MieterEcho
Nr. 262 - Mai/Juni

Das Leben wagen

        

In Berlin gibt es 12 Wagenplätze, darunter zwei offiziell genehmigte an den Standorten Wuhlheide und Karow. Alle Standorte sind gefährdet. Im Juli 1996 faßte der Senat einen Beschluß, daß alle innerstädtischen Wagenburgen 1997 zu räumen seien, ohne dabei individuelle Ersatzgelände anzubieten. Die Wagendörfer Karow und Wuhlheide sollen ebenfalls nur noch kurzfristig erhalten bleiben. Bei den bisherigen Standorten liegen unabhängig vom Senatsbeschluß jedoch nicht in jedem Fall Planungen vor, welche derartig schnelle Räumungen angebracht erscheinen lassen würden:

So bestehen die Wagenplätze Kreuzdorf und der Kinderbauernhof mit Wagenburg (Bezirk Kreuzberg) seit über zehn Jahren ohne Absicherung. Die Rollheimer am Potsdamer Platz mußten im September 1995 umsiedeln und fanden auf einem Kirchengelände in der Oderstraße (Bezirk Neukölln) ein Gelände mit Nutzungsvertrag. Die Wagenburg an der Bötzowstraße (Bezirk Prenzlauer Berg) steht auf einem Grundstück mit ungeklärten Eigentumsverhätnissen. Das Wagendorf Pankgräfin (Bezirk Pankow) bemüht sich bereits seit drei Jahren um Verträge mit dem Senat. In der Wuhlheide (Bezirk Köpenick) gibt es die bislang einzige Fläche mit Verträgen.

Es erscheint bislang offensichtlich, daß der politische Wille zur Akzeptanz und Unterstützung von Wagenplätzen nicht vorhanden ist. Es wird weiterhin vielfach sowohl von PolitikerInnen als auch von den Medien gegen WagenbewohnerInnen polemisiert. Allgemein gibt es eine starke Tendenz, uns als mehr oder weniger "asozial" darzustellen. Dieser Prozeß fand seinen bisherigen Höhepunkt im Juli vergangenen Jahres, als die Wagenburg an der East-Side-Gallery geräumt wurde. Das hierbei geschaffene Bild von Wagenburgen bestimmt immer noch stark die öffentliche Meinung. Für uns hingegen hat sich erwiesen, daß Wohnen im Wagen keine bloße Notlösung ist, sondern alltägliche Mißstände im bestehenden urbanen Umfeld ausgleicht. Das Leben auf Wagenplätzen erschließt Möglichkeiten, sich die eigene Behausung selber zu bauen und darüber selbstbestimmt zu entscheiden. Hierbei wird mit Ressourcen bewußt umgegangen und vielfach Konsumabfall verwertet. Sowohl für die BewohnerInnen als auch für die Kommunen bedeutet das Leben im Wagen die Realisierung kostenextensiven Wohnraums. Zudem ermöglicht es die Organisation kollektiver Lebenszusammenhänge unter Wahrung der Individualität der Einzelnen und schafft ein differenziertes Freiraumsystem zwischen privaten, gemeinschaftlichen und öffentlichen Nutzungen. Es ermöglicht Kontakte und bietet Spielraum für eine (Wieder-)Zusammenführung von Wohnen und Arbeiten und das Realisieren von künstlerischen/kulturellen Projekten.

Wenn eine Bereitschaft zum Verstehen unserer Lebensform vorhanden ist, wird auch offensichtlich, daß Wagenplätze durchaus sinnvolle soziale, ökologische und kulturelle Funktionen im städtischen Gefüge beinhalten: Im Zuge der Hauptstadtplanung wird immer stärker Wohnnutzung aus den innerstädtischen Quartieren verdrängt. Diese werden zu großen Teilen monofunktional und drohen zu veröden. Wagenplätze stellen hier eine alternative Wohnform dar, welche eine urbane Nutzungsmischung bereichern. Das Wohnen im Wagen ist eine relativ flexible Freiflächennutzung, welche den Boden nicht versiegelt und zum allgemeinen Trend der dichten Überbauung einen Ausgleich schafft. Insofern können Wagenplätze sich für das Stadtklima ökologischen auswirken, vergleichbar mit z.B. Kleingärten. Auf Wagenburgen ist eine (Sub-)Kul-tur entstanden (Varieté/Kino/ Volksküchen etc.), welche die bestehende Kulturlandschaft bereichert. Gerade jetzt, da vielen kulturellen Initiativen die städtischen Mittel gestrichen werden und deren Fortbestehen gefährdet ist, sollten eigenständige kulturelle Aktivitäten weiter existieren können. Auf Wagenplätzen existiert eine gemeinschaftliche Wohnform, welche ein soziales Netz darstellt. Hier wird die allgemeine Entwicklung innerhalb der Gesellschaft zur Individualisierung und Vereinsamung kompensiert. Wagenburgen bestehen auf sonst unbebauten Grundstücken, oftmals auch Quartiersbereichen, wo sonst keine Wohnnutzung vorhanden ist. Da in Wagenburgen Menschen wohnen, wird von die-sen soziale Kontrolle ausgeübt, was die Sicherheit, vor allem nachts und für Frauen, in diesen untergenutzten Bereichen erhöht.

Es gilt daher prinzipiell, die Möglichkeit des Lebens im Wagen zu erhalten und rechtlich abzusichern. Unsere Wagenplätze sind bewußt auf kleine, überschaubare und kollektive Gruppen ausgerichtet. Während auf kleinen Plätzen das gemeinsame Interesse gewahrt werden kann, wird dies bei größeren Gruppen zum Problem (z.B. Müllbeseitigung, sanitäre Anlagen, soziale Verflechtung). Auch sind wir auf das Leben im Innenstadtbereich angewiesen, da sich hier unsere Arbeits- und Ausbildungsstätten und unsere sozialen Bezüge befinden und wir ein Bedürfnis nach einer kleinräumigen Mischung von Wohnen, Arbeiten und sozialer/kultureller/wirtschaftlicher Infrastruktur haben.

Wir fordern daher:

Die Rücknahme des Senatsbeschlusses vom Juli vergangenen Jahres, daß alle innerstädtischen Wagenburgen 1997 zu räumen sind. Den Erhalt und die rechtliche Absicherung der bestehenden Wagenplätze, ggf. Verhandlungen über die betreffenden Grundstücke mit uns Betroffenen und zuständigen, kompetenten und entscheidungsbefugten GesprächspartnerInnen. Falls Umsiedelungen notwendig sind, müssen akzeptable Grundstücke angeboten werden, d.h. möglichst in der Nähe der bisherigen Standorte bzw. innerhalb des S-Bahn-Rings liegen und von kleinen Gruppen (max. 25 Personen) genutzt werden können. Eine längerfristige Absicherung dieser Standorte ist dabei unumgänglich.

Berlin, April 1997, Das Plenum der innerstädtischen Berliner Wagenplätze

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