MieterEcho
Nr. 268 - April/Mai 1998

Literaturtip
Beitrag zur Klärung - Ein Sammelband zu New Yorks "Zero Tolerance" warnt (vergeblich?) Berlin

Daß die Herausgeber, sich »kurzfristig entschieden haben, Beiträge zu diesem "Modell New York" zusammenzustellen und in Buchform zu veröffentlichen« (S.3), ist nicht zu übersehen. So fehlt dem Band spürbar ein Lektorat, auch der Schriftgrad erfordert reichlich gute Augen. Die muß man sich auf Seite 12 erst einmal reiben, wenn Thomas Feltes, einer der Herausgeber und, wie sein Kollege Gunter Dreher, an der Hochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen tätig, erläutert: »Kriminalität läßt sich sehr gut mit (einer gesamtgesellschaftlichen) Krankheit vergleichen. Entsprechend müßten auch Präventionsstrategien aufgebaut und angelegt sein.«

Allerdings fährt der in drei Blöcke gegliederte Band nicht weiter auf dieser arg biologistischen Schiene, sondern bietet unter den Überschriften "Das Modell New York - Hintergründe und Fakten", "Das Modell New York - Kritik" und "Lösungen und Kompromisse: Das deutsche Modell New York - Vorschläge und Rezeptionen" umfangreiches Material gebündelt für fachlich Involvierte, aber auch für interessierte Laien, die nun doch noch 'mal wissen wollen, was es mit dem »New Yorker Wunder« auf sich hat.

Um mit dem dritten Teil zu beginnen: Neben Beiträgen des Stuttgarter Polizeipräsidenten Volker Haas und dem Landespolizeipräsidenten von Baden-Württemberg, Erwin Hetger, kommt auch der seit November 1996 amtierende Oberbürgermeister Stuttgarts zu Wort. Umfangreich werden die Anstrengungen zur Kriminalprävention in Stuttgart - »Der sanfte Weg zu mehr Sicherheit« - und Baden-Württemberg dokumentiert. Wir werden Zeugen, wie Berlins Polizeipräsident, Hagen Saberschinsky, versucht, sich und der Gewerkschaft der Polizei (GdP) die Welt zu erklären (in einem Beitrag anläßlich des Berlin-Besuchs des Ex-Polizeipräsidenten New Yorks, William Bratton). Wer die Beteuerungen vom August 1997 - man wolle hier »keine New Yorker Verhältnisse«(171), verfolge das präventiv orientierte »Berliner Modell« - heute mit der Praxis abgleicht, muß angesichts von Großrazzien auf U-Bahnhöfen mit über 1.100 Personenkontrollen (und im Ergebnis 94 BerlinerInnen, die keinen Fahrschein dabei hatten) das Preis-Leistungs-Verhältnis und die angebliche Zurückhaltung der Polizei in Frage stellen. Festgestellt werden kann auch, daß sich in Berlin Drogenkonsumenten und Obdachlose nun in anderen Stadtteilen aufhalten, aber deshalb die sozialen Probleme, wie Armut, Obdachlosigkeit oder Drogenabhängigkeit, keineswegs beseitigt sind. Nur am Rande geht der vorliegende Band auf diese Frage am Beispiel New Yorks ein. Aktuelle Informationen machen aber deutlich, daß sich die aus der Stadt Vertriebenen nun verstärkt im nahegelegenen New Jersey aufhalten.

Im zweiten Block haben AbonnentInnen der Berliner "tageszeitung" Gelegenheit, das Niveau der "taz"-Berichterstattung mit Fachaufsätzen aus dem "Kriminologischen Journal" und kritischen Originalbeiträgen abzugleichen. Die beiden Polizisten Jürgen Korell und Urban Liebel etwa werfen - ausgehend von ihrer Beobachtung, daß inzwischen in New York 700 Polizisten nur damit beschäftigt sind, gegen eigene Kollegen wegen Foltervorwürfen zu ermitteln - einen Blick auf den Trend, "Sicherheit" und "Sauberkeit" nicht mehr auseinanderzuhalten. Das "große Aufräumen" sei im Interesse vor allem der Geschäftsleute, und, so die beiden Mitglieder der "Kritischen PolizistInnen", »reicht den geschäftstüchtigen Anliegern das öffentliche Aufräumen immer noch nicht, versuchen sie öffentliche Plätze und Straßen anzupachten, um über das Hausrecht private Sicherheitsdienste einsetzen zu können« (146). Der Polizeibeamte und Sozialwissenschaftler Raphael Behr stellt in Zusammenhang mit den berühmt-berüchtigten "broken windows" fest, »daß es dabei nicht mehr um Ursachensuche geht oder gar um Wiedereingliederung, sondern um die Entscheidung, wer "drinnen" und wer "draußen" ist.« Er folgert in Bezug auf "zero tolerance": »Wenn nichts mehr toleriert wird, muß sich jedermann im klaren darüber sein, selbst auch einmal vom autoritären Staat bei einer Übertretung erwischt und sanktioniert zu werden. (...) Während zero tolerance auf der psychologischen Ebene die Infantilisierung aller Bürger bedeutet, heißt es kriminalpolitisch die Verabschiedung von elementaren Prinzipien des Strafrechts« (151).

Da Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) gemeinsam mit Funktionären der GdP - »Verdrängen, verdrängen, verdrängen, aus der Stadt, auch aus dem Land!«, so der GdP-Funktionär Förster bei einer Anhörung der Bündnis90/Grünen zum New Yorker Sicherheitsmodell - an der New Yorker Linie deutlich mehr Gefallen findet, als etwa Saberschinsky, erweist sich das Buch gerade im ersten Teil als sehr hilfreich. So liegt für ein breiteres Publikum der immer wieder in den Medien zitierte "broken windows"-Beitrag von George Kelling und James Wilson (1982) auf deutsch vor. Heike Gramkow öffnet den Blick dafür, daß New York auch in den USA als Negativbeispiel für Polizeiarbeit gilt. Thomas Feltes berichtete kürzlich von einer Tagung mit 2.000 KriminologInnen in San Diego/USA. Der Ex-Polizeichef Bratton konnte für seine Veranstaltung gerade mal sieben Zuhörer begeistern - und damit zugleich sieben Deutschen die Hand schütteln... Der Band verdeutlicht auch, daß alle möglichen Faktoren für den Rückgang der Kriminalität in Frage kommen, am allerwenigsten jedoch Brattons Polizeikonzept. Zu den Gründen zählen etwa die nach dem Abflauen der Welle von Crack, einer besonders aggressiv machenden Droge, stabilisierten Drogenmärkte, das Sinken der Arbeitslosigkeit und der exorbitante Anstieg der Gefangenenzahlen in den USA, dem »Archipel Gulag neuen Typs«, so der Kriminologe Nils Christie. Berlin hat derzeit kein Crack-, sondern es hat ein Populismus-Problem. Via "subjektiver Unsicherheitsgefühle" dienen uns Senat und Polizei Feindbilder und Mythen an, denen Thomas Feltes auf Seite 12 wohl gerade noch entkommen ist. Dem Buch hätte, so gesehen, der Beipackzettel der Dr. Rentschler Arzneimittel GmbH & Co. für das Halsschmerzmittel "Dorithricin" gutgetan: »Lieber Patient, im Mund-Rachenraum leben ständig mehr Keime als Menschen in der Riesenstadt New York. Das Abwehrsystem des Körpers, effektiv wie eine Polizeitruppe, sorgt dafür, daß alle Keimarten in einem ausgewogenen Gleichgewichtsverhältnis zueinander bleiben und dadurch keine Krankheiten auslösen können. Erst Störungen von außen, kleine Verletzungen etwa, eine Invasion fremder Krankheitserreger durch Ansteckung, oder auch Schwächen im Abwehrsystem können die friedliche Situation plötzlich verändern.« Als Beitrag zur Klärung.

Volker Eick

Gunter Dreher/Thomas Feltes (Hrsg.) 1997:
Das Modell New York: Kriminalprävention durch "Zero Tolerance"?
Beiträge zur aktuellen kriminalpolitischen Diskussion, Felix Verlag, Holzkirchen,
203 Seiten, DM 54

 
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