schwarzen Rissen im Mehringhof erhältlich.

ok

 
MieterEcho-Archiv | Inhaltsverzeichnis Nr. 269