MieterEcho
Nr. 269 - Juni/Juli 1998

Das Geschützte Marktsegment - ein "Pionierstück" gegen Obdachlosigkeit?

Das vom Senat als "Pionierstück" (SenSoz o. J.) gefeierte Geschützte Marktsegment orientiert sich nur bedingt an den Bedürfnissen derjenigen, die dringend einer angemessenen Wohnung bedürfen. Vor dem Hintergrund der Senatswohnungspolitik beschert die (kleinräumige) Konzentration Armer dem Senat offenbar mehr Kopfschmerzen als deren zahlenmäßige Zunahme.

Das Geschützte Marktsegment entstand 1993 als Ergebnis eines Kooperationsvertrags zwischen Senat und 19 ehemals gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften, die zu mindestens 51% in städtischem Besitz sind. Es handelt es sich um ein Kontingent von gegenwärtig jährlich 2.000 Wohnungen für Personen, die obdachlos oder unmittelbar davon bedroht sind und sich nicht selbst mit Wohnraum versorgen können. Darüber hinaus muß der Nachweis einjähriger Wohndauer in Berlin erbracht werden. Der Vertrag sieht vor, daß die Wohnungsunternehmen in Abhängigkeit ihres Bestandes freie Wohnungen anbieten, für die die Bezirke drei potentielle MieterInnen vorschlagen können. Eine zentrale Koordinierungsstelle (ZEKO), die bei der Senatsverwaltung für Soziales angesiedelt ist, stellt die Vermittlung her.

Vom Abgeordnetenhaus wurde schon 1996 eine Erhöhung auf jährlich 3.000 Wohnungen beschlossen. Doch die städtischen Wohnungsbaugesellschaften sträuben sich: "Wir haben unseren Beitrag geleistet, jetzt sind andere dran", nur die privaten zeigen geringes Interesse (Berliner Morgenpost, 05.03.97). Bis heute hat der Senat es nicht fertiggebracht, den Gesellschaften Belegungsrechte für besonders Bedürftige in Wohnungen abzutrotzen, deren Bau er wesentlich mitfinanziert hat.

Historischer Hintergrund dieses Vertrages ist, daß West-Berlin phasenweise (in der zweiten Hälfte der 80er) ganz auf sein Belegungsrecht für Dringlichkeitsfälle im sozialen Wohnungsbau verzichtete. Später gab es lediglich ein undifferenziertes Belegungsrecht, das keine Gewichtung nach Dringlichkeitskriterien vornahm. Das führte dazu, daß besonders Benachteiligte im Auswahlverfahren immer wieder leer ausgingen, da die Wohnungsbaugesellschaften in der Regel die besser situierten BewerberInnen vorziehen (SenSoz o. J.). "Bewerben sich Obdachlose auf eigene Faust, haben sie trotz WBS mit Dringlichkeit kaum Chancen auf eine Sozialwohnung", so ZEKO-Leiter Matthias Schulz (ebd.). Die Anerkennung, "daß der Abbau von Obdachlosigkeit ein strukturelles Problem darstellt" (SenGesSoz o. J.) und die angesichts der hohen Kosten für die Unterbringung in städtischen Heimen oder sog. "Pensionen" (ein Bett kostet oft 3000 DM u. m.) trugen zu der Suche nach Alternativen bei.

Aus Senatssicht ist das Geschützte Marktsegment ein großer Erfolg; die jährlich etwa 1.500 vermieteten Wohnungen sprächen für sich. Die offensichtliche Differenz zum vorgesehenen Kontingent von jährlich 2.000 Wohnungen verweist allerdings auf das eine grundsätzliche Problem: Der Senat hat keine Handhabe, die Wohnungsbaugesellschaften zum Anbieten ihrer Wohnungen auch tatsächlich zu zwingen, denn über den Zuschlag für ein/e KandidatIn entscheidet die Wohnungsbaugesellschaft. So erfüllen die WBG Pankow (26%), Hellersdorf (64%), Marzahn (58%), Köpenick (65%) sowie die WIR mit 45% überdurchschnittlich schlecht ihre Quoten (Zahlen aus AH 1996, eigene Berechnungen). Eine Schwierigkeit liegt darin, daß fast 80% der InteressentInnen in Ein-Personen-Haushalten wohnen (möchten). Aber gerade in diesem Segment haben die Gesellschaften wenig Interesse, Kontingente zur Verfügung zu stellen, denn dort ist auch der Andrang auf dem freien Markt am höchsten.

Auch grundsätzlich haben die Wohnungsbaugesellschaften wenig Interesse daran, ihre Sozialwohnungen auch wirklich mit sozial Bedürftigen zu belegen. An sog. "sozialen Brennpunkten" wird offenbar schon erwogen, die Neubelegung von Wohnungen gar zu unterlassen, um den Anteil von "Sozialfällen" niedrig zu halten (Rada 1997: 128). Der Senat macht sich ebenfalls vor allem Sorgen um diejenigen, die schon mit Wohnraum versorgt oder gar in der Lage sind, außerhalb der ärmeren Quartiere unterzukommen. Um den Wegzug der Wohlhabenderen im sozialen Wohnungsbau zu verhindern, wurde in zahlreichen Gebieten die Fehlbelegungsabgabe gestrichen und außerdem die Belegungsbindung fallengelassen, um die "ausgewogene Mieterstruktur" (AH 1996) zu garantieren. Die wenig ausgewogene Struktur wohlhabender Quartiere ist kein Gegenstand politischer Auseinandersetzung.

Hinzu kommt, daß die Wohnungsunternehmen über das Geschützte Marktsegment Wohnungen vermieten können, die auf dem freien Markt unvermittelbar sind. SozialarbeiterInnen, freie Träger und Bezirke berichten übereinstimmend von Wohnungen in katastrophalem Zustand und selbst SenSoz räumt ein, daß fast alle Altbauwohnungen im Ostteil der Stadt &endash; das sind 42% der dort angebotenen Wohnungen &endash; renovierungsbedürftig seien (SenSoz o. J.). Den neuen MieterInnen fehlen indes meist die Möglichkeiten und die Mittel, solche Wohnungen bewohnbar zu machen.

Nichtsdestoweniger liegen deren Mieten oft überproportional hoch (Bezirksamt Reinickendorf 1996: 29; AK Wohnungsnot 1997a). Erst seit Januar 1997 unterliegen die Wohnungen im Geschützten Marktsegment einer Mietoberbegrenzung. Über deren Erfolg ist uns bislang nichts bekannt.

Aber nicht nur die Wohnungsbaugesellschaften bringen über das Geschützte Marktsegment ihre unbegehrten Wohnungen an den Mann oder die Frau. Auch die Bezirke können ihre ungeliebte Klientel auf diesem Wege an andere Bezirke abgeben. Während ein Großteil der Obdachlosen in den (westlichen) Innenstadtbezirken gemeldet ist, finden sich zwei Drittel der Wohnungen in den östlichen Bezirken, überwiegend in den Großsiedlungen der Außenbezirke (SenSoz o. J.). Folglich kommen zwei Drittel der Betroffenen nur außerbezirklich unter, viele überhaupt nicht, da offenbar große Vorbehalte gegenüber dem Umzug an die Ost-Peripherie bestehen. Gerade für Obdachlose stellt aber der Wohnort keine Frage schierer Präferenzen dar, und ihre schwierige Situation läßt sich nicht allein durch das Angebot einer Wohnung überwinden. Vielmehr brechen durch einen solchen Umzug gerade die sozialen Netzwerke weg, die für das Überleben unterhalb des Existenzminimums notwendig sind.

Trotz des entspannteren Wohnungsmarktes und des Geschützten Marktsegmentes: An der Zahl obdachloser Menschen hat sich in Berlin wenig geändert. Während sich die offizielle Zahl der als obdachlos gemeldeten Personen (allein in Westberlin) zwischen 1988 und 1993 verdoppelt hat, hat sie sich seitdem bei 10.000 auf hohem Niveau stabilisiert. Dabei kann getrost von einer 100%igen Dunkelziffer ausgegangen werden, wie auch der Senat einräumt (Abgeordnetenhaus von Berlin 1993). Nicht berücksichtigt sind bei diesen Zahlen diejenigen, die bei FreundInnen provisorisch untergekommen sind oder unter unzumutbaren Verhältnissen wohnen müssen.

Die Senatsverwaltung für Soziales geht davon aus, daß im Marktsegment schlichtweg diejenigen untergebracht wurden, die ansonsten in der Obdachlosenstatistik als Neuzugänge aufgetaucht wären. MitarbeiterInnen der Wohnungslosenhilfe und der Bezirksämter vermuten einen 'Drehtüreffekt', d. h. daß der zügigen Vermittlung von Wohnungen (teilweise sogar direkt über den Wohnungsmarkt) der ebenso schnelle Verlust gegenübersteht. Dies korrespondiert mit dem vermehrt geäußerten Hinweis, daß immer mehr KlientInnen über einen erhöhten Betreuungsbedarf verfügen, aus Kostengründen jedoch zunehmend unbetreut untergebracht werden (AK Wohnungsnot 1997b; c). Die Notwendigkeit solcher Betreuung betonen sowohl die Bezirke (vgl. z. B. Bezirksamt Reinickendorf 1996) als auch die freien Träger. Auch Sozialsenatorin Hübner merkt an, daß das Geschützte Marktsegment hohe Anforderungen an die neuen MieterInnen stelle, die eine erheblich bessere soziale Betreuung erforderlich mache. Dies zeige sich auch an der hohen Kündigungsrate von etwa 40% (taz, 27.12.96). Ihre eigene Staatssekretärin wiegelt allerdings ab: Nicht 40%, sondern allenfalls 15-20% würden den Anforderungen an selbständiges Wohnen nicht gerecht. Eine Nachbetreuung sei nicht vorgesehen und ziehe letztlich nur weitere "Ortsfremde" in die Stadt (FAZ, 02.04.97).

Während der "Sozialstandort" Berlin möglichst wenig einladend wirken soll, scheint dem Senat die Zuwanderung oder der Verbleib anderer Teile der Bevölkerung mehr am Herzen zu liegen. Mit hochsubventionierten Eigenheim-Programmen sollen eben diejenigen in die Stadt gelockt werden, die seit einigen Jahren mit Rekordraten ins Umland wegziehen. Während der Zuschnitt der Senatsbaupolitik dem mittleren und oberen Segment

des Wohnungsmarktes hohe Leerstandsraten einbrachte, schmilzt das Angebot an preisgünstigem Wohnraum in Berlin zeitgleich rapide zusammen. Im Zeitraum von 1995 bis 2010 wird sich der Bestand an Sozialwohnungen mehr als halbieren (Fuderholz 1997). Die gleichzeitige Zunahme der Armut in der Stadt führt zu Segregationsprozessen, in denen die schwierige sozio-ökonomische und die schlechte Wohnsituation immer mehr zusammenfallen.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Geschützte Marktsegment nur wenig dazu beiträgt, diese Prozesse aufzufangen. Der Senat hat innerhalb des Kooperationsvertrages keine Möglichkeit, die Wohnungsbaugesellschaften zur Erfüllung ihres Solls zu zwingen. Auch auf die Auswahl der künftigen MieterInnen sowie die Lage und den Zustand der Wohnungen nimmt er kaum Einfluß. Die Verhandlungen mit Wohnungsbaugesellschaften werden von ihm ebenfalls nicht gerade vorangetrieben. An die sog. "Sockelobdachlosigkeit" reicht das Programm ohnehin nicht heran und bleibt daher der Tropfen auf dem heißen Stein. Das Erscheinen des Obdachlosenrahmenplans, der die Leitlinien für die Berliner Obdachlosenpolitik setzen soll, ist seit geraumer Zeit angekündigt und wird immer wieder verschoben. Die Zunahme der Armut scheint den Senat weniger zu beschäftigen als deren Konzentration. Ob beabsichtigt oder nicht trägt das Geschützte Marktsegment zumindest dazu bei, daß Obdachlose über die Stadt versprengt werden, so daß sie weniger öffentlich präsent sind. In welche Richtung Senatswohnungspolitik geht, zeigen die Debatten um den Abriß von NKZ und Sozialpalast oder die Aufhebung von Fehlbelegungsabgabe und Belegungsbindung in manchen Gebieten, die den Markt für weniger solvente MieterInnen noch enger macht. Auch hier wird die Armut durch ihre räumliche Zerstreuung bearbeitet, indem man ihr weitere Möglichkeiten nimmt, überhaupt geballt in Erscheinung zu treten. An dieser Stelle decken sich auch die Interessen des Senats und der Wohnungsbaugesellschaften, die am liebsten mit öffentlicher Förderung Sozialwohnungen bauen würden, um sie dann mit finanzkräftigen MieterInnen zu belegen.

Literaturtips und Quellennachweis können bei der Berliner MieterGemeinschaft nachgefragt werden.

Dominik Veith & Jens Sambale

Jens Sambale und Dominik Veith sind Politologen und bearbeiten an der FU Berlin ein Forschungsprojekt zu Stadtentwicklung und Obdachlosigkeit.

 
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