MieterEcho
Nr. 265 - November/Dezember

Plätze in Berlin - Das Marienviertel

Das Marienviertel - erst in jüngster Zeit hat sich diese Bezeichnung für die Freifläche zwischen Fernsehturm und Marx-Engels-Forum, Marienkirche und Rathaus durchgesetzt. Das Marienviertel ist einer der innerstädtischen Orte, die Strieder mittels Masterplan nachhaltig verdichten - sprich verbauen - will. Dafür diffamiert er diese großzügige und Weite spendende Freifläche, die zwei Brunnen ziert und von jeher Berliner wie Touristen anzog, als "öffentliches Hundeklo". Einige Gesprächsfetzen und Erinnerungssplitter von Betroffenen der Planung sollen Strieder und seinen Gefolgsleuten die Wahrnehmung schärfen. Namentlich gekennzeichneten Zitate sind aus der Broschüre "Planwerk Innenstadt - Eine Provokation" der Berliner Architektenkammer entnommen.

o "Ich habe hier früher gearbeitet. Unter den Linden. Da bin ich oft auch mit Kollegen noch auf 'nen Kaffee oder zum Bummeln rüber zum Alex. Cafés gab es da immer schon und die Weltzeituhr, die galt wirklich als Treffpunkt. Wissen Sie eigentlich, daß das Betondach vom Gebäude unter dem Fernsehturm, daß deren Ecken nicht auf die Erde stoßen? Das kommt einem ja nur so vor, wenn man nicht direkt davor steht, aber die Spitzen halten sich die Waage. Ein ausgetüfteltes System zwischen dem Gewicht der in die Luft zeigenden Spitze und der herabgerichteten. Wie auch immer, diese Spitzen sind ideal für eine Rutschpartie. Man steigt die Treppen etwas rauf und versucht, dann so weit wie möglich die Schräge heraufzurobben. Runter geht's immer. Ich weiß schon gar nicht mehr wie oft ich hier vor den Wasserspielen in der Sonne gesessen habe. Später dann auch mit meiner Tochter. Die studierte damals in Dresden. Vom Neptunbrunnen bis zum Alex, das hieß für sie, ein Besuch Zuhause. Hier gab es immer viele kleine Leckereien und wir haben uns dann da stundenlang aufgehalten. Jetzt hat man dazu ja gar keine Zeit mehr."

Eine ehemalige Kollegin

o "Es geht um die Rückholung jedes einzelnen Quadratmeters Boden, den die Planer der vergangenen Jahrzehnte so wohlmeinend verschwenderisch an die Öffentlichkeit "verschenkten". Dafür wird sogar die Fläche zwischen Rotem Rathaus, Marienkirche und Fernsehturm geopfert, einer der großzügigsten Stadtfreiräume Europas. Da sollen jetzt Mittelständler mieterfreundliche Häuschen bauen? Wer das als Planungsziel ausgibt, disqualifiziert sich als Experte."

Wolfgang Kil, Architekturkritiker

o "Die Ostberliner lieben ihre Stadthälfte und deren Zentrum mit allen im Ergebnis von Kriegszerstörung und sozialistischer Hauptstadtentwicklung entstandenen Licht- und Schattenseiten, wie man das Elternhaus liebt, auch wenn seine Wände schief und das Dach undicht sind."

Dorothea Tscheschner, Stadtplanerin

o "Der viele Budenzauber jetzt ist ja ganz nett, aber das ist nichts gegen den Rummel vor der Wende hier auf dem Platz. Das ist doch einfach nicht wahr, wenn die immer sagen, der Alex sei so tot und nach Geschäftsschluß würde sich da keiner mehr hintrauen. Mag sein, daß das jetzt zutrifft, war ja selber schon lang nicht mehr da. Aber bis kurz vor der Wende gab es da immer und überall Buden und Würstchenstände, Bierquellen und Schenken. Den ganzen Platz runter, den sie jetzt Marienviertel nennen. Hier ging man hin am Wochenende oder wenn man frei hatte. Und das Bier war nicht gleich ein paar Mark teurer, nur weil's so nah am Rathaus war."

Ein Passant auf an der Straßenbahnhaltestelle Mollstraße

o "Bevor hier noch öffentlich diskutiert wird, ob dieser bestehende Freiraum in Jahr 2040 der große zentrale Park in Berlin-Mitte sein wird, 'haust' das Projektteam die Marienkirche ein und besetzt willkürlich 'wichtige städtebauliche Kanten'. 'Perspektiven für einen wichtigen städtischen Freiraum' verlangten Architektenkammer und Werkbund Berlin bereits 1994. Damals stellte Senatsbaudirektor Stimmann fest: 'Das Land Berlin verfügt über die öffentlichen Straßen und Plätze der Stadtmitte'. Folglich gerät der große Freiraum nur dann nicht zum privaten Bauland, wenn an der öffentlichen Nutzung nicht gezweifelt wird."

Robert Frank, Architekturkritiker

o "Dabei würde uns ein (Alternativentwurf zum Planwerk) besonders interessieren, der zwischen Alex und Palast der Republik nicht ein Baugebiet mit geschrumpften öffentlichen Raum vorsieht, sondern ein zum aktiven urbanen Pakt qualifiziertes Stadtareal mit Anziehungskraft für Tausende von Touristen aus den Museen und den Schloßkellern, mit Erholungswert für Tausende von DienstleisterInnen aus den künftigen Hochhäusern am Alex und mit Freizeitwert für Tausende alter Familien oder neuer City-Singles - wie es bereits vor geraumer Zeit in einer öffentlichen Veranstaltung von Deutschem Werkbund und Architektenkammer angeregt wurde."

elga Schmidt-Thomsen, Vorsitzende des Deutschen Werkbundes, Architektur

o Der Freiraum soll "künftig nicht rückgebaut, sondern verbaut werden: mit Gebäuden zufälliger Funktion, Gestalt und Komposition, allein mit dem Ziel, diesen Raum in seiner Großzügigkeit und Bedeutung zu zersetzen und zu banalisieren - übrigens städtebaulich- architektonisch in überaus dilettantischer Manier. Das ist nicht nur Ausdruck von Hilflosigkeit, Neues zu denken, sondern auch von Solidarität mit dem Auftraggeber. Schließlich begreift Stadtentwicklungssenator Strieder diesen Raum als leeren Ort, der mit der verschwundenen Gesellschaft, die ihn hervorbrachte, obsolet geworden sei, also preisgegeben werden müsse. Ebenso diffamiert Stimmann diesen Raum als sozialistische Brache, die als Vergegenständlichung von DDR Ideologie heute keine Berechtigung mehr habe. Beide nehmen in ihrer Argumentation ganz einfach nicht zur Kenntnis, wozu und wie dieser Raum entstand und was er für die Zukunft wert ist."

Bruno Flierl, Architekturkritiker und Bauhistoriker

o "Der Platz unter dem Alex, meinen Sie, das ist das Marienviertel, vor dem Rathaus? Ach wissen Sie, da kenne ich mich nicht so aus. Aber die Markthalle, die kannte ich vor dem Umbau noch gut. Vom Konsum bis zum Schuster, da kam ich sozusagen immer vorbei, wenn ich umstieg mit dem Bus. Heute ist es alles schön und neu, aber das, was ich brauche, das kriege ich da doch nicht mehr."

Ein Passant auf dem S-Bahnhof Alexanderplatz

o "Das Marienviertel oder genauer der Fernsehturm, das war für mich ein Muß, wenn ich mit meiner Tochter einen Ausflug nach Ostberlin machte. Wenn wir durch die Paßkontrolle am Übergang Friedrichstraße waren, ging sie zielstrebig drauflos bis hinter die Marienkirche, warf einen Blick auf die Schlange, die darauf wartete, mit dem Fahrstuhl auf die Plattform in der Kuppel des Fernsehturms gebracht zu werden und dann - wenn sie nicht viel zu lang war - stellten wir uns geduldig dazu. Oben war ein Restaurant und in einer Stunde konnte man einmal Berlin umkreisen. Das war nicht teuer und genau das Richtige für meine Tochter, damit war ihr Ausflug geritzt und wenn es nach ihr gegangen wäre, war der Ostberlinbesuch damit erledigt. Naja, meist sind wir danach ins Gastmal des Meeres - so hieß das Fischrestaurant an der Ecke Spandauer Straße - gegangen oder haben uns unten vor dem Gebäude unter dem Fernsehturm ausgeruht. Dann ist sie die Schrägdächer raufgekrabbelt. Ich fühlte mich dort wohl. Es war immer was los an diesem Ort."

Ein Westberliner

Zusammengetragen von Dorothee Wendt


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