Nr. 255 Januar/Februar 96

Die Zukunft der Berliner Großsiedlungen
Stadtrand-Ghetto oder Gartenstadt?

Für viele Berliner Mieter/innen stellt sich die Frage, ob Wohnen in der City in den nächsten Jahren noch bezahlbar bleibt. Noch gibt es im Vergleich zu westdeutschen Städten wie München und Frankfurt oder Metropolen wie Paris oder London vergleichsweise viel preiswerten Wohnraum in zentralen Lagen. Allein in der westlichen City um den Kudamm herum wohnen rund 200.000 Menschen. Auch die Wohnungsbaupolitik der DDR hat dafür gesorgt, daß an der Fischerinsel, der Wilhelmstraße, der Leipziger Straße und um den Alexanderplatz noch reichlich preiswerter Wohnraum existiert. Dieser wird allerdings, wie auch im Scheunenviertel, im Prenzlauer Berg oder in Kreuzberg in Zukunft immer knapper.
 
"Innenstadtverdrängung"
 
Nach der Wende fragen sich immer mehr Leute, ob sie sich die steigenden Mieten demnächst noch leisten können. Das Wort "Innenstadtverdrängung" ist mittlerweile in aller Munde, erscheint doch mit dem Umbau Berlins zur Hauptstadtmetropole die Vertreibung vieler Mieter/innen aus den Innenstadtbezirken nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Innenstadtverdrängung, das wird dabei oft übersehen, funktioniert allerdings nur, wenn an den Rändern der Stadt gleichzeitig genügend preiswerter Wohnraum nachwächst. Es lohnt deshalb, die Umstrukturierungsdebatte einmal von der anderen Seite zu führen und nach der Funktion bestehender und geplanter großer Wohnungsbauprojekte im Rahmen der zukünftigen Hauptstadtplanung zu fragen. Liegt dort, "vor den Toren der Stadt", tatsächlich die Zukunft der Verlierer der Einheit?
 
Die alten Stadtrandviertel
 
Jeder fünfte Berliner wohnt in einer Großsiedlung. Die vorwiegend in den sechziger und siebziger Jahren beiderseits der Mauer errichteten Stadtrandghettos sind mittlerweile einschlägig als Vorzeigeobjekte fehlgeschlagener Stadtplanung bekannt. Während die Schlafstädte im Westen allerdings schon in den siebziger Jahren weitgehend für gescheitert erklärt wurden, verfolgte die DDR-Regierung ihr Konzept industrieller Massenbauweise noch bis in die achtziger Jahre hinein.
 
Beispiel Märkisches Viertel
 
Sehr unterschiedlich ist die soziale Zusammensetzung dieser Viertel in Ost und West. So avancierte z.B. das Märkische Viertel in den sechziger Jahren schnell zum neuen Armenhaus von Berlin. Aus eh schon konfliktbeladenen Bezirken wie Kreuzberg oder Wedding wurden massiv sog. "Problemfamilien" in die neuerrichteten Sozialwohnungen ausgelagert. Zudem war das Viertel verkehrstechnisch miserabel an die Innenstadt angeschossen (keine U- und S-Bahnanbindung, kaum Busse), so daß der Ghetto-Charakter durch diesen Umstand noch verstärkt wurde. In den letzten Jahren haben umfangreiche Wohnumfeldverbesserungsmaßnahmen allerdings eine zunehmende Identifizierung der Bewohner/innen mit ihrem Stadtteil bewirkt. Die zu erwartende Abwanderung bleibt also trotz der nahenden Aufhebung der Sozialbindung gering. Insgesamt steht kaum zu erwarten, daß diesen alten Trabantenstädte in den aktuellen Umstrukturierungsprozessen eine wichtige Rolle zukommt.
 
Die Plattensiedlungen in Ostberlin
 
Die Plattensiedlungen von Marzahn, Hohenschönhausen und Hellersdorf, vorwiegend in den siebziger Jahren im Rahmen des ehrgeizigen DDR-Neubauprogramms hochgezogen, wiesen hingegen von Anfang an eine überdurchschnittlich gut ausgebildete Bevölkerungsstruktur auf (90% der Erwerbsfähigen haben einen Fachabschluß). So hat Marzahn noch heute das höchste Pro-Kopf-Einkommen aller Ostberliner Bezirke. Das Wohnen in der Platte galt zu Ostzeiten als Privileg. Damit ist jetzt jedoch weitgehend Schluß. Die sterilen, kommunikationsfeindlichen Arbeiterschließfächer produzieren gerade nach der Wende ein hohes Maß an sozialer Kälte und Anonymität, selbst die zu DDR-Zeiten noch relativ gut funktionierende Kommunikation zwischen den Bewohner/innen, angefangen vom Mieterfest bis hin zum Skatabend, ist im Laufe der Wiedervereinigung weitgehend unter die Räder gekommen.
 
Der Mangel an Kultur und Freizeitangeboten - so gibt es in Marzahn für 50.000 Jugendliche nur ein einziges Kino - schlägt vor allem bei Jugendlichen sehr oft in Aggressivität und Kriminalität um. Die Veränderung des sozialen Klimas und der damit einhergehende Imageverlust der Plattenbaugebiete wird einerseits zur Folge haben, daß der noch hohe Anteil an Gutverdienenden in den nächsten Jahren sinkt. Um dieser Tendenz rechtzeitig entgegenzusteuern und um den gestiegenen Ansprüchen dieser Klientel betreffs Wohnqualität zu entsprechen - welche, wie Umfragen ergeben haben, im Prinzip gern in Marzahn wohnen bleiben wollen -, sollen nun verstärkt allgemeine Wohnumfeldverbesserungen durchgeführt und zweitens mittels ergänzender Neubebauung auch anspruchsvollere Eigentums- und Mietwohnungen angeboten werden.
 
Neue Viertel inmitten der "Platte"
 
Zusätzlich zu der ergänzenden Bebauung entstehen inmitten der alten Plattenbaugebiete sogar ganz neue Quartiere. In Biesdorf- Süd sind beispielsweise bis zum Jahre 2007 4.600 Wohnungen projektiert, der mit 850 Wohneinheiten ziemlich geringe Anteil an Sozialwohnungen weist darauf hin, daß hier vor allem mittlere Einkommensschichten nach Marzahn gelockt werden sollen.
 
Andererseits werden längst nicht mehr so viele Menschen freiwillig in die Plattenbauquader der ehemaligen sozialistischen Vorzeigeviertel ziehen. Dafür werden die Plattenbauten im Gegensatz zu den Westberliner Stadtrandvierteln verstärkt Opfern innerstädtischer Umstrukturierung eine neue Zuflucht bieten. Der Wandel wird aber wohl vorerst nicht dramatisch verlaufen.
 
Die neuen Großsiedlungen
 
Berlin wächst. Bis zum Jahre 2010 ist die bauliche Erschließung größerer Freiflächen in Berliner Randlagen vorgesehen. Den neuen Großsiedlungen soll nach den Vorstellungen des Senats aber nicht mehr das Image trister Betonwüsten anhängen, vielmehr soll die Bebauung insgesamt aufgelockerter, durchgrünter, ökologisch innovativer gestaltet werden. Auch die Verkehrsanbindung dieser geplanten oder bereits im Bau befindlichen Neubaugebiete an die Innenstadt ist im allgemeinen verhältnismäßig gut.
 
Die neue "Parkstadt" in Berlin-Karow nimmt hinsichtlich ihrer Größe sicherlich eine Sonderstellung innerhalb dieser Planungen ein. Dieses 1.400 Hektar große Baugebiet soll einmal bis zu 100.000 Wohnungssuchenden Platz bieten und ist damit das "vielleicht letzte große Stadterweiterungsgebiet" (taz 28.9.92). In der ersten Bauphase werden bis 1997 zunächst rund 5.000 Wohnungen errichtet.
 
Die geplante "Wasserstadt Oberhavel" in Spandau mit 12.700 Wohnungen ist ein weiteres Beispiel für die neuen stadtplanerischen Konzepte. Hier ist direkt am Wasser der Havel eine Großsiedlung geplant, die durch einen hohen Gewerbe- und Einzelhandelsanteil und eine bauliche Verdichtung in den Zentren einen urbanen, lebendigen Charakter erhalten soll.
 
Kleinere Siedlungen
 
Weiterhin sind eine Reihe "kleinerer" Siedlungen im Süd- und Nordosten Berlins, so in Altglienicke, Johannisthal und Buch mit je rund 5.000 Wohneinheiten geplant. Auch einige innerstädtische Brachflächen werden neu bebaut: Auf dem alten Schlachthof an der Eldenaer Straße sollen bis 1999 rund 2.500 Wohnungen errichtet werden, die Zielgruppe sind vorwiegend Beamte und andere Bezieher/innen mittlerer Einkommen. Auch die Industriewüste Rummelsburger Bucht erhält in den nächsten 15 Jahren nach und nach 5.400 neue Wohnungen für 13.500 Mieter/innen. Auf der Stralauer Halbinsel ist sogar der Bau von Stadtvillen projektiert.
 
Verringerter Anteil von Sozialwohnungen
 
Auffällig bei allen größeren Bebauungsplänen ist die Abwendung vom reinen sozialen Wohnungsbau. Dieser macht zwar immer noch einen großen Anteil der Wohnfläche aus, dazu kommen jedoch auch freifinanzierte Wohnungen und zum Teil, wie gesagt, sogar Stadtvillen für gehobenere Ansprüche. Der Anteil an Sozialwohnungen im ersten Förderweg und der im zweiten Förderweg errichteten Wohnungen ist bei den meisten Projekten in etwa gleich groß, d.h. rund der Hälfte der Wohnungen liegen Einstiegsmieten von mindestens 9,50 bis 15 Mark netto kalt zugrunde. Dazu kommen im allgemeinen noch etwas kleinere Anteile an freifinanzierten, teureren Wohnungen.
 
Planungsziel: Ghettovermeidung
 
Diese variable Bauweise von niedrigen Stadtvillen neben geschlossener vier- bis achtstöckiger Blockbebauung soll eine sozial gemischte Bevölkerungsstruktur garantieren und eine Ghettobildung von vornherein verhindern. Auch soll weitgehend die (kriminalitätsfördernde) Anonymität seelenloser Trabantenstädte reduziert werden, indem Höfe, Treppenhäuser und Straßen schon baulich als Lebensräume definiert und tote Plätze, wie z.B. dunkle, dreckige Häuserecken bereits in der Planungsphase vermieden werden.
 
Bedarf an preiswertem Wohnraum nicht gedeckt
 
Diese Planungen hören sich schön an, gehen aber leider am tatsächlichen Wohnraumbedarf weit vorbei. Das zeigt sich schon an den Schwierigkeiten, die teuren Wohnungen zu vermieten. In Karow-Nord stehen noch viele der neuerrichteten Wohnungen leer, obwohl die Vermietung längst angelaufen ist. Das grundsätzliche Problem ist: In Berlin fehlt es nicht an Wohnungen im allgemeinen, sondern speziell an preiswerten Wohnungen, insofern löst auch der Bau dieser neuen Großsiedlungen nicht die Wohnungsnot in Berlin. Ein anderes Problem ist die prekäre Haushaltslage der Stadt. So stehen einige Projekte, wie die seit 1989 geplante Wasserstadt Oberhavel oder der ehemalige Schlachthof, plötzlich wieder auf der Einsparliste.
 
Wichtige Elemente für Lebensqualität fehlen
 
Ein weiteres Problem ist, daß sich allein mit besseren Verkehrsanbindungen und infrastrukturellen Einrichtungen und erst recht nicht mit dem Konzept der sozialen Durchmischung (siehe Marzahn) typische soziale Probleme wie Jugendkriminalität, Gewalt und Anonymität aufheben lassen. Denn das, was urbane Lebensqualität wirklich ausmacht, sind vielfältige kulturelle Angebote, von der Eckkneipe bis zum Kinosaal, und genau diese Angebote fehlen auch in den neuen Planungen weitgehend. So werden trotz teils guter Vorsätze letztendlich doch nur wieder uniforme und teure Neubauquartiere in den märkischen Sand gesetzt.
 
Starke Migration unwahrscheinlich...
 
Insgesamt wird also der überwiegende Teil der Bewohner/innen innenstadtnaher Gebiete auch in den kommenden Jahren in diesen Gebieten wohnen bleiben. Die oft befürchtete Vertreibung derjenigen an die Stadtränder, die sich die steigenden Mieten in der Stadt nicht mehr leisten können, wird nicht die prägende Entwicklung in den nächsten Jahren sein.
 
... aber Verarmung im City-Bereich
 
Die Mieten- und Einkommensentwicklung zwingt aber viele Haushalte, einen immer weiter wachsenden Anteil der Lebensunterhaltskosten für die Miete aufzubringen. Mittlerweile ist es nicht mehr die Ausnahme, daß bis zu 50 % des verfügbaren Einkommens für die Miete draufgehen. Die Menschen werden also vor allem immer stärker gezwungen, sich finanziell einzuschränken. Nicht vorwiegend die Verdrängung in Stadtrandghettos, sondern die materielle und soziale Verarmung werden daher die auffälligsten Folgen des Umbaus Berlins zur Metropole sein.
 
Roland Stübler
 
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